Der überragend schnelle deutsche Sieg über Polen erschreckt die westliche Welt. Die östliche dagegen ist eher fasziniert – namentlich Josef Stalin, Diktator der Sowjetunion. Wenn das so einfach ist, sein Herrschaftsgebiet auszudehnen – was Hitler kann, kann Stalin auch. Die ersten Opfer des sowjetischen Expansionsdranges sind die drei baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen. In Anbetracht der geografischen Lage und der Zahlenverhältnisse haben sie keine Wahl. Im deutsch-sowjetischen Abkommen werden diese Staaten dem sowjetischen Einflussgebiet zugeordnet – und damit an die UdSSR geopfert. Stalin hat von Hitler nichts zu befürchten, als er einen „Beistandspakt“ mit den drei Ostseenationen erzwingt, welcher der Roten Armee de facto im September 1939 einen unblutigen Einmarsch erlaubt. Es sollte nicht lange dauern, bis die drei Staaten im Juni 1940 als Sowjetrepubliken annektiert werden würden. Es kommt einer Eroberung ohne Waffengewalt gleich.
Als nächstes Opfer hat sich Stalin das kleine Nachbarland Finnland auserkoren. Dessen Grenzen reichen in einer für den sowjetischen Diktator unbotmäßigen Art und Weise nahe an Leningrad heran. Nur 32 Kilometer trennen finnisches Territorium vom bedeutendsten Zugang des Sowjetreiches zur Ostsee. Auch hoch im Norden, am Eismeer, grenzt das finnische Hoheitsgebiet empfindlich nahe an den einzigen eisfreien nördlichen Hafen der Sowjetunion – Murmansk. Der finnische Nordmeerhafen Petsamo erlaubt eine gewisse Kontrolle der sowjetischen Schiffahrtsrouten zum Eismeer und letztlich zur Nordsee – eine Schifffahrtsstraße, die sich noch als sehr bedeutend für den russischen Imperator herausstellen sollte. Doch das ahnt er zu diesem Zeitpunkt nicht.
Was er aber ahnt, ist, dass Finnland unter deutschen Einfluss geraten und dann bei einem Konflikt mit dem Deutschen Reich seine nördlichen Grenzen gefährlich bedrohen könnte. Diesen Konflikt erwartet Stalin – allerdings zu einem Zeitpunkt seiner Wahl. Also setzt er das kleine Land zum jetzt für ihn günstigen Moment vorsorglich unter Druck – und leitet genau damit dessen späteres Bündnis mit Hitler-Deutschland ein. Stalins Außenminister überzieht die Finnen mit provozierenden Schmähungen.
Die sowjetischen Forderungen an Finnland sind schlicht unannehmbar. Die Finnen sollen der UdSSR Gebiete an der karelischen Landenge nahe Leningrad und am ebenso in dieser Gegend liegenden Ladogasee abtreten und im Tausch dafür das völlig wertlose, öde Südkarelien erhalten. Ferner soll Finnland den Ostseehafen Viipuri und die Hafenstadt Petsamo im hohen Norden an das Sowjetreich verpachten – für 30 Jahre. Dies würde Finnland vom Nordmeer isolieren.
Die Finnen haben eine Befestigungslinie nahe Leningrad quer über die karelische Landenge – die nach ihrem Oberbefehlshaber genannte Mannerheim-Linie. Mehr haben sie nicht. Veraltete Flugzeuge, wenig Artillerie, kaum schwere Granaten, und keinen einzigen Panzer. Aber etwa 200.000 hochmotivierte und einfallsreiche Kämpfer, mit der winterlichen Landschaft vertraut und auf Skiern versiert, in der Schneelandschaft mobil, ferner schwer zu erkennen in ihren weißen Wintermänteln.
Die Russen haben alles andere. Artillerie, Panzer, Flugzeuge – und etwa eine Million Mann alleine im Norden des Reiches. Aber keine Skier! Und kaum fähige Offiziere, dafür hatten Stalins „Säuberungen“ nachhaltig gesorgt. Ihre Strategien sind alles – nur nicht einfallsreich!
Die Finnen lehnen ab. Der verletzend und ehrenrührig aggressive sowjetische Außenminister Molotow kehrt unverrichteter Dinge zu seinem Staatschef zurück. Darauf hat Stalin gewartet. Seine Divisionen setzen sich in Bewegung. Am 30. November 1939 bringt er seine Rote Armee in Marsch – in Erwartung eines ähnlich schnellen Erfolges über den Gegner, wie es die deutsche Wehrmacht in Polen vorexerziert hatte. Doch die Kampftaktik der sowjetischen Armee unterscheidet sich so grundlegend von jener der deutschen Truppen, dass die Unterschiede kaum größer sein könnten. Eine unübersehbare Menschenmasse wird in derselben bornierten, grausamen und menschenverachtenden Art und Weise gegen die feindlichen Linien geworfen, wie es später im „Großen Vaterländischen Krieg“ gegen die deutsche Wehrmacht der Fall sein sollte. Welle auf Welle brandet gegen die finnischen Stellungen – und Welle auf Welle bricht im Maschinengewehrfeuer der Finnen zusammen.
Nach sechs Tagen geben die Russen vor der Mannerheim-Linie vorerst auf. Nach schweren und blutigen Verlusten. Selbst Panzer hatten den Durchbruch nicht erzwingen können – sie waren durch primitive, aber wirksame Abwehrmittel gestoppt worden. Es sind Flaschen, mit Benzin gefüllt und mit einem brennenden Docht versehen. Eine allein genügt meistens nicht, doch mehrere ...! Beim Aufprall auf den Panzer zerbricht das Glas, die Flüssigkeit entzündet sich und sickert ins Innere des Kampfwagens – dort wird es mehr als ungemütlich – und gefährlich ...
Die Finnen geben ihrer Erfindung einen Namen – nach dem verhassten sowjetischen Außenminister: „Molotow-Cocktail“.
Im Norden kommen die sowjetischen Truppen besser voran. Petsamo wird von den Sowjets erobert. Die Finnen schlagen zurück. Patrouillen arbeiten sich unerkannt durch die unwegsamen Wälder, vernichten überfallartig kleinere Einheiten, zerstören gezielt Feldküchen – mit durchschlagendem und demoralisierenden Erfolg. Schließlich gelingt es den Finnen Ende Dezember 1939, bei Suomussalmi die 163. sowjetische Division einzukesseln und zu vernichten. Elf Panzer fallen in finnische Hände.
Die westliche Welt ist beeindruckt von der Zähigkeit des kleinen Davids gegen den sowjetischen Goliath. Doch der lässt sich nicht ewig auf der Nase herumtanzen. Stalin setzt einen der wenigen gut ausgebildeten Offiziere, die seine Exekutionen überlebt haben, zum Oberbefehlshaber ein. Es ist General Semjon Timoschenko. Dann lässt er schwere Artillerie auffahren. Ab 15. Januar 1940 beginnt der Vernichtungs-Dauerbeschuss der russischen Geschütze auf die Mannerheim-Linie.
Der Zusammenbruch der Finnen ist eine Frage der Zahlen – und der Zeit. Wenn nicht bald Hilfe kommt. Diese ist zugesagt – die Franzosen und Briten wollen helfen. Das hatten sie auch schon den Polen versprochen. Doch so einfach ist es nicht – über die geografische Distanz hinweg.
Und was tut sich im Westen – an der Grenze der Franzosen zu Deutschland?
„Im Westen nichts Neues!“