Die bronzene Göttin – des Rätsels Lösung

Die Deutschen sind ahnungslos. Und die Briten wissen das. Ihn Ihrem Gefolge sind die Amerikaner im Bilde. Als am 21. Januar 1944 die Task Force TF.81 unter Admiral Lowry aus der Bucht von Neapel ausläuft, hat die in Italien längst ausgeblutete deutsche Luftwaffe nicht ein einziges Aufklärungsflugzeug in der Luft, welches die Annäherung der anglo-amerikanischen Invasionsflotte entdecken könnte.

Am 14. Januar 1944 hatte zwar ein Aufklärer die Schiffsarmada bemerkt, der Alarm wird aber bald abgeblasen.

Dafür wissen die Alliierten bestens über die deutsche Arglosigkeit Bescheid. Wieder einmal schlägt die Organisation „Ultra“ zu. Selbst darüber, dass ihr streng geheimer Funkverkehr abgehört wird, tappen die Deutschen bis zum Kriegsende im Dunkeln.

Wie kann es dazu kommen, dass die Alliierten einen derartigen Informationsvorteil besitzen? Die Tragweite dieser gigantischen militärischen Hilfe mag daraus ermessen werden, dass ein deutscher Funkspruch vor der alliierten Landung in Sizilien eine komplette Aufstellung der deutschen und italienischen Einheiten auf der Mittelmeerinsel enthalten hatte. Ein besserer Überblick über die Schwachstellen der deutsch-italienischen Verteidigung wäre kaum denkbar gewesen. Selbst der verheerende deutsche Luftangriff auf Coventry im Herbst des Jahres 1940 ist Winston Churchill im Grundsatz vorab bekannt. Doch der britische Premier hatte davon abgesehen, die Bevölkerung der Stadt evakuieren zu lassen oder die Luftabwehr zu verstärken, um sein bestgehütetes Geheimnis nicht zu gefährden.

Es ist eine Ironie des Schicksals, dass die Ahnungslosigkeit der deutschen Dienststellen auf der Gründlichkeit der deutschen Mentalität beruht. Diese führt dazu, dass der deutsche Elektroingenieur Arthur Scherbius im Jahre 1918 ein Patent anmeldet. Ab 1923 wird von ihm kommerziell ein Chiffriergerät angeboten, welches zunächst zivil im Postverkehr genutzt werden soll. Die Maschine wird treffend „Enigma“ genannt – ein griechisches Wort. Es heißt übersetzt „Rätsel“.

Erst als das Militär den Wert dieses für damalige Verhältnisse extrem raffinierten Produktes erkennt, verschwindet es schlagartig vom frei verkäuflichen Markt. Doch zu diesem Zeitpunkt befinden sich bereits einige dieser Geräte im Ausland, unter anderem in Polen.

Die Arbeitsweise der „Enigma“ vollständig zu beschreiben, würde den Rahmen dieses Buches sprengen. Verkürzt und vereinfacht handelt es sich um ein Gerät, welches eine Schreibmaschinentastatur besitzt, ferner eine Batterie und ein System zur Umwandlung von Buchstaben in andere.

Ein herkömmliches Chiffriersystem würde einen Text nach einem fest stehenden Code verschlüsseln. Das bedeutet, „A“ wird immer zu „Q“, „B“ wird immer zu „F“ usw.! Ein solches System ist nach Wortwiederholungen und sprachlicher Logik mit einigem Zeitaufwand und mathematisch-kryptologischen Fähigkeiten relativ einfach zu entschlüsseln. Einmal „geknackt“ sind derartige Meldungen dann in Minutenschnelle in Klartext übersetzt.

Dagegen werden in der „Enigma“ mit jedem Tastendruck Walzen bewegt, die mit elektrischen Drähten mit der Tastatur und untereinander verbunden sind. Für jeden Buchstaben des Alphabetes ist eine separate elektrische Verdrahtung pro Walze vorhanden. Nach dem Tastendruck dreht sich die Walze, sodass je nach Verdrahtungsschema und Walzenstellung jeder Buchstabe einen anderen Effekt auslöst. Das so erzielte Ergebnis („A“ wird zu „?“) ist mit menschlicher Logik alleine niemals zu ergründen.

Um dies noch weiter zu komplizieren, werden über ein Steckerbrett elektrische „Kurzschlüsse“ erzeugt, die im Effekt bereits verschlüsselte Buchstaben noch miteinander vertauschen (ist „?“ beispielsweise jetzt „X“, so wird dies letztlich zu „K“, da „X“ mit „K“ „gesteckert“ ist) .

Die zivilen Modelle enthalten drei unterschiedliche Walzen. In die militärische „Enigma“ ab dem Jahre 1939 werden fünf Walzen verbaut, von denen aber willkürlich nur drei in Betrieb sind. In der deutschen Marine werden drei aus acht vorhandenen Walzen und Spezialcodes verwendet. Ab dem 1. Februar 1942 werden speziell in deutschen U-Booten M4-Geräte mit vier benutzten Walzen eingesetzt.

Diese Walzen sind individuell zur Funktion auswählbar – sowohl in der Frage, welche Walze in Betrieb ist, als auch, an welcher funktionalen Stelle im System sie eingesetzt wird. Denn die Walzen drehen sich mit unterschiedlicher Geschwindigkeit und sind austauschbar innerhalb des Gerätes. Verschiedenartige Zahnringe an der jeweiligen Walze bewirken zudem, dass je nach Kerbeneinteilung des Ringes nicht jeder Tastendruck eine Walzendrehung bewirkt. Und zu allem Überfluss muss auch noch die alphabetische Grundstellung der Walzen dem Empfänger des Funkspruches bekannt sein.

Dies wird gewährleistet durch monatlich geänderte Listen, die für jeden Tag eine bestimmte Einstellung des Gerätes vorsehen. In dieser Aufstellung ist die Position der Walzen, der Transportringe und der Steckerverbindungen des Steckerbrettes angegeben. Die Änderung erfolgt täglich um 24.00 Uhr.

Dem Funkspruch selbst ist zunächst ein Buchstaben-Code vorangestellt, den sich der Absender individuell als alphabetische Ausgangsstellung der Walzen wählt. Auch dieser Code ist mit der Walzentechnik verfremdet, vom Empfänger bei identisch eingestellter Maschine aber übersetzbar.

Man muss also sowohl eine mit dem Sendegerät übereinstimmende Maschine als auch eine absolut tagesaktuelle Liste der Einstellcodes besitzen, um mit einem Funkspruch etwas anfangen zu können.

Das Ergebnis dieser genialen Konstruktion sind theoretisch fast unbegrenzte Übersetzungsmöglichkeiten eines Textes in einen Geheimcode. Allerdings lassen sich durch gewisse Regeln, die zur Erhöhung der Übertragungssicherheit auf deutscher Seite eingeführt werden, einige Eingrenzungen vornehmen. Diese Vorschriften bewirken also das Gegenteil des Erwünschten. Beispielsweise darf sich eine Einstellkombination innerhalb eines Monates nicht wiederholen, die Position einer Walze darf am Folgetag nie identisch sein, zwei aufeinander folgende Buchstaben im Alphabet dürfen nicht per Steckverbindung vertauscht werden. Dies grenzt die verbleibenden Möglichkeiten für die Codeknacker bereits ein. Im Ergebnis bleiben etwa zwei Millionen Varianten einer Verschlüsselung bestehen. Die Deutschen gehen von einer rechnerisch noch höheren Zahl aus. Sie wähnen sich daher völlig in Sicherheit. Die Genialität und konstruktive Gründlichkeit des Systems wird somit zu seiner größten Falle.

Dennoch ist es schier unglaublich, dass dieses Gewirr enträtselt werden kann. Den ersten Schritt tut ein Deutscher, der 1932 die Grundsätze des Gerätes und die Schlüsseltafeln zweier Monate an den französischen Geheimdienst übermittelt. Dieser kann nicht viel damit anfangen, leitet seine Erkenntnisse aber an die Briten und Polen weiter. In Polen beschäftigt sich der 27-jährige Mathematiker Marian Rejewski mit Hilfe eines zivilen Modells der Chiffriermaschine intensiv mit dem System. Es grenzt ans Übersinnliche, dass er die hiervon abweichende Verdrahtungssystematik der militärischen Variante erahnt. Die parallel dazu forschenden Briten sind derweil dem Wahnsinn nahe!

Als die Gefahr immer größer wird, dass die Deutschen in Polen einmarschieren, geben die polnischen Analytiker ihr Wissen an den britischen Geheimdienst weiter. Der nächste Schritt ist die personelle Aufrüstung der Entschlüsselungsarmada. Bis zu 10.000 Angehörige hat die Organisation „Ultra“. Und die deutsche „Abwehr“ ahnt nichts davon! Allerdings ist das Wissen der meisten dieser Mitarbeiter über ihre Tätigkeit sicherheitshalber begrenzt, was der deutschen Spionage ihre Aufgabe erschwert.

Der geheimste Teil der Maschinerie steht im englischen Ort Bletchley Park. Es ist eine metallrotfarbige Anlage. Die „bronzene Göttin“. Man würde dieses Monstrum heute eine Art „Computer“ nennen. Vermutlich wäre seine Größe derzeit eher niedlich im Vergleich. Die bronzene Göttin ist eine Art Enigma-Nachbau. Das heißt, für jede denkbare Walzenkombination je einer, somit 60 Geräte insgesamt! Pro Umdrehung können 26 Kombinationen pro Dechiffriercomputer erprobt werden, mit 120 Umdrehungen pro Minute sind alle möglichen Varianten pro Walzenkonfiguration in etwa 6 Minuten getestet. Vorausgesetzt, die Verdrahtung stimmt. Und das ist dank Marian Rejewski der Fall!

Das Letzte, was nötig ist, sind Referenzwörter. Worte, wie sie in einem militärischen Text regelmäßig vorkommen. Je länger, desto besser. Beispielsweise „OBERKOMMANDODERWEHRMACHT“ (die Enigma kennt weder Leerzeichen noch Groß-/Kleinschreibung). Da kein Buchstabe unverschlüsselt bleiben kann („B“ kann nicht „B“ sein), lässt sich so die mögliche sinnvolle Kombination reduzieren.

Als durch Notlandungen deutscher Flugzeuge und Entern deutscher U-Boote (U 110 im Mai 1941 und U 559 im Oktober 1942) sowohl intakte Geräte als auch Codeunterlagen in britische Hände geraten, ist das Schicksal des deutschen Funkgeheimnisses besiegelt. Nun bauen auch die Amerikaner hochschnelle Entschlüsselungscomputer. Etwa 200 stehen in England, 120 in den USA. Sie entschlüsseln 1943 im Durchschnitt 2.500 deutsche Funksprüche pro Tag. Und die Deutschen wissen nichts davon!

Ihre größten Erfolge haben die durch besondere Geräte und Spruchschlüssel geschützten deutschen U-Boote in jenen Phasen, in welcher die Alliierten vor Erbeutung von U 110 und nach Aufrüstung auf die Vierwalzentechnik „taub“ sind – bis zum Untergang von U 559 *25. Ab 12. Juni 1943werden neun von zwölf Versorgungs-Tank-U-Booten innerhalb weniger Wochen versenkt. Die Alliierten kennen ihre Position – der Rest ist Routine. Das Fazit lässt sich nach Winston Churchill so charakterisieren:

„Es ist ‚Ultra‘ zu verdanken, dass wir den Krieg gewonnen haben!“ Das ist mehr als klar und deutlich!

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