Der mühsame Vorstoß nach Norden

Zum Zeitpunkt des deutschen Luftüberfalls auf den Hafen von Bari haben sich die alliierten Truppen inzwischen bereits von ihren Landestränden in Salerno und an der Stiefelspitze Italiens nach Norden vorangekämpft. Mühsam, verlustreich – und Meter für Meter.

Nach dem Abbruch des deutschen militärischen Widerstandes an der Landungsfront bei Salerno am 18. September 1943 ist zunächst der Weg nach Neapel geebnet. Was nicht heißt, dass der Vormarsch einfach wäre. Jede Brücke ist gesprengt, hinter jedem Hindernis lauern deutsche Soldaten und Geschütze. Sie müssen mühsam über die Berge umgangen werden. Bis zum nächsten Engpass.

Irgendwann ist dann endlich Neapel erreicht. Am 1. Oktober 1943 genau. Ein Neapel, dessen Hafen mit deutscher Gründlichkeit zerstört ist. Dessen Fabrikanlagen demontiert sind, dessen Wasser- und Stromversorgung ruiniert ist. Von Piers und Kaianlagen ganz zu schweigen – von den 73 Ladekränen steht keiner mehr. Der Hafen ist durch 130 Schiffs-Wracks blockiert, die mit Minen und Munition zusätzlich zu tödlichen Hindernissen armiert sind. Und – in alles, was irgendwie als Unterkünfte für Soldaten infrage kommt, sind Sprengfallen eingebaut. Minen sind in den Wänden eingemauert – mit Zeitzündern. Als sechs Tage nach dem Einmarsch der Alliierten das Hauptpostamt in die Luft fliegt, trifft es 70 Menschen. 18 Mann der 82. US-Luftlandedivision sterben vier Tage später in einer Kaserne.

Das kümmert die abgekämpften britischen und amerikanischen Soldaten bei ihrem Einzug in die Stadt zunächst recht wenig. Manches ahnen sie noch gar nicht. Ein bisschen „Dolce Vita“ haben sie sich jetzt erst mal redlichst verdient, wie sie meinen.

Die Deutschen überlassen ihre Gegner in der süditalienischen Hafenmetropole einer besonders delikaten Art der biologischen Kriegsführung. Dort nämlich ist in Teilen der Stadt ein Kampfmittel implementiert, welches durchaus geeignet ist, ziemlich große Verluste unter den alliierten Truppen zu verursachen. Ganz besonders in bestimmten ausgesuchten Vierteln Neapels. Das Kampfmittel heißt „Bella Signora“, der Kampfstoff ist ein Bakterium mit Namen „Neisseria gonorrhoeae“. Die Krankheit hat auch einen Namen:

„Tripper“.

Die Männer werden mit Sicherheit wesentlich angenehmer außer Gefecht gesetzt als durch eine vorübergehende Verwundung auf dem Schlachtfeld. Aber genauso wirksam! Von nun an stehen Präservative in der Bestell-Liste der anforderbaren militärischen Ausrüstungsgegenstände im Arsenal der US-Armee. Und der Besuch von Bordellen wird verboten ...

Östlich der italienischen Apennin-Berge, welche ganz Italien von der Südspitze bis zur nördlichen Po-Ebene wie einen gebirgigen Rücken durchziehen, erobern die Briten an der Adriaküste nach Bari auch Foggia. Um den bestehenden Flugplatz werden neue Flugfelder gebaut. Von hier aus können die schweren amerikanischen Bomber samt Begleitschutz nun Bereiche des deutschen Imperiums einschließlich verbündeter Gebiete bedrohen, die bisher wenig gefährdet waren. Österreich beispielsweise. Und – das rumänische Ploeşti.

Die Straßen Italiens in Nord-Süd-Richtung verlaufen fast ausnahmslos entlang der Küstenregionen. Diese bilden bisweilen flache Buchten, die aber regelmäßig von Bergkämmen abgelöst werden, die vom zentralen Mittelgebirge bis hin zur Küste führen. Hier winden sich die Straßen durch Flusstäler und über Pässe. Es sind Geländebedingungen, die zu einem Sperr-Riegel geradezu herausfordern. Und dazwischen sind die unwirtlichen, teilweise ab Oktober schneebedeckten Berge des Apennin, welche die 5. US-Armee im Westen von der 8. britischen Armee an der Adriaküste im Osten wirksam trennen.

In Italien kommt es nun zu Veränderungen in der Kommandostruktur. Auf deutscher Seite wird Generalfeldmarschall Albert Kesselring die Gesamtverantwortung für die deutschen Truppen in Italien übergeben, während Generalfeldmarschall Erwin Rommel ab November 1943 den so genannten „Atlantikwall“ in Nordfrankreich zum unüberwindlichen Bollwerk gegen die erwartete Invasion an der französischen Kanalküste ausbauen soll. Dort trifft er auf alte Bekannte – General Dwight David Eisenhower und den beförderten Field Marshall Bernard Law Montgomery. Dessen 8. Armee führt ab 23. Dezember 1943 Lieutenant General Oliver Leese.

Auch die Truppen werden teilweise ausgetauscht – vor allem auf alliierter Seite. Kampferfahrene Einheiten werden nach England geschifft, während neue, teilweise frisch ausgebildete Truppen an ihrer Stelle hinzugeführt werden. Die alliierte Streitmacht in Italien wird ein zunehmend multinationales Vielvölkergemisch.

Amerikaner kämpfen hier. Engländer, Kanadier, Neuseeländer, Südafrikaner, Rajputen-Krieger aus Indien, Gurkha-Elitesoldaten aus Nepal – alles, was das britische „Empire“ so aufbieten kann. Dann die Franzosen, die begierig sind, die Schmach der damals so unglaublich schnellen Niederlage gegen Deutschland im Jahr 1940 zu sühnen. In ihrem Gefolge kämpfen Tunesier, Algerier und Marokkaner – mit dem Dolch im Gewande. Ach ja – auch Italiener. Und Polen. Selbst eine brasilianische Division ...

Auf deutscher Seite? Deutsche und Österreicher, die im „Großdeutschen Reich“ als Deutsche gelten.

Und ein unwirtlicher Genosse mit Namen Sankt Petrus.

Der sorgt für anhaltende Regenfälle. Und für Morast. Nicht zu vergessen: für Hochwasser ...

Auf der nördlichen Seite des zum reißenden Fluss angeschwollenen Volturno 30 Kilometer hinter dem Sündenpfuhl Neapel haben sich die Deutschen verschanzt. Vorerst, denn in den Bergen hinter ihnen wird fieberhaft an einer noch stärkeren Verteidigungsstellung gearbeitet.

Während die alliierten Pioniere mit Hilfe von Schleppern, Tauchern und britischen Schwimmkränen den Hafen von Neapel wieder benutzbar machen, formieren sich das britische X. Korps an der Küste und weiter östlich das VI. US-Korps der 5. US-Armee Clarks zum Angriff. Man will den Druck auf die Deutschen aufrechterhalten, damit diese keine weiteren Truppen nach Frankreich abziehen können.

Im küstennahen Abschnitt der Briten ist das Gelände um den Volturno relativ flach, vor allem das südliche, den Angreifern zugewandte Ufer bietet kaum Deckung. Der Fluss führt bis zu drei Meter hoch Wasser. Flussaufwärts im amerikanischen Abschnitt ist die Situation für die Angreifer günstiger. Der Fluss ist hier teilweise nur einen Meter tief, es ist also möglich, ihn zu durchwaten. Auch ist das Flussbett eingeschnitten – die steilen Ufer bieten Deckung. Andererseits sind die Zufahrtsstraßen zum Fluss gebirgig, es sind kurvenreiche schmale Hangsträßchen mit allen sattsam bekannten Sabotagemöglichkeiten des Gegners.

In der Nacht zum 13. Oktober 1943 schlagen die Amerikaner los. Pioniere der am weitesten östlich stehenden 34. US-Division fahren mit Lastwagen, auf welchen bereits fertig aufgepumpt die Schlauchboote transportiert werden, an den Fluss. Dann pfeift es heran. Granatfeuer setzt ein – exakt gezielt. Drei Lastwagen zerbersten durch Artillerietreffer. Auf den übrigen setzen Splitter die meisten Schlauchboote außer Gefecht – die Risse sind irreparabel. Verdammter Shit!

Drei Boote werden noch geborgen – heil! Die Männer sammeln sich um die Schlauchboote, tragen sie zum Ufer. Ein einziger Volltreffer tötet die meisten und hinterlässt ansonsten nur noch Gummifetzen.

Einige Stunden später versuchen es die Amerikaner erneut. Diverse Schlauchboote sind wieder mühsam gebrauchsfähig zusammengeflickt worden. Die Übersetzstelle wird eingenebelt, um den deutschen Artilleriebeobachtern die Sicht zu nehmen. Doch die Geschütze haben sich längst auf diesen Abschnitt eingeschossen. Der Angriff bricht im Granathagel zusammen.

Schließlich finden die Amerikaner eine andere Übergangsstelle, die von hohen Steilwänden vor Granatfeuer geschützt ist. Die ehemals hier stehende Brücke liegt gesprengt in Trümmern – natürlich. Fieberhaft schaffen die Pioniere über miserable Straßen ihr Gerät heran. Um 03.00 Uhrnachts beginnen sie, eine Behelfsbrücke – eine so genannte „Bailey-Brücke“ – zu bauen. Am späten Vormittag des 14. Oktober 1943 ist es endlich geschafft. Jetzt wird hinübergebracht, was fahren und laufen kann.

Im Bereich der 3. US-Division weiter westlich waten Sturmpioniere durch den reißenden Volturno und kämpfen mit aller Kraft mit der Strömung. Sie müssen hinüber, um am andern Ufer Leitseile für die nachfolgenden Soldaten, für Flöße und auch Sturmboote befestigen zu können. Gewehrfeuer setzt ein, Maschinengewehrsalven peitschen den Fluss auf. Die ersten Männer brechen zusammen, werden vom Fluss davon getrieben. Ein paar wenige kommen durch, klettern am anderen Ufer vier Meter hoch den Schlamm entlang. Dort befestigen sie die Leitseile an Bäumen.

Dann setzt der massive alliierte Feuerschlag ein. Die deutschen Stellungen werden mit Sprengstoff eingedeckt, der Übergang wird eingenebelt. Die Amerikaner waten an den Seilen entlang durch den Fluss, ihre Ausrüstung wird mit den Flößen übergesetzt. Bis die Wurzeln der Bäume in dem durch tagelangen Regen aufgeweichten Boden das Gewicht nicht mehr halten. Die Seile fallen, die Flöße brechen auseinander, das Wasser reißt Männer und Waffen mit sich. Männer, deren Ausrüstung ein Schwimmen fast unmöglich macht, wenn sie sich nicht schnell genug von ihrer Last befreien können.

Der Morgen graut. Feindliche MG-Nester werden von den amerikanischen GI’s niedergekämpft. Doch nun können auch die deutschen Kanoniere besser zielen. Ein Sturmboot versinkt nach dem Volltreffer einer Granate. Die Amerikaner werfen Panzer nach vorne. Doch die kommen das Steilufer nicht hinunter. Also holt man Bulldozer an den Fluss. Deren Fahrer sterben im deutschen Geschosshagel.

Schließlich graben amerikanische Pioniere von Hand mit Schaufeln und Spitzhacken im deutschen Feuer eine Rampe in den Uferboden. Als die ersten Panzer auf der deutschen Seite auftauchen, wird der Widerstand der Verteidiger schwächer. Schließlich gelingt es, eine provisorische Brücke zu bauen.

Die Briten am küstennahen Unterlauf des Volturno erleiden eher noch schlimmere Verluste. Ihre ganze Angriffslinie liegt auf breiter Front im Schussfeld der deutschen Waffen. Ein Durchwaten des Flusses ist unmöglich, und die Zufahrtstraßen versinken im klebrigen Morast.

Am weitesten landeinwärts – mit der rechten Flanke zur 3. amerikanischen Division – kämpft die 56. britische Division. Sie versucht, in schwerem deutschen Beschuss bei Capua über den Volturno zu kommen. Vergeblich. Sämtliche Anstrengungen werden blutig zurückgeschlagen.

Weiter flussabwärts müht sich die 7. britische Panzerdivision. Der erste Angriff wird abgewiesen, auch der zweite Versuch erstickt im deutschen Abwehrfeuer. Dann folgt der dritte Anlauf. Auch er bricht zusammen, unter schwersten britischen Verlusten. Lediglich ein paar wenigen Männern gelingt es, lebend ans Nordufer des Volturno zu kommen und sich dort festzukrallen.

Weiter im Westen an der Küste findet der Hauptstoß im englischen Abschnitt statt. Dieser ebenso flache Uferstreifen des Volturno hat im Vergleich zu den angrenzenden Abschnitten der 56. britischen Division und 7. britischen Panzerdivision einen entscheidenden Vorteil.

Er liegt – mal wieder – im Feuerbereich der schweren alliierten Schiffsartillerie.

Ein Bataillon der 46. britischen Division arbeitet sich paddelnd in Sturmbooten über den Fluss. Die Überlebenden setzen sich am feindlichen Ufer fest. Zur Ruhe kommen sie dort nicht. Die Deutschen sind nicht gewillt, den Angreifern dieses Stück Land zu überlassen. Ein Gegenangriff folgt, Nahkämpfe entbrennen – bis aufs Messer. Der mörderische Kampf dauert fast den ganzen Tag. Dann ist das britische Bataillon völlig aufgerieben, die Deutschen haben sich durchgesetzt.

Weiter in Strandnähe kommen andere Einheiten der 46. Division über den Fluss. Sie hoffen auf Panzerunterstützung, denn mit Hilfe von Landungsbooten werden soeben britische Kampfwagen um die Mündung des Volturno herum ans nördliche Ufer gebracht – gedeckt von den schweren Salven der Schiffs-Geschütze, versteht sich.

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Eine „Bailey-Brücke“ über den Volturno. Sie ist eine britische Erfindung und in ca. 2 ½ Stunden über 24 Meter Länge zusammengesetzt. Sie kann bis zu 70 Meter Länge erweitert werden.

Als die Panzer an Land rollen, finden sie den Strand vermint vor. Es dauert Stunden, bis die Minen geräumt sind. Andere versinken im aufgeweichten Sand.

Die Verluste der Briten sind beträchtlich. Doch mit Hilfe der Luftherrschaft und vor allem der ungeheuren Feuerkraft ihrer Flotte können sie langsam Boden gewinnen.

Es dauert dennoch bis zum 19. Oktober 1943, bis Generalfeldmarschall Kesselring befindet, dass man den Alliierten an der nächsten Auffanglinie in besser geschützten Stellungen noch schwerere Verluste zufügen können wird. Und den längst vorbereiteten planmäßigen Rückzug befiehlt.

Von nun an werden die deutschen Verbände jeden Fußbreit italienischen Bodens mit Händen und Füßen verteidigen. Und mit allem, was sie sonst noch zum Kampf zur Verfügung haben.

Der Alptraum hat gerade erst begonnen.

General Lucas, Kommandeur des VI. amerikanischen Korps, führt als Gedächtnisstütze für seine Erinnerungen ein Tagebuch.

Dort steht in dem Zeitraum nach dem bitter erkämpften Flussübergang über den Volturno lapidar der Satz:

„Ich hoffe, bis an mein Lebensende niemals wieder einen Berg zu sehen!“

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