Ye Olde Pub

Am 20. Dezember 1943 ereignet sich eine bemerkenswert menschliche Begegnung in dem meistens so gnadenlosen Himmel über dem Deutschen Reich.

Wieder einmal ist Bremen das Ziel eines amerikanischen Bombenangriffs. 546 Boeing B-17 und Consolidated B-24 starten in England, 472 davon erreichen ihr Ziel und erfüllen ihren todbringenden Auftrag. Die Deutschen wehren sich erbittert. 27 Bomber werden abgeschossen, dreiweitere landen als komplette Wracks. Von den übrigen tragen 247 „Fliegende Festungen“ mehr oder minder schwere Beschussschäden davon. Das heißt, es wird jede zweite viermotorige Maschine von Geschossen getroffen. 279 Männer in den schweren Bombern kehren nicht zurück, 41werden verwundet.

Den 472 US-Bombern und 491 US-Begleitjägern stehen nur 220 deutsche Piloten gegenüber. Alleine bei den Jagdflugzeugen besteht somit ein Verhältnis von 2 : 1 zu Gunsten der Amerikaner. Die US-Jagdverbände verlieren dennoch sechs Jäger, ein weiterer kommt irreparabel zerschossen zurück (so genannte Beschädigung Grad „Cat. E“). Die Deutschen beklagen 21 zerstörte Jagdflugzeuge, 16 Gefallene und acht Verwundete. Es steht an Abschüssen (inkl. „Cat. E“) somit 37 : 21 zu Gunsten der Luftwaffe, trotz eines Zahlenverhältnisses von 4,4 : 1 für die amerikanische USAAF. So klingt die eiskalte nüchterne Bilanz. Zahlen, Statistiken, Verlustraten. „Losses“. Leblose Nummern auf dem Papier.

Als Oberleutnant Franz Stigler von der II./JG 27 in seiner Me 109 G-6 landet, hat er bereits einen schweren Luftkampf hinter sich. Zwei B-17 sind vom Mündungsfeuer seiner Bordwaffen getroffen worden. Die Mechaniker auf dem Flugplatz sind dabei, die „Messerschmitt“ des Staffelkapitäns der 6./JG 27 wieder aufzutanken und mit Munition zu versorgen, als das Dröhnen von Flugzeugmotoren über dem Fliegerhorst anschwillt. Bald darauf quält sich ein rauchender Schatten über das Flugfeld und röhrt in Richtung Süden.

Stigler ist entschlossen, dem offenbar angeschossenen Amerikaner da oben den Rest zu geben. Bald darauf sitzt er in seinem wieder einsatzklaren Jagdflugzeug und nimmt die Verfolgung auf.

„Oben“ kämpft inzwischen der amerikanische 2nd Lieutenant Charles L. Brown um sein nacktes Leben. Seit diesem verfluchten Bremen ist der Pilot der B-17 vom Pech verfolgt. Und das bei seinem ersten Einsatz als Kommandeur einer Bomberbesatzung! Hätte es denn nicht gereicht, dass der ungeheuer dicht liegende und wie immer extrem schwere Flak-Beschuss der Deutschen seiner „Ye Olde Pub“ getauften Boeing die Plexiglasnase zusammengeschossen und zwei Motoren beschädigt hat?

Die „Fliegende Festung“ der 527th Bombardement Squadron aus der 379th Bomb Group fällt zurück. Einer der Motoren ist nun ausgefallen, es ist die N° 2-Maschine. Nummer Vier muss immer wieder gedrosselt werden, damit der getroffene Motor nicht überhitzt.

Es kommt, wie es kommen muss! Ein Schrei in der Bordsprechanlage: „Huns!“ Jäger! „Damned!“ Es ist eine ganze Horde von ihnen, etwa acht! Und da kommen noch welche ...

Die amerikanische Bomberbesatzung schießt mit dem schieren Mut der Verzweiflung aus allen nach dem Verlust der Bugkanzel noch verbleibenden elf Maschinengewehren. Einer oder zwei der deutschen Angreifer werden getroffen, doch der Rest macht aus dem Bomber „Kleinholz“. Die Steuerung hat einen Schlag abbekommen und reagiert nur noch teilweise, die Elektrik und die Sauerstoffversorgung sind beschädigt. Ein Geschosshagel fetzt in den amerikanischen „Viermot“. Die durch die vielen Löcher einströmende Kälte tut ein Übriges, sowohl die Besatzung als auch die Technik lahm zu legen.

Der riesige viermotorige Bomber kippt ab, trudelt im Sturzflug nach unten. Vermutlich rettet das Charles Brown das Leben, denn die deutschen Jäger lassen nun von „Ye Olde Pub“ ab. Offensichtlich betrachten die deutschen Jagdflieger ihr Opfer als endgültig erledigt. Wie der amerikanische Pilot es schafft, durch Sauerstoffmangel halb bewusstlos die zusammengeschossene Boeing doch noch abzufangen, ist ihm ein Rätsel. Zumal ein deutsches Geschoss in seiner rechten Schulter steckt. Mein Gott, lass uns irgendwie nach Hause kommen! Schick uns einen Engel, hol uns hier raus!

Charlie Brown hat keine Ahnung, wo er hinfliegt. Der Kompass ist zerschossen. Noch fliegt die Boeing. Die Schulter tut weh. Brown hat Gefallene und Verwundete an Bord – drei seiner Kameraden hat es außer ihm selber erwischt. Teilweise schwer! Die schaffen keinen Fallschirmabsprung mehr! Ein Vierter ist tot!

Notlanden geht nicht, jedenfalls nicht im Gelände, wo mit einem Bruch zu rechnen ist. Aussteigen auch nicht. Beides würden die Verwundeten schwerlich überleben. Also fliegt Brown weiter – irgendwie. Kaum zu glauben, aber er fliegt. Immer noch. Irgendwohin, hoffentlich. Irgendwohin, wo es wieder sicher ist. Nach England, nach Hause, weg hier, bloß weg ...

Dem Amerikaner bleibt das Herz fast stehen, als sich die schnittige Silhouette eines Jagdflugzeuges nähert. Es ist ein deutsches! Eine Messerschmitt! Haben die denn immer noch nicht genug? Mein Gott, warum hast Du uns verlassen? Einen Engel solltest Du uns schicken! Keinen Feindjäger!

Als Oberleutnant Stigler die kaum noch flugfähige B-17 erreicht, bietet sich ihm ein entsetzliches Bild des Grauens. Der deutsche Jägerpilot nähert sich vorsichtig – niemand feuert auf ihn. Stigler fliegt heran – wachsam auf der Hut. Sie schießen nicht! Offensichtlich kann das keiner mehr, der Heckstand ist zertrümmert, dessen Schütze liegt deutlich sichtbar heftig blutend in seinem Gehäuse. Das Leitwerk ist zerrissen, die Boeing ist von Löchern übersät. Der komplette Rumpf ist mit zackigen, verbogenen Metallteilen gespickt – an denen – es ist fürchterlich – die Körperteile eines der Bordschützen hängen. Offenbar hatte ein Kanonen-Geschoss den Unglücklichen zerfetzt – es dürfte schnell gegangen sein! Die Oberfläche der Boeing ist mit seinem Blut überdeckt.

Stigler ist kein Anfänger, im Oktober 1943 war er vertretungsweise Gruppenkommandeur der III. Gruppe gewesen. Aber das hier – das anzusehen ist schon hart! Ein weiterer Abschuss heute, und er wird ziemlich sicher das Ritterkreuz erhalten. Das ist die eine Seite – und sehr verlockend! Doch das da – das wäre glatter Mord. Franz Stigler macht es mit seinem Gewissen aus. Es wäre, als würde man jemanden hilflos am Fallschirm hängend abschießen – wird er später konstatieren. Er bringt es nicht fertig, die Wehrlosen in diesem Schrotthaufen einfach umzubringen. Es käme einer Hinrichtung gleich!

Der deutsche Oberleutnant fliegt nun neben der rechten Tragfläche des Bombers und versucht, mit dem Piloten Kontakt aufzunehmen. Brown ist immer noch benommen vom Sauerstoffverlust, doch er erkennt, dass der Deutsche nicht feuert. Sondern ihn zur Landung auffordert. Zur Landung in Feindesland, bei den Nazis, irgendwo da unten in Germany! Mehr oder minder in der Hölle ...

Brown kriegt es nicht geregelt. Irgendwas hakt da noch in seinem Gehirn. Inzwischen überlegt Stigler, was er mit der Situation anfangen soll. Offensichtlich weiß der Ami da drüben nicht einmal, wo er hinfliegt. Schön, nach Schweden sind es von hier aus etwa 30 Flugminuten. Mit viel Glück schaffen die das vielleicht. Interniert sind die Überlebenden da genauso unschädlich wie in deutscher Kriegsgefangenschaft. Das kann er mit seinem Gewissen dem Vaterland gegenüber vereinbaren! Also bedeutet er dem amerikanischen Piloten, in eine andere Richtung zu fliegen! Irgendwie versteht das Charlie Brown. Und dreht sein weidwundes Flugzeug ab in Richtung Nordosten, dorthin, wohin der merkwürdige Deutsche da drüben zeigt. Was wohl in den gefahren sein mag?

Stigler hat nun getan, was er tun konnte und für sich und seine charakterliche Selbstachtung auch tun musste. Er grüßt den amerikanischen Piloten militärisch, dann dreht er ab.

„Ye Olde Pub“ wird irgendwo über der Küste von zwei P-47 „Thunderbolts“ entdeckt. Die geleiten Charlie Brown nach Hause. Statt in Schweden managt der US-Pilot eine Bruchlandung in England. *3 Als Browns Vorgesetzter sich vom Zustand der notgelandeten B-17 überzeugt und der fliegerischen Meisterleistung Gewahr wird, kündigt er an, den amerikanischen 2nd Lieutenant für die höchste Tapferkeitsauszeichnung vorzuschlagen, welche die US-Streitkräfte vergeben – die „Medal of Honor“.

Davon ist schnell keine Rede mehr, als Brown von seiner ungewöhnlichen Begegnung mit dem deutschen Messerschmitt-Piloten erzählt. Unter diesen Umständen ist der Held eine ernste Gefahr! Die kompletten Umstände des Feindfluges werden fortan als streng geheim eingestuft. Keiner der überlebenden Besatzungsmitglieder darf ein einziges Sterbenswörtchen darüber reden! Es wäre ziemlich schlecht für das sorgsam kultivierte „Böse Nazis“-Feindbild der amerikanischen Bomber-Crews ...

Auch der deutsche Oberleutnant Franz Stigler tut gut daran, niemandem von seinem ritterlichen Verhalten zu erzählen. Wüsste jemand die Wahrheit – es wäre ein Fall für das Standgericht. Ein Todesurteil. Also hält Stigler tunlichst den Mund.

Erst Jahre nach dem Krieg will es der Zufall, dass Brown und Stigler sich finden ...

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Hinweis: abgeschossene deutsche Flugzeuge, deren Pilot dabei nicht verwundet wurde, sind in der Spalte „Gesamt“ miterfasst (/Flugzeug = Anzahl verlorener Flugzeuge). Hinweise finden sich im Feld „Bemerkungen“. Dagegen werden in RAF- und US-Quellen oft die auf eigenem Gebiet notgelandeten Maschinen nicht mitgezählt. Zudem finden sich die von der deutschen Flak vernichteten alliierten Flugzeuge nicht in dieser Aufstellung. Daher muss es zwangsläufig zu Differenzen zwischen Abschussmeldungen und den tatsächlichen Verlusten kommen! Verluste am Boden, durch „technische Mängel“ oder Unfälle werden nicht „gezählt“, da die Erfolge im Luftkampf gegenübergestellt werden. Unversehrt gebliebene Piloten saßen oft wenig später in einer neuen Maschine, deren Nachschub fast bis zum Kriegsende gesichert war. Bei einem Abschuss mit unverletztem Absprung steht in der Spalte „Gesamt“ ein Materialverlust (/Flugzeug), kein personeller „Verlust“ (Pilot/).

Ein typisches Beispiel hierfür ist die Boeing B-17 G-105-BO mit der Produktionsnummer 43-39126 der 838th Bomb Squadron/487th Bomb Group, Kennung Image, Pilot 1st Lieutenant W.B. Wentz. *9

Diese B-17 fliegt am 7. April 1945 einen Angriff auf Parchim und wird beim Einsatz des „Sonderkommandos Elbe“ höchstwahrscheinlich durch Unteroffizier Klaus Hahn mit einer Messerschmitt Bf 109 zwischen dem IP-Punkt („Initial Point“, Zielanflugsbeginnposition) Nähe Dömitz und dem Ziel Parchim um 13.10 Uhr absichtlich gerammt. Dem viermotorigen Bomber wird das linke Höhenruder abgerissen, der Heckstand ist stark demoliert. Die Boeing sackt zunächst bis auf 2.400 Meter ab, dann kann der Pilot sie unter Kontrolle bringen und halten. Zehn Minuten später wird der Bomber erneut von zwei Messerschmitt Bf 109 attackiert, die ihm auch noch das rechte Höhenruder und eine Tragfläche beschädigen. Der obere Turmschütze reklamiert den Abschuss einer der beiden deutschen Jäger.

Die Boeing B-17 entkommt im Tiefflug und kann schließlich in St. Trond auf damals längst alliiertem Gebiet notlanden. Man findet sogar Teile der rammenden Me 109 im Bomberleitwerk. Der Bomber wird im Juni 1945 notdürftig repariert und einen Monat später in die USA zurückgeflogen, schließlich im Januar 1946 in Kingman/USA abgewrackt. *10

Obwohl die starken Beschädigungen des Bombers einen weiteren Kriegseinsatz nicht mehr zulassen, wird der auf eigenem Gebiet notgelandete Bomber weder in den amerikanischen MACR-Listen noch in anderweitigen Übersichten als Verlust genannt! *10 *11 *12

Diese Ungereimtheiten sind einer der Gründe für Differenzen innerhalb jeder Tabelle, beispielsweise zwischen den Erfolgsmeldungen der Jägerpiloten und den Angaben ihrer Gegner.

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Dieses Foto einer Me 109 G-6 ist zwar bekannt, gleichwohl faszinierend.

Zudem finden sich die von der deutschen Flak (Flugabwehrkanonen) vernichteten alliierten Flugzeuge nicht in dieser Aufstellung. Daher muss es zwangsläufig zu Differenzen zwischen den Abschussmeldungen der Jägerpiloten und den tatsächlichen Verlusten der Gegenseite kommen! Durch die zusätzlichen Flakabschüsse müssten die Gesamtverluste der Alliierten höher sein als die Abschussmeldungen der Jäger. Dass dies nicht der Fall ist, muss auf die Unsicherheiten der Erkennung eines Abschusses trotz aller Akribie in den strengen deutschen Anerkennungsverfahren zurückgeführt werden.

Ein „HSS“ (Herausschuss) ist eine derartig schwere Beschädigung des angegriffenen Bombers, dass dieser zurückhängt, aus dem schützenden Verband herausscheren muss und somit das fast sichere Opfer eines weiteren Jägers wird. Ein solcher „Herausschuss“ wurde für den Piloten separat als Erfolg gewertet, da er der schwierigste Teil der Zerstörung eines feindlichen Bombers ist, doch konsequenterweise nicht als voller Abschuss gezählt. Dies gilt in gleicher Art ebenso für die so genannte „e.V.“ (endgültige Vernichtung) – den Abschuss eines einzelnen, angeschossenen Bombers. Zur näheren, detaillierten Erläuterung dieser Differenzierungen siehe Kapitel 10 „Sturmjäger – Curassiere der Luft“ (Seite 441 ff).

*1Vergleiche hierzu auch Image„War Manual”/Roger A. Freeman, via Quelle: Image „Tiefflieger über Dresden?“/Böhlau Verlag 2000/Helmut Schnatz, Seite 120.

*2Quelle: Image „Mighty Eighth War Diary”/Jane’s Publishing Company 1981/Roger A. Freeman.

*3vgl. auch: Image “The Mighty Eighth Combat Chronology” 1942-1945/Eighth Air Force Memorial Museum Foundation USA 1998/Paul M. Andrews und William H. Adams: Hier wird am 20. Dezember 1943 eine B-17 der 379th BG als abgeschossen angegeben (diesen Abschuss hatte Brown beobachtet, es ist sein „Flight Leader“) und eine weitere als schwer beschädigt zurückgekehrt – vermutlich ist Ye Olde Pub gemeint. Genannt sind drei Tote und vier Verwundete. Die in den US-Quellen behaupteten zwei Abschüsse Stiglers über Bremen am 20.12.43 sind nicht verifizierbar!

*4Quelle: Image Einsatz in der Reichsverteidigung von 1939 bis 1945 Teil 1 „Jagdgeschwader 1 und 11“/Struve Druck Eutin/Jochen Prien - Peter Rodeike.

*5Quelle: Image Osprey Aircraft of the Aces 68 „Bf 109 Defence of the Reich Aces”/2006/John Weal.

*6Quelle: Image Quervergleich der anderen Quellen mit der akribischen Internetdokumentation von Jan Josef Safarik, Institute of Mathematics and Descriptive Geometry, Faculty of Civil Engineering, Brno University of Technology – von dem genannten Autor sind sämtliche deutsche Abschussmeldungen zusammengetragen und gelistet.

*7Quelle: Image WASt – Deutsche Dienststelle für die Benachrichtigung der nächsten Angehörigen von Gefallenen der ehemaligen deutschen Wehrmacht, Berlin. Verluste der deutschen Luftwaffe via Recherche Salonen.

*8Quelle: Image „Messerschmitt Bf 109 im Einsatz bei der (I./II./III./IV.- 3 Bände) Jagdgeschwader 27/Struve Druck Eutin/Jochen Prien, Peter Rodeike und Gerhard Stemmer.

*9Quelle: Image Fliegerblatt, Organ der Gemeinschaft der Flieger deutscher Streitkräfte e.V., Nr. 1/2009, Seite 93.

*10Quelle: Image „The B-17 Flying Fortress Story“/Arms & Armour Press, 1998/Roger Anthony Freeman, Seite 261.

*11Quelle: Image „The Mighty Eighth Combat Chronology” 1942-1945/Eighth Air Force Memorial Museum Foundation USA 1998/Paul M. Andrews und William H. Adams.

*12Quelle: Image USAAF Missing Air Crew Reports MACR.

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