5. Juni 1944
Die deutsche Abwehr schläft nicht. Auch nicht die Funkaufklärung. Sie hört Radio. Und BBC London sendet Gedichte ...
« Les sanglots lourdesdes violonsde l‘automne »
Die ersten drei Zeilen des Sechszeilers von Verlaine waren bereits am 1. Juni 1944 über den Äther gegangen und hatten die Kämpfer der französischen Widerstandsbewegung, der „Résistance“, in Bereitschaft versetzt. Denn das ist der Sinn, die verschlüsselte Botschaft der Radiosendung. Eigentlich hätte es korrekt ausgesprochen heißen müssen: « Les sanglots longues des violons de l‘automne », solche Feinheiten der französischen Sprache sind in diesen Zeiten allerdings eher nebensächlich! Doch nun, am 5. Juni 1944 gegen 18.00 Uhr *1, folgt der zweite Teil. Der deutsche Funkoffizier ist schlagartig hellwach, als die drei letzten Zeilen der Strophe des Gedichtes in seinen Ohren klingen:
« Bercent mon cœurd‘une langueurmonotone. »
Denn das bedeutet nichts anderes, als dass die schon lange erwartete Invasion der alliierten Truppen in Frankreich unmittelbar bevorsteht. Innerhalb von 24 Stunden! Das hatte der deutsche Geheimdienst herausgefunden. Auch wenn es richtigerweise « Blessent mon cœur ... » lauten müsste. Somit nun morgen, am 6. Juni 1944!
Jetzt ist es also soweit. Jetzt? Bei dem Sauwetter? Kaum zu glauben!
Aber die Botschaft ist eindeutig. Es ist für die Résistance der Befehl zum Losschlagen. Danach gibt es kein Zurück mehr!
Also: ALARM !
Ab etwa 22.00 Uhr *2 sind die Soldaten der 15. deutschen Armee in Gefechtsbereitschaft. Die 15. Armee verteidigt die Stelle, an der das deutsche Oberkommando die Invasion erwartet. Die engste Stelle des Ärmelkanals, die Straße von Calais. Hier sind die Befestigungen, Bunker, Abwehrstände und Verhaue am besten ausgebaut. Das Hauptquartier der 15. Armee liegt in Tourcoing bei Lille. Man ist bereit, die Amerikaner und Engländer gebührend zu empfangen. Die Zuständigkeit der 15. Armee reicht nach Westen bis zur Mündung des Flusses Orne. Die Orne erreicht den Ärmelkanal bei Ouistreham 35 Kilometer südwestlich von Le Havre. Weiter westlich schließt sich die 7. deutsche Armee an.
Doch die 7. Armee verharrt ahnungslos. Die im Bereich der 15. Armee aufgefangene Alarmmeldung wird nicht an sie weitergegeben. Zur 7. Armee gehört das LXXXIV. (84.) Armeekorps. Dessen kommandierender General sitzt um Mitternacht noch an seinem Schreibtisch in Saint-Lô, als drei Offiziere mit einer Flasche Chablis hereinkommen, um den 53. Geburtstag ihres Chefs, General Erich Marcks, zu begießen. Die Feier ist kurz. Am nächsten Morgen ist eine Übung geplant – im Hinterland in Rennes. Da heißt es, früh aufzubrechen. Das Thema der Übung: Abwehr feindlicher Luftlandetruppen.
Die Warnung erreicht General Marcks nicht. Auch nicht Generaloberst Friedrich Dollmann, den Befehlshaber der 7. Armee. Auch er hat vor, nach Rennes zu fahren. Die 7. Armee verteidigt die Küstenstreifen von Ouistreham an bis St. Nazaire. Es ist ein Gebiet, das als eher weniger bedeutend angesehen wird. Entsprechend lückenhaft sind hier die Befestigungen des so genannten „Atlantikwalles“.
Unmittelbar südwestlich von Ouistreham liegt Caën. Und zwischen Caën und Cherbourg beginnt die Nacht wie immer. Wachtposten verrichten ihren Dienst. Im Westen nichts Neues.
Im Westen von Ouistreham.
In der Normandie.
Der Oberbefehlshaber der Heeresgruppe B in Frankreich, Feldmarschall Erwin Rommel, bricht bereits am 4. Juni 1944 mit seinem Wagen auf und verlässt sein Hauptquartier in La Roche-Guyon. Er will am Abend in seiner Heimat Herrlingen bei Ulm sein, um den 50. Geburtstag seiner Frau zu feiern. Am 6. Juni 1944 ist eine Besprechung mit Hitler auf dem Obersalzberg vorgesehen. Rommel will Hitler auf die Schwäche seiner Streitkräfte hinweisen und mindestens zwei neue Panzerdivisionen verlangen, zudem ein Fliegerabwehrkorps und eine Brigade Raketenwerfer. Doch woher sollte das an allen Fronten hart bedrängte Deutschland diese Kräfte nehmen? Das ist Rommel klar – und doch: er benötigt diese Truppen! Mindestens! Seine Streitmacht ist zusammengewürfelt aus aller Herren Länder. Zwangsverpflichtete, übergelaufene oder freiwillig in die deutsche Wehrmacht eingetretene Kroaten, Ungarn, Polen, Letten, Litauer, Russen, Ukrainer, Georgier, Tataren und viele andere Nationalitäten machen einen spürbaren Teil der Verteidigungsstreitmacht in Frankreich aus. Wie zuverlässig diese unter Feindbeschuss kämpfen würden, ist nicht vorhersehbar. Und die deutschen Truppen? Die Panzerdivisionen, teilweise Verbände der Waffen-SS, sind gut ausgerüstet und hochmotiviert. Doch unter den anderen Divisionen sind viele, die als Leichtverletzte aus den mörderischen Kämpfen in Russland nach Frankreich abgezogen worden waren. Eine ganze Division, die 70. Infanteriedivision, besteht aus Magenkranken, die eine spezielle Diät erhalten. Die deutsche Wehrmacht hatte bis zum Ende des Kriegsjahres 1943 an Gefangenen, Versehrten und Gefallenen insgesamt 2.086.000 Mann verloren. Das wirkt sich aus.
Und die Luftwaffe? Selbst die größten Optimisten unter den Generälen wissen inzwischen, dass die wenigen deutschen Geschwader gegen die alliierte Übermacht nur noch Schadensbegrenzung betreiben können. Die Frage ist allenfalls noch, in welchem Maße das gelingen kann. Eine Luftüberlegenheit der deutschen Jagdflugzeuge, gar die Luftherrschaft über den Invasionsstränden ist völlig illusorisch. Der Himmel wird den Briten und Amerikanern gehören, damit wird man sich abfinden müssen – es ist bereits jetzt der Stand der Dinge. Die Übermacht der Amerikaner und Engländer beträgt 50 : 1 gegenüber der deutschen Luftwaffe in Frankreich, die am 31. Mai 1944 auf französischem Boden gerade mal 891 Maschinen aller Typen aufbieten kann. Davon sind nur 496 einsatzbereit ...
Am 4. Juni 1944 stehen den kampfstarken und zahlenmäßig üppig ausgerüsteten britischen und amerikanischen Luftflotten in ganz Frankreich 173 deutsche Jagdflugzeuge gegenüber. 119 davon sind flugfähig. 71 gehören zum Jagdgeschwader (JG) 26, die übrigen 48 sind Maschinen des JG 2.
Die alliierte Luftherrschaft hat schwere Konsequenzen. Der „Wüstenfuchs“ Rommel, früher in Nordafrika glühender Verfechter und Meister des Bewegungskrieges mit schnellen Verbänden, hatte gegen Ende des Feldzuges erleben müssen, wie seine Verbände gnadenlos aus der Luft zusammengebombt und in Fetzen geschossen worden waren. Er weiß, dass er den Feind in Frankreich unmittelbar an der Küste vernichten muss. Gelingt diesem der Durchbruch ins Hinterland, so ist er kaum noch aufzuhalten. Denn die Luftüberlegenheit der Gegenseite erlaubt deutsche Truppenbewegungen nur bei Nacht. Panzer-Gegenangriffe am Tage sind extrem durch die Bomben und Raketen der angloamerikanischen Jagdbomber gefährdet. Der gewiefte Wüstenfuchs sollte Recht behalten!
Rommel benötigt Verstärkungen – dringend. Sollte es den Alliierten gelingen, in Frankreich Fuß zu fassen, so ist der Krieg für Deutschland endgültig verloren. Das ist Rommel klar.
Doch im Moment dürfte man vor einer Invasion einige Tage lang sicher sein. Das Sturmtief peitscht die See auf, für eine geordnete Anlandung an den Stränden ist ein derartiger Seegang ein großes und doch wohl völlig unnötiges Risiko. Und die tiefe Wolkendecke erschwert den für den Erfolg des Landungsunternehmens so wichtigen Einsatz der britischen und amerikanischen Bomber, Tiefflieger, Transportmaschinen, Aufklärer usw.! Außerdem herrscht Ebbe. Man wird ja wohl nicht gerade bei Ebbe landen – wenn die Soldaten nach dem Aussteigen aus den Landungsbooten über mehrere hundert Meter offenes, ungeschütztes Watt-Gelände laufen müssen, bis sie an der Ufer-Böschung ein Minimum an natürlicher Gelände-Deckung erreichen. Das wäre glatter Selbstmord! Die alliierten Befehlshaber werden ihre Leute kaum ins offene Messer rennen lassen, direkt hinein ins deutsche Maschinengewehr- und Granatfeuer. Bei Flut können die Landungsboote direkt ans Ufer fahren. Die vor MG-Feuer geschützt hinter den Stahl-Rampen der Landungsboote kauernden Sturmtruppen in den Booten können so die Entfernung, die die Soldaten bei Ebbe völlig ungeschützt im Sturmlauf bewältigen müssten, viel sicherer überwinden. Bis sich die Rampen nun mal irgendwann dann doch öffnen müssen!
Ja, sie werden bei Flut kommen und ruhigem Wetter, so wie bei allen ihren (sorgfältig analysierten) Landungen bisher, beispielsweise in Italien – alles andere ist gegen jede militärische Logik. Also wird man jetzt, bei Ebbe und diesem regnerischen Mistwetter, einige Tage Ruhe haben, kann gefahrlos momentan erforderliche Umgruppierungen vornehmen – denn eine Einheit in der Verlegungsphase ist nicht kampfbereit. Für eine Verlegung benötigt man Straßen, und die Straßen sind derzeit einigermaßen sicher vor den verfluchten allgegenwärtigen britischen und amerikanischen Jagdbombern und Mittelstreckenbombern. Also wenn, dann jetzt! Auch kann man nun Übungen durchführen wie die in Rennes, zur Abwehr einer Luftlandeaktion der Alliierten. Eine solche wird der Invasion vorangehen, das ist klar. Aber nicht heute Nacht. Somit kann man im Moment ohne Risiko die Kommandeure für jene Übung von ihren Einheiten abziehen.
Und man kann nach Deutschland fahren zur Geburtstagsfeier beziehungsweise – wichtiger – zur Besprechung mit Adolf Hitler, der sich bis heute die letzte Entscheidung zum Einsatz der Panzerreserven vorbehält, ja sogar Verschiebungen innerhalb von Armeegruppen von seiner Zustimmung abhängig macht. Ohne ihn geht in der von Hitler bewusst kompliziert gehaltenen Entscheidungshierarchie der deutschen Streitkräfte in Frankreich nichts, dafür hat Hitler gesorgt. Nicht einmal Rommel, der sich als Befehlshaber der Heeresgruppe B mit dem „Oberbefehlshaber West“, Generalfeldmarschall Gerd von Rundstedt, abstimmen muss, kann über seine Kräfte uneingeschränkt verfügen. Rommel hatte in der Vergangenheit versucht, wenigstens den Oberbefehl über die Küstenanlagen und den strandnahen Aufmarsch zu erhalten. Vergebens. Vielleicht ergibt sich jetzt im Gespräch mit Hitler eine Chance?
Schließlich hatte ihm Hitler Ende 1943 den Befehl erteilt, die Verteidigungsanlagen an der Atlantikküste zu inspizieren und zu einem unüberwindlichen Hindernis auszubauen. Rommel war fleißig, überlegt und gezielt an die Arbeit gegangen. Doch wie sichert man eine Küste von Dänemark bis zur Biskaya? Es wird fieberhaft gearbeitet, die deutsche „Organisation Todt“ errichtet mit Hilfe vieler Fremd- und Zwangsarbeiter Bunker und Verteidigungsstellungen. Die französische Résistance-Widerstandsbewegung sabotiert dies, wo es geht – bis hin zu minderwertigem Beton, der bei weitem nicht so beschussfest ist, wie er sein sollte. Rommel isst nicht, vergisst zu schlafen. Vielleicht raubt ihm auch die Sorge den Schlaf. Er improvisiert, wo er kann. Doch in Anbetracht der gigantischen Aufgabe hat er keine andere Wahl, als Prioritäten zu setzen.
Wann werden sie kommen? Sicher bei Flut, das ist nahe liegend. Also lässt Rommel Tausende Stangen und Verhaue unter Wasser errichten, „spanische Reiter“ – knapp unter der Wasserlinie, bezogen auf den Wasserstand bei Flut. Diese werden mit Minen versehen und Metallteilen, die die Landungsboote in die Luft sprengen oder ihnen den Rumpfboden aufschlitzen sollen. Denn die Rudergänger der Boote können diese Unterwasserhindernisse nicht sehen. Bei Flut sind sie unsichtbar!
Bei Ebbe sind sie sichtbar. Für die Kämpfer der Résistance genauso wie für die alliierten Aufklärer. Diese Verteidigungsanlagen werden auf der anderen Kanalseite ernst genommen. Vielleicht sollte man doch besser bei Ebbe landen?
Gut, aber was ist mit den deutschen Geschützen, Granatwerfern und Maschinengewehrnestern? Die Opfer unter den Sturmtruppen müssen doch bei Ebbe verheerend werden!
Ja – sofern noch jemand da ist, der auf deutscher Seite schießt. Das aber – da ist man zuversichtlich – wird man weitgehend verhindern können! Denn das Trommelfeuer aus Abertausenden von Schiffsgeschützen, schiffsgestützten Raketenwerferbatterien samt dem Ausmaß an Bombenhagel, das man den deutschen Küstenverteidigungen zugedacht hatte, überlebt dort garantiert keiner! Da ist man sich doch weitgehend sicher in den alliierten Planungsstäben.
Es dürfte kaum etwas von den Bunkern und MG-Nestern übrig bleiben, was noch auf die anstürmenden Amerikaner, Briten und Kanadier feuern könnte. Dafür würde man schon sorgen!
Also: es wird bei Ebbe gelandet. Rommels spanische Reiter werden so komplett unwirksam gemacht.
Damit rechnet Rommel nicht. Und doch – er setzt nicht nur auf eine Karte. Panzersperren am Strand und im Hinterland stehen bereit. Allerdings: die eigenen Panzer hatten diese Sperren vier Jahr zuvor auch nicht aufhalten können. Seine „Spargel“ sind versteckte Hindernisse in den Wiesen im Küsten-Hinterland, armiert mit alten französischen Granaten, auch Minen. Sie sollen Lastensegler bei der Landung zerstören. Ganze Landstriche werden unter Wasser gesetzt – tödliche Fallen für die schwer bepackten Fallschirmjäger, die sich in der Regel nicht schnell genug ihrer in die Tiefe ziehenden Lasten entledigen können. Zwei bis drei Millionen Minen werden verlegt – viel zu wenig, Rommel verlangt 100-200 Millionen. Doch die kann Deutschlands Kriegsindustrie nicht schnell genug herstellen. Dann die Bunker. Am 1. Mai 1944 befinden sich erst 299 der 547 Küstengeschütze in betonierten Verteidigungsanlagen. Und dies vor allem dort, wo man am ehesten einen Angriff erwartet, an der Engstelle des Kanals bei Calais. Noch wesentlich weniger vollständig sind die Befestigungen in der Normandie und Bretagne. Die Zeit drängt!
Wo werden sie kommen? Rommel überlegt fieberhaft – wie auch der übrige Generalstab. Indizien gab es bereits genug – doch widersprüchlicher Natur. Im deutschen Generalstab versucht man, aus den pausenlosen alliierten Luftangriffen auf die Absichten des Gegners zu schließen. Doch die Amerikaner und Briten zerstören systematisch sämtliche Verkehrswege in Nordfrankreich, Straßen, Brücken, Bahnhöfe und Eisenbahnnetze. Am 24. Mai 1944 beispielsweise bombardieren B-26 „Marauder“-Mittelstreckenbomber alle Brücken über die Seine oberhalb von Mantes. Immer neue Angriffe verhindern deren Instandsetzung. Auch die französische Widerstandsbewegung macht sich effektiv durch Sabotageakte bemerkbar. Wo ist die Invasion zu erwarten, wenn der Feind es sich leisten kann, seine Absichten hinter einem flächendeckenden Bombenhagel und Anschlägen allüberall zu verbergen?
Für eine Landung in der Normandie oder Bretagne spricht die Anzahl größerer Häfen dort. Nur ein eroberter Hafen verspricht raschen Nachschub für die anfangs nach der Landung sehr gefährdeten Truppen. Doch andererseits verdichten sich Indizien für eine bevorstehende Landung am Pas de Calais, der Wasserstraße zwischen Calais und dem britischen Dover. Gegenüber, auf der anderen Seite des Kanals, beobachten deutsche Aufklärungsflugzeuge die Errichtung neuer Flugplätze voll mit Flugzeugen und die Konzentrierung ganzer Panzeransammlungen sowie von Landungsbooten und ähnlichem Kriegsmaterial in den Häfen. Dass die Aufklärer nur sehr dilettantisch von britischen Jägern angegriffen werden, fällt nicht auf. Aus der Luft ist auch nicht zu erkennen, dass diese Flugzeuge, Panzer wie Landungsboote aus Pappmaschee bestehen! Zumal einige deutsche Agenten in England dem deutschen Geheimdienst die alliierten Landungsabsichten bei Calais bestätigen, so „Garbo“, „Snow“ und „Brutus“. Die Deutschen wissen nicht, dass alle drei britische Doppelagenten sind, die den deutschen Geheimdienst gezielt mit nachprüfbar echten und dann anschließend mit nicht nachprüfbar falschen Informationen versorgen. Deren Effekt wiederum ist durch die Briten erkennbar, da sie den deutschen Funk-Code entschlüsseln konnten, seit ihnen eine unbeschädigte „Enigma“-Verschlüsselungsmaschine in die Hände gefallen war. Diese Maschine ist derartig raffiniert aufgebaut, dass die Deutschen selbst in einem solchen Fall eine Entschlüsselung ihrer Funktionsweise für ausgeschlossen halten. Doch so schwierig es war – es glückte! Die Briten können also kontrollieren, ob ihnen die Gegenseite auf den Leim geht. Am 8. Juni 1944 meldet Garbo den Deutschen, die Landung der Alliierten in der Normandie sei ein Ablenkungsmanöver, die eigentliche Landung stehe am Pas de Calais noch bevor. Die Deutschen fallen darauf herein. Ein folgenschwerer Fehler.
Die alliierten Befehlshaber, der amerikanische Oberkommandierende General Dwight D. „Ike“ Eisenhower und sein britischer Kollege Feldmarschall (Field Marshal) Bernard Montgomery, Rommels alter Gegenspieler aus Nordafrika, müssen entscheiden. Der Landungsort war längst festgelegt worden – in einer umfangreichen Generalstabsstudie. Hollands Küsten sind zu leicht unter Wasser zu setzen, vor Belgien ist die Meeresströmung zu stark. Die Bretagne hat günstige Bedingungen an der Küste, ist jedoch etwas zu weit von England entfernt und liefert nur mäßige Vormarschstraßen ins Landesinnere. Der Pas de Calais bietet Vorteile, hat aber steile Strände – und: hier erwarten die Deutschen den Angriff. Also ergibt sich als einzig sinnvoll verbleibendes Ziel die Normandie. Deren Küste ist meistens flach, die Straßenverbindungen sind (nach Instandsetzung der Bombenschäden) gut und – vor allem – es gibt große Häfen. In der Normandie wird man angreifen! Und die Deutschen wird man in ihrem Glauben bestärken, dass man am Pas de Calais landen werde.
Bleibt der Zeitpunkt. Zunächst wird ein Termin im Mai 1944 anvisiert. Doch dann sind noch nicht genug Landungsboote und Landungsschiffe bereitgestellt. Daraufhin wird der 5. Juni ins Auge gefasst. Nun ist alles vorbereitet – es kann losgehen. Die Bedingungen stimmen, es ist Ebbe – und ein spät, also erst zur Absprungzeit aufgehender Vollmond, unabdingbare Voraussetzung für die Durchführbarkeit der Luftlandeoperationen. Doch das Wetter spielt nicht mit. Noch ist die Geheimhaltung gewahrt. Die Truppen sind an Bord ihrer Schiffe. Die Hälfte der Männer ist bereits seekrank. Am 4. Juni um 04.30 Uhr wird der Angriff abgeblasen. Was nun?
Die nächste Konstellation von Ebbe und Vollmond wird am 19. Juni 1944 bestehen. So lange kann man die Soldaten nicht an Bord lassen. Ihre Ausschiffung würde aber kaum geheim bleiben können – das Risiko wäre enorm, dass die Deutschen im letzten Moment doch noch herausfinden, wo die Invasion stattfinden soll. Außerdem wird von den Meteorologen für den 19. Juni wahrscheinlich noch miserableres Wetter prophezeit. Aber übermorgen, am 6. Juni 1944, soll es ein Zwischenhoch geben – eine kurze Wetterbesserung. Auch die Wolkendecke soll zeitweise aufreißen. Es ist 21.30 Uhr in England.
Ob er dies garantieren könne, wird der Chefmeteorologe der Alliierten, Group Captain J. M. Stagg von der Royal Air Force, gefragt. Er sei Meteorologe, kein Wahrsager, ist die Antwort. Keine Garantie!
Die letzte Entscheidung liegt bei „Ike“ Eisenhower. Seine Uhr zeigt kurz vor 22.00 Uhr am 4. Juni 1944. Montgomery war schon heute früh gegen eine Verschiebung gewesen. Er drängt! Let’s go!
Eisenhower fällt diese Entscheidung sehr schwer. Das Leben Tausender seiner Männer hängt von ihr ab. Alles in allem sind es 3.500.000 Mann und 20 Millionen Tonnen Material, die zur Verfügung stehen! 22.00 Uhr ist die letztmögliche Uhrzeit für Ja oder Nein. Die Entscheidung muss getroffen werden – jetzt.
Okay – Go!
Auf deutscher Seite rechnen die Meteorologen nicht mit einer Wetterbesserung. Die Messstationen der Amerikaner um den Atlantik herum und deren Daten hat man nicht zur Verfügung! Außerdem – wie wertvoll ein einziger Tag kurzer Wetterbesserung sein kann, kann man diesseits des Kanals nicht überblicken. Doch dieser eine Tag ist wichtig. Und ein ganzer Tag ist lang.
Es wird der „längste Tag“.
6. Juni 1944 – „D-Day”
01.00 Uhr – 01.45 Uhr nachts: (britischer Sommerzeit, für die deutsche Seite ist es 00.00 Uhr – 00.45 Uhr, denn in Frankreich gilt Mitteleuropäische Zeit (CET), somit weder die englische noch deutsche Sommerzeit. Die Zeitsysteme werden in Kapitel 15 erörtert, hier sei vorweggenommen, dass die Briten im Sommer ihre Uhren ausgehend von „Greenwich mean time“ (GMT) um zwei Stunden vorstellen (). In Frankreich gilt CET =
, in Deutschland deutsche Sommerzeit =
). In Deutschland und England ticken die Uhren somit gleich, jedoch nicht in Frankreich, das im Sommer eine Stunde „nachhinkt“.
Das LXXXIV. deutsche Armeekorps in Saint-Lô erhält Meldung über gegnerische Fallschirmjägerlandungen in der Normandie. General Marcks schmeckt der Chablis nicht mehr, er bricht unverzüglich seine Vorbereitungen zur Reise nach Rennes ab. Offenbar kann man auf das Kriegsspiel verzichten – es wird grausame Realität, wie es scheint! Um 02.00 Uhr kommen weitere Meldungen. Dollmann, Salmuth und von Rundstedt – die deutschen Kommandeure – werden geweckt. Irgendetwas ist da im Gange!
Die 13.200 britischen und amerikanischen Fallschirmjäger sind in alle Richtungen verstreut, die tiefe Wolkendecke hatte das Auffinden der Absprungzonen erschwert. Die Lastensegler waren zwar niedergegangen, doch die Verluste sind beträchtlich. Die deutsche Flak hatte ihnen zudem zugesetzt. Nun also sind sie unten. Sümpfe und Wasser hatten Opfer gefordert, viele der Männer waren unter der Last ihrer Ausrüstung in den überfluteten Gebieten versunken, hatten sich in den Fallschirmseilen verheddert und waren ertrunken. Auch Lastensegler schliddern ins Wasser, so an der „Pegasus“-Brücke. Nicht alle Insassen können sich befreien. Gruppen und Grüppchen sammeln sich, werden zu Stoßtrupps. Die Deutschen sind teilweise auf der Hut, andere völlig überrascht. Die Brücken über die Dives werden von den amerikanischen Fallschirmjägern gesprengt. Britische Fallschirmjäger erobern die deutsche Artillerie-Batterie Merville im Handstreich, nachdem britische Lancaster-Bomber die Befestigungen mitten in der Nacht wenige Stunden zuvor hatten sturmreif bomben sollen. Doch die Bomben hatten ihr Ziel komplett verfehlt.
Die Deutschen treten zum Gegenangriff an, erobern die Batterie zurück. Allerdings finden sie die Geschütze nun zerstört vor. Gegen 05.00 Uhr ist die Befestigung nach Feuerunterstützung durch das britische Kriegsschiff HMS „Arethusa“ wieder in britischer Hand. 65 britische Fallschirmjäger sterben, 190 sind bis heute vermisst. 30 werden verwundet und 22 geraten in Gefangenschaft. Es stellt sich heraus, dass die nun gesprengten deutschen Geschütze ein kleineres Kaliber gehabt hatten als erwartet. Für den nahe gelegenen britischen Landeabschnitt wären sie kaum eine Gefahr gewesen!
Andere britische Fallschirmjägereinheiten erobern strategisch wichtige Brücken, so die später so genannte „Horsa“-Brücke über die Orne und die „Pegasus“-Brücke“ über den Caën-Kanal. Die deutschen Einheiten im Hinterland der Normandie werden teilweise überrumpelt und durcheinander gebracht. Doch auch die Fallschirmjägertruppen der Alliierten sind noch keine geordnete Kampfeinheit.
Es formieren sich Gegenmaßnahmen. Zwar wird Generalleutnant Wilhelm Falley, Kommandeur der 91. Infanteriedivision, kurz vor Erreichen seines Gefechtsstandes erschossen. Eine MP-Salve erfasst seinen Wagen. Er springt heraus, die Pistole in der Hand. Eine zweite Geschossgarbe trifft ihn tödlich.
Doch in Saint-Lô befiehlt General Marcks nun seinem einzigen Reserveregiment, nach Carentan vorzurücken und die Lage dort zu klären. Generaloberst Dollmann setzt weitere Truppenteile ein. Die 21. Panzerdivision, Reserve der Heeresgruppe B, wird in Marsch gesetzt. Der Befehl kommt von Generalleutnant Hans Speidel, Chef des Generalstabes der Heeresgruppe B und Stellvertreter Rommels.
Kurz vor 06.00 Uhr ruft Blumentritt, Chef des Generalstabes des Oberbefehlshabers West, in Berchtesgaden an, um Hitler vom Beginn der Invasion zu unterrichten. Dort wird Generaloberst Jodl aus dem Schlaf gerissen. Er ist skeptisch. Er hält das Ganze für ein Ablenkungsmanöver. Der Führer war bis spät in der Nacht wach gewesen und erst vor kurzem eingeschlafen. Jodl wagt nicht, den für seine cholerischen Wutausbrüche berüchtigten Hitler zu wecken. Nicht wegen eines Ablenkungsmanövers.
Generalfeldmarschall von Rundstedt, Oberbefehlshaber West, lässt es geschehen. Von tiefer Verachtung durchdrungen gegen Hitler, den „böhmischen Gefreiten“ aus dem Ersten Weltkrieg, der sich anmaßt, seine Armeen zu befehligen und ihn zu bevormunden, resigniert er. Der böhmische Gefreite will kommandieren, dann soll er es tun! Von Rundstedt hat die innere Kündigung längst eingereicht!
05.00 Uhr nachts: (britischer Zeit)
Die Erde der Normandie erbebt unter den Bombeneinschlägen. 1.056 schwere britische Lancaster-Bomber nehmen sich die zehn wichtigsten deutschen Geschützbatterien vor. Merville, Fontenay und Saint-Martin-de-Varreville waren schon vor dem Absprung der Fallschirmtruppen mit Bombenteppichen belegt worden. Nun sind die Geschütze von La Pernelle, Maisy, an der Spitze von Hoc, Lonques, Mont-Fleury, Ouistreham und Houlgate an der Reihe. Es ist ein mörderisches Bombardement. Doch das ist nur der Auftakt!
Schemenhaft taucht aus dem Dunst die Invasionsflotte auf – eine gigantische Armada. Inzwischen ist sie auch auf den Radarschirmen einer der letzten noch intakten deutschen Radarstationen vor Port-en-Bassin zu erkennen. Ein gezielt gelegter Nebelschleier verbirgt die Schiffe am östlichen Ende der Invasionsflotte vor den Zieloptiken der schweren Geschütze in Le Havre. Plötzlich tauchen drei schnelle Schatten auf. Es sind die deutschen Torpedoboote „T-38“, „Jaguar“ und „Möwe“. Viel mehr hat die deutsche Kriegsmarine nicht gegen die riesige Flotte aufzubieten. Die Boote werden sofort nach ihrem Erkennen in konzentrisches Feuer genommen und drehen ab. Doch ihre Torpedos laufen bereits auf die alliierte Flotte zu. Der norwegische Zerstörer „Svenner“ wird getroffen und sinkt sofort. Von Land her feuern einige deutsche Geschütze. Sie richten nicht viel aus.
05.30 Uhr: (britischer Zeit)
1.630 amerikanische viermotorige „Fliegende Festungen“ der Typen B-24 „Liberator“ und B-17 „Flying Fortress“ lösen die britischen Lancaster-Bomber ab. Ein unbeschreibliches Bombardement pflügt die Küstenstreifen der Landestrände um. Die Bomben lassen wenig übrig von den Befestigungen unter ihnen – sofern sie im Zielgebiet einschlagen. Die Schlechtwetterfront wirkt sich aus wie befürchtet – die Bodensicht tendiert an vielen Stellen gegen Null. Die Bombenschützen orientieren sich dort alleine an ihren Navigationsinstrumenten. In den britischen Landeabschnitten liegen die Bombenteppiche einigermaßen gut im Ziel. Nicht so im amerikanischen Landeabschnitt „Omaha“. Aus Furcht, die Bomben könnten wirkungslos ins Wasser fallen, klinken die „Liberator“-Bomber hier einige Sekunden zu spät aus. Sekunden, die Meilen bedeuten. Der größte Teil der Bombenlast geht vier Kilometer hinter den deutschen Verteidigungsstellungen nieder. Anlagen, die hier besonders gut befestigt sind.
Nun eröffnen die Schiffsgeschütze vor den britischen Landeabschnitten „Sword“, „Juno“ und „Gold“ das Feuer. Es ist ein gigantisches Inferno aus Rauch, Detonationen und Explosionsblitzen. Über 6.000 Schiffe stehen den Alliierten zur Verfügung, die mit Abstand größte Invasionsflotte aller Zeiten. U.a. gehören dazu: fünf Schlachtschiffe, 23 Kreuzer, 69 Zerstörer, 56 Fregatten und Korvetten, 247 Minensucher, fünf Monitore und Kanonenboote, 256 kleinere Schiffe und 4.126 größere Landungsschiffe. Die unzähligen Landungsboote sind nicht mitgezählt. Das Stahlgewitter, welches da über den deutschen Unterständen und Bunkern niedergeht, ist nicht zu beschreiben. Es wird ergänzt durch einen Hagel an Raketengeschossen, deren Salven mit einem infernalischen Heulen auf die Strände zujagen und sich in die Explosionen der schweren Schiffsgranaten einreihen. Und doch – so unglaublich es erscheinen mag: nicht alle deutschen Geschütze werden vernichtet, und nicht alle Soldaten im Zielgebiet getötet. Obwohl jeder Quadratmeter statistisch gleich mehrfach in Fetzen gehackt sein müsste.
05.50 Uhr: (britischer Zeit)
Nun eröffnen auch die Schiffe vor den amerikanischen Landeabschnitten „Omaha“ und „Utah“ das Feuer. 20 Minuten später als bei den Briten – und kürzer. Die Amerikaner ziehen das Überraschungsmoment einem konzentrierten Trommelfeuer vor. Doch das Feuer ist konzentriert genug. Genug? Nicht ganz. Nicht im Abschnitt „Omaha“.
Ab 06.30 Uhr: (britischer Zeit)
„Utah Beach“
Einer der ersten Amerikaner betritt französischen Boden, genau um 06.39 Uhr. Es ist im Strandabschnitt „Utah“. Und es ist Brigadegeneral Theodore Roosevelt junior. Roosevelt sucht nach bekannten Anhaltspunkten für das Gelände. Er findet keine. Offenbar war die gesamte Landungsflotte abgetrieben worden. Doch der deutsche Widerstand ist gering. Von denen lebt kaum einer mehr. Etwa 200 US-GI`s kommen in diesem Landeabschnitt ums Leben. Nur 200 ...
„Omaha Beach“
Der Zeitplan ist eingehalten. Das Meer ist bewegt, Schaumkronen zieren die Wellenspitzen. 32 Schwimmpanzer („DD-Tanks“) werden in etwa fünf Kilometer Abstand von der Küste zu Wasser gelassen. Es sind „Sherman“-Panzer, welche eine faltbare Hülle haben, die aufgeblasen wie ein gigantisches Schlauchboot wirkt. Sie trägt sogar das Gewicht eines Panzers – vorausgesetzt, das Wasser schwappt nicht über den oberen „Schlauchboot“-Rand. Doch genau das passiert in der aufgewühlten See. Alle bis auf zwei sinken mitsamt ihren Besatzungen auf den Grund des Meeres.
Auf dem rechten Flügel sollen weitere 28 Amphibienpanzer gewassert werden. Doch 1st Lieutenant Rockwell erkennt das Desaster. Er steuert seine Landungsboote an den Strand, lässt diese lieber auf Grund laufen, als die Panzerbesatzungen den Seemannstod sterben zu lassen. Einige Landungsboote laufen gegen Hindernisse und sinken. Die anderen kommen durch. Die Sherman-„Tanks“ rollen an Land. Sie werden von Panzerabwehrgranaten empfangen. Deutsche 8.8-cm-Geschütze nehmen sich einen Panzer nach dem anderen vor. Als alle vernichtet sind, kommen Rockwells Boote an die Reihe ...
„Omaha Beach“: Seit Steven Spielbergs Film „Saving Private Ryan“ haben viele Kinobesucher eine vage Ahnung von dem, was hier vor sich ging. An die Wirklichkeit reicht es bei aller schonungsloser Realitätsnähe der im Film gezeigten Szenen dennoch nicht heran!
„DD-Tank“: Sherman-Schwimmpanzer.
Inzwischen sind die Landungsboote mit der ersten Welle Infanterie am Strand. Die Deutschen im Abschnitt „Omaha“ haben das Schiffsartilleriefeuer weitgehend unversehrt überstanden. Die Soldaten der schlagkräftigen 352. Infanteriedivision schiessen gut gezielt aus allen Rohren. Granatwerfer überschütten die Amerikaner mit einem Geschosshagel, der nur einen Bruchteil dessen ausmacht, was die Deutschen erdulden mussten. Doch diese konnten in geschützten Unterständen das Schlimmste überstehen – meistens, Volltreffer ausgenommen. Die Amerikaner dagegen sind dem deutschen Feuer hilflos in der deckungslosen Strandfläche ausgeliefert. Bei Ebbe! Es kracht überall. Es passiert genau das, was nie hätte passieren dürfen.
Diese Fotos sind nachträglich coloriert, allerdings ausgesprochen professionell.
Maschinengewehrsalven peitschen über den Strand. Die amerikanischen Verluste gehen in die Tausende. Die US-Boys sind am Strand festgenagelt. Die nächste Welle folgt. Auch ihr ergeht es nicht besser. Zerfetzte Leiber übersäen den Strand, blutüberströmte Leichen bedecken den Sand. Die Horrorszenen sind eingehend filmisch aufbereitet. Doch im Film dauert die Hölle etwa eine entsetzliche halbe Stunde. Die Realität ist weitaus ausdauernder! Der Alptraum nimmt kein Ende!
Allmählich kommt die Flut. Für Verwundete, die nicht mehr wegkriechen können, ist es vorbei.
Nun versuchen amphibische Trucks, Schwimmfahrzeuge mit Rädern, so genannte „DUKW“s mit Geschützen an Bord, an Land zu kommen. Sie werden ausnahmslos im deutschen Abwehrfeuer versenkt.
Erst als es Oberst Canham und Brigadegeneral Cota am späten Vormittag gelingt, mit einer geballten Ladung (gebündelte Handgranaten) eine Bresche in den Stacheldrahtverhau zu sprengen, der den Eingang in den Hohlweg nach Saint-Laurent versperrt, wendet sich das Blatt. Die Flut ermöglicht es den vor der Küste liegenden Zerstörern, nun auf Sichtweite an das Gemetzel auf dem Strandabschnitt heranzukommen. Sie feuern gezielt auf die deutschen Widerstandsnester. Eine dieser Salven können Canham, Cota und einige Männer ausnützen. Der Volltreffer eines Zerstörers zerreißt den Geschützstand von Moulins.
Danach sind die Amerikaner durch.
An anderen Bereichen des Strandabschnittes dauern die Kämpfe bis zum Abend an. Die Amerikaner verlieren etwa 3.500 Mann, die deutschen Verluste betragen etwa 700 Soldaten.
Allmählich kommt die Flut.
„Gold Beach“
Die Briten gehen um 07.25 Uhr an Land. Die Bomber und Schiffsgeschütze hatten ganze Arbeit geleistet. Dennoch gibt es erbitterten Widerstand. Die britischen Soldaten benötigen den gesamten Tag, die deutschen Stellungen in Le Hamel niederzuringen. Doch sie sind mehr als üppig mit Material ausgestattet. Im Gegensatz zu den Deutschen, die dem nicht viel mehr als ihren Durchhaltewillen entgegenzusetzen haben.
Da die See sehr aufgewühlt ist, bringen die Landungsboote hier die Panzer direkt an Land. Einige der Kampffahrzeuge werden von den Deutschen sofort mit Panzerabwehrgeschossen vernichtet. Doch die anderen dringen vor. Sie erhalten schnell Unterstützung.
Es ergießt sich eine derartige Flut an Material, Panzern, „Crab“-Minenräumfahrzeugen und anderem schweren Gerät an den Strand, dass die deutschen Verteidiger hoffnungslos auf verlorenem Posten stehen. Am deutschen Widerstand vorbei dringen die britischen Verbände gegen Arromanches und Ver-sur-Mer vor.
„Juno Beach“
Der Landeabschnitt ist der 3. kanadischen Division zugeordnet. Die nächtlichen Luftangriffe der Alliierten hatten kaum Schäden hinterlassen. Auch das mörderische Schiffsfeuer hatte nur etwa 15 % der Bunker außer Gefecht setzen können. Da sich die Landung wetterbedingt etwa eine halbe Stunde verzögert, haben die Deutschen nach Ende des Artilleriebeschusses genug Zeit, sich zu formieren.
Sie sind bereit, als die Kanadier kommen. Allerdings sind die Männer der 716. Division nur bedingt kampffähig, viele sind Russland-Veteranen mit behindernden Verletzungen.
Das Wasser ist schwer vermint. Die hohe Dünung erschwert die Landung. Man hat Mühe, die Schwimmpanzer zu Wasser zu lassen und heil an Land zu bringen. Es gelingt nur einigen von ihnen, die Küste zu erreichen, und diese kommen erst nach den Sturmtruppen an Land. Die Infanteristen bleiben bis zu diesem Zeitpunkt ohne Panzerunterstützung und erleiden entsprechend heftige Verluste. Am Ostende des Landeabschnittes ist die See so rau, dass die Infanterie ganz ohne Panzer auskommen muss.
Der deutsche Widerstand ist grimmig und entschlossen. Auch der westliche deutsche Stützpunkt Courseulles-sur-Mer hält sich tapfer. Heftige Gefechte entbrennen. Nach einer Stunde ist die Hälfte der an Land gegangenen Kanadier tot, im deutschen Feuer gefallen. Es ist weniger bekannt – doch das entspricht durchaus der Verlustrate der Amerikaner in Omaha Beach zu diesem Zeitpunkt! Nun allerdings wirken sich die noch kampffähigen Panzer der Kanadier aus. Es gelingt ihnen, die deutschen Verteidigungsstellungen zu durchbrechen. Mit ihrer Hilfe überwinden die Kanadier den Strandwall und fallen den Deutschen nun in den Rücken.
Dennoch wird verbissen weitergekämpft – buchstäblich bis zur letzten Patrone und Handgranate. Die Hauptstreitmacht der Kanadier umgeht allerdings fortan die Widerstandsnester und dringt ins Landesinnere vor.
„Sword Beach“
Es ist der östlichste der fünf Landeabschnitte. Um 06.00 Uhr verlassen die ersten Landungsboote ihre Mutterschiffe. Auch 34 „DD-Tanks“ – Schwimmpanzer – werden zu Wasser gelassen. Die See an diesem Strandabschnitt ist relativ ruhig, sodass das Anlanden der Panzer gelingt. Überwiegend gelingt. Denn zwei der Panzer versinken in den Fluten. Die anderen erreichen das Ufer etwa zeitgleich mit der ersten Welle der Infanterie.
Raketenwerfer der Briten belegen den Strand und seine Befestigungen mit Dauerfeuer fast bis zum Landezeitpunkt der Landungsboote. Es ist 07.25 Uhr. Centaur IV-Panzer und Sexton-Selbstfahrlafetten sind so in den Landungsbooten positioniert, dass sie über den Rand der Rampe hinaus schon bei der Annäherung an den Strand auf erkannte gegnerische Stellungen feuern können.
Bei La Breche empfängt die Briten erbittertes und gut gezieltes Abwehrfeuer. Einige Panzer werden abgeschossen. Doch schon naht die zweite Welle und landet. Als sich die Rampen senken, blicken die Soldaten direkt ins Mündungsfeuer der deutschen Geschütze und Maschinengewehre. Der Kommandeur der 1st South Lancs fällt ebenso wie ein Kompanieführer und sein Stellvertreter. Der Kampf ist hart und mühsam. Es gelingt den Panzern aber, eine der deutschen Artilleriestellungen und Befestigungen nach der anderen zum Schweigen zu bringen. Erst gegen 10.00 Uhr ist es schließlich vollbracht.
Westlich haben es die Briten mit weiteren deutschen Befestigungen zu tun. Der Hauptstützpunkt „Trout“ wird von den Royal Marines angegriffen. Drei „AVRE“-Panzer kommen ihnen zu Hilfe. Alle drei werden von einem deutschen Panzerabwehrgeschütz erledigt.
Trotzdem ist der englische Durchbruch nicht aufzuhalten.
Etwa 700 britische Soldaten sterben.
Wie viele von ihnen den Geschossen aus den Maschinengewehren und Bordkanonen von Oberstleutnant Josef Priller und Unteroffizier Heinz Wodarczyk zum Opfer fallen, ist nicht bekannt.
Die deutsche Luftwaffe
Das erste deutsche Flugzeug, das über der Invasionsflotte erscheint, ist ein Jagdaufklärer der 3./NAGr 13. Leutnant Adalbert Bärwolf staunt nicht schlecht über das, was sich kurz nach Sonnenaufgang seinen Augen darbietet. Das Ausmaß der Todesmaschinerie unter ihm ist ungeheuerlich.
Lille-Nord, 88 Kilometer südöstlich von Calais und knapp 250 Kilometer östlich von Ouistreham. Stabszentrale des Jagdgeschwaders (JG) 26. Wenn man das so nennen kann. Denn das JG 26 wurde erst gestern, am 5. Juni 1944, gegen den erklärten und entschiedenen Einspruch seines Kommandeurs in alle Winde zerstreut, um die wertvollen Maschinen vor den immer gefährlicher werdenden angloamerikanischen Jagdbomberangriffen am Boden vorerst in Sicherheit zu bringen. Die I. Gruppe ist unterwegs in den Raum Reims, die III. Gruppe ist in Nancy, wobei die I. Gruppe bisher abends zurückkehrt und sich frühmorgens aus der Schusslinie bringt. Nun ist beschlossen, sie dauerhaft in Reims zu stationieren.
Die II. Gruppe befindet sich derzeit in Mont-de-Marsan, mitten zwischen Bordeaux und der spanischen Grenze, und in Biarritz. „J.w.d.“ würde der Berliner sagen – „janz weit draußen“. „En Hendrdubbfinga“ (In Hintertupfingen) sagt der Schwabe. Oder ganz einfach „am Arsch der Welt“!
Jedenfalls 800 Kilometer weit südwestlich von Lille. Und 610 Kilometer entfernt von Ouistreham ...
Doch in Ouistreham ist plötzlich die Front.
Sword Beach, genauer gesagt.
Der Kommodore des Jagdgeschwaders 26 hatte diesen vermeintlichen Unsinn zu verhindern versucht. Oberstleutnant Priller ist ein reizbarer Mann, bekannt für seinen Jähzorn. Und auch dafür, selbst Generälen die Meinung zu sagen, wenn ihm der Kragen platzt. Es sei unverantwortlich, im Angesicht der drohenden Invasion sein komplettes Geschwader in alle Himmelsrichtungen zu verteilen, statt es da zu lassen, wo es voraussichtlich bald gebraucht werde – an der Kanalküste! Priller hatte getobt gestern. Es war ein Wutausbruch der allerersten Sahne, echter Prillerscher Art! „Das ist doch Wahnsinn!“ hatte Priller ins Telefon geschrien, „Wenn wir mit einer Invasion rechnen, dann sollten die Staffeln vorgezogen werden, nicht zurück! Und was passiert, wenn der Angriff während der Verlegung anfängt? Mein Nachschub kann nicht vor morgen oder übermorgen in den neuen Stützpunkten sein! Ihr seid doch alle verrückt!“ Als popliger Geschwaderkommandeur überblicke er ja wohl nicht die Gesamtlage, wurde er brüsk zurechtgewiesen. Außerdem komme bei dem schlechten Wetter eine Invasion doch gar nicht infrage!
Priller hatte den Hörer auf die Gabel geknallt und dann seinen Kameraden Wodarczyk angesehen, den einzigen Piloten, der ihm von seinem gesamten Geschwader noch geblieben war. Dann hatte er eine Flasche Kognak angesehen. „Was können wir d‘ran ändern? Wenn die Invasion kommt, verlangen die wahrscheinlich von uns, dass wir sie ganz alleine aufhalten! Da fangen wir besser jetzt schon an, uns zu besaufen!“ Gegen 01.00 Uhr nachts war die Flasche leer. Ob Priller das dann auch noch gesehen hat, ist nicht überliefert.
Und nun, am nächsten Morgen in aller Herrgottsfrühe, läutet das Telefon. Heute ist der 6. Juni 1944. Geschwaderkommodore Oberstleutnant Priller meldet sich verschlafen. „Priller,“ hört er eine aufgeregte Stimme am anderen Ende „es sieht danach aus, als ob so etwas wie eine Invasion im Gange ist! Ich schlage vor, Sie machen Ihr Geschwader startklar!“ Am Telefon ist der Ia-Offizier des zuständigen Jagdkommandos II.
Priller hat Mühe, wach zu werden. Wie bitte, hatte er da gerade richtig gehört? Die Invasion? Na, bestens! Genau so hatte er sich das vorgestellt! Priller sieht zuallererst mal die dringende Notwendigkeit, seinen Gegenüber in allen Einzelheiten darüber aufzuklären, was er, Priller, vom gesamten Oberkommando der deutschen Luftwaffe im Allgemeinen und vom Jagdkommando II in Frankreich im Speziellen so hält. Die farbenfrohen Formulierungen des Geschwaderkommodore sind alles andere als druckreif, wie er später selber eingestehen muss. „Wen, verdammt noch mal, soll ich denn wohl startklar machen? Ich bin startklar! Wodarczyk ist startklar! Und Ihr Klotzköpfe wisst doch ganz genau, dass ich nur noch lumpige zwei Maschinen habe!“ Priller knallt den Hörer auf die Gabel.
Doch das Telefon bleibt nicht lange stumm. Es ist derselbe Offizier, der sich mühsam beherrscht, als Priller sofort wieder ausrastet. Er gibt Entwarnung. Es sei alles nur eine Falschmeldung gewesen. Priller bleibt die Spucke weg. Doch an Schlaf ist nun nicht mehr zu denken.
Auch dabei sollte es nicht bleiben. Einige Zeit später klingelt der Hörer erneut. Und wieder ist das Jagdkommando II am anderen Ende der Leitung. Namentlich der Ia des Jagdkommandos – ein drittes Mal. „Priller,“ hört es der erstaunte Kommodore aus dem Hörer schallen, „die Invasion hat angefangen! Am besten steigen Sie gleich auf!“
Jetzt platzt dem Kommandeur des Jagdgeschwaders 26, der gestern noch über 71 Jagdflugzeuge vor Ort verfügt hatte, endgültig der Kragen. „Da haben wir den Salat! Ihr verfluchten Blödmänner! *3 Was soll ich denn wohl mit zwei Maschinen ausrichten? Wo sind meine Staffeln? Könnt Ihr die zurückholen, he?“
Der Offizier des Jagdkommandos lässt sich nicht provozieren. „Priller,“ sagt er schließlich, als er zu Wort kommt, „wir wissen noch nicht genau, wo Ihre Staffeln gelandet sind, aber wir werden sie auf den Flugplatz von Poix zurückverlegen. Setzen Sie Ihr gesamtes Bodenpersonal sofort dorthin in Marsch! Inzwischen fliegen Sie selber am besten in den Invasionsraum. Machen Sie’s gut, Priller!“
Nun beherrscht sich auch Priller. So gefasst wie nur möglich erwidert er: „Und hätten Sie wohl auch noch die Güte, mir zu sagen, wo diese Invasion stattfindet?“
„Normandie, Priller! In der Gegend von Caën!“
Es wird sofort veranlasst, dass alle drei Gruppen des JG 26 näher an die Invasionsfront heranzuführen und zum Einsatz zu bringen sind. Priller benötigt etwa eine Stunde, um die entsprechenden Anweisungen zu geben.
Die erste (I.) Gruppe und die dritte (III.) werden telefonisch alarmiert, starten und werden auf die Flugplätze Creil und Cormeilles-en-Vexin (20 Kilometer nordwestlich des Stadtrandes von Paris) dirigiert, um dort die Jäger des Jagdgeschwaders 2 zu verstärken. Die zweite (II.) Gruppe ist bereits seit 05.00 Uhr informiert und seit 07.00 Uhr unterwegs ins Kampfgebiet. Schwieriger ist das Umdirigieren der ohnehin auf der Straße befindlichen Bodenmannschaften mit Tross und aller Ausrüstung. Die fahren nach Stand der Dinge nun in die falsche Richtung! Es gilt jetzt, alles in die Normandie zu schaffen. Doch die Straßen dorthin sind zerstört – und derzeit brandgefährlich! Der „Unsinn“ rächt sich nun.
In Lille ist es 08.00 Uhr *4 morgens am 6. Juni 1944. Priller geht mit seinem Kameraden Wodarczyk zum Start. Über die Aussichten, diesen Einsatz zu überleben, macht sich keiner der beiden irgendwelche Illusionen!
Die beiden Focke-Wulf 190 A-8 starten. Priller fliegt eine modifizierte Maschine, deren äußere Tragflächenkanonen ausgebaut wurden, um den Jäger leichter und damit schneller und wendiger zu machen. Es ist davon auszugehen, dass auch sein Rottenflieger eine derartig gewichtsreduzierte „190“ benutzt. Priller fliegt voraus. Wodarczyk hält sich gemäß Instruktion knapp hinter ihm und folgt.
Die beiden einsamen deutschen Jäger jagen im Tiefstflug über die französische Landschaft nach Westen. Doch die Einsamkeit ist eine sehr einseitige Angelegenheit. Sie bezieht sich derzeit nur auf Maschinen mit einem Balkenkreuz auf Rumpf und Tragflächen. Über ihnen ist die Hölle los, Je näher die beiden deutschen Jagdflugzeuge den Invasionsstränden kommen, desto mehr alliierte Jäger tummeln sich weit über ihnen am Himmel. Ganze Pulks amerikanischer Mustang-Jäger, auch Thunderbolts. Und britische Spitfire. Doch keiner der alliierten Piloten an jenem wolkenverhangenen Himmel bemerkt die zwei grau gefleckten deutschen Jäger wenige Meter über der Erdoberfläche.
Kurz vor Le Havre türmt sich eine Wolkenfront vor Prillers Motorhaube. Der Oberstleutnant zieht hoch und verschwindet in der grauen Wand. Wodarczyk folgt ihm. Als beide Maschinen auf der anderen Seite der Wolkenfront wieder aus der „Suppe“ herausfliegen, bietet sich den zwei deutschen Piloten ein unbeschreibliches Schauspiel.
Vor ihnen liegt die gesamte kolossale alliierte Invasionsflotte.
Und der Landungsabschnitt, den die Briten „Sword Beach“ nennen. Doch das weiß weder Priller noch Wodarczyk. Auch nicht, dass sie beide in den folgenden Minuten in die geschichtliche Unsterblichkeit eingehen würden. Sie rechnen eher mit profaner Sterblichkeit, alle beide. Aber wenn schon, dann wenigstens mit Pauken und Trompeten.
Unter ihnen am Landestrand wird hart gekämpft. Priller ruft seinem Rottenflieger per Funk zu, er solle dicht an ihm dran bleiben. „Tolle Sache – ganz tolle Sache! Da unten ist alles zu haben, wo man nur hinsieht! Glaub` mir – das ist die Invasion!“ Priller holt staunend Luft. Dann gibt er den Befehl zum Angriff. „Wodarczyk, wir gehen ‘ran! Mach’s gut!“
Mit diesen Worten kippt der Oberstleutnant seine Focke-Wulf ab und rast mit 650 km/h auf den Strandabschnitt zu. In weniger als 50 Meter Höhe fängt er sein Jagdflugzeug ab und jagt aus allen Rohren feuernd über den Strand.
Die britischen Soldaten hechten zu Boden, als die Geschosse rings um sie herum einschlagen. Nun wacht die Schiffs-Flak auf. Deren Geschütze decken die beiden deutschen Jagdflugzeuge mit einem Geschosshagel ohne Beispiel ein. Doch vergebens. Vorne weg fliegt Priller, hinter ihm rast Wodarczyk über den Sandstrand und schießt aus allen Waffen. Dann endlich zieht Priller hoch. Wie durch ein Wunder hat kein einziges Flak-Geschoss eine der beiden Focke-Wulf getroffen. Und – noch erstaunlicher – kein britisches oder amerikanisches Jagdflugzeug ist zu sehen.
Als diese endlich eintreffen, sind die zwei Focke-Wulf in eine ähnlich dichte Wolkenwand hinein verschwunden wie die, aus der sie so plötzlich aufgetaucht waren.
„Das also ist der größte Augenblick in der Geschichte der Luftwaffe“. Prillers Sarkasmus geht ätzend über den Funkverkehr. Doch sie hatten überlebt.
Der britische Oberheizer Robert Dowie auf der HMS „Dunbar“ soll angesichts der dreisten Showeinlage dieser beiden deutschen Jagdflugzeugpiloten ungläubig den Kopf geschüttelt und dann gesagt haben: „Deutscher hin, Deutscher her, viel Glück wünsch` ich Euch – Ihr Kerle habt Schneid!“.
Die beiden „Kerle“ landen heil und sicher. Aber schweißgebadet.
Sie mögen nach Leutnant Bärwolf die ersten deutschen Piloten über dem Kampfgebiet gewesen sein. Die Einzigen heute sind sie nicht. Doch es ist der berühmteste Tiefangriff über den Landestränden.
Nahe am Frontgebiet der Normandie ist das zweite in Frankreich vertretene deutsche Jagdgeschwader, Major Kurt Bühligens Jagdgeschwader 2, stationiert. Allerdings befindet sich auch eine seiner drei Gruppen, die III. Gruppe, gerade in der Phase der Verlegung. Sie ist nach Fontenay-Le-Comte nördlich von La Rochelle unterwegs, während die II. Gruppe gar in Gütersloh in Deutschland zur Auffrischung ist. Seit Jahresanfang hatte sie über 50 Piloten verloren – es ist dringend Ersatz notwendig.
Die am schnellsten in die Nähe der Invasionsstrände gebrachte Gruppe des JG 2 ist die I. Gruppe unter Major Erich Hohagen. Zumindest nach ihrer hastigen Verlegung in den ersten Morgenstunden vom Raum Nancy aus nach Creil. Auch die III. Gruppe, welche trotz Verlegung zum Einsatz kommt, greift ab Mittag in die Kämpfe ein. Ihr Gruppenkommandeur Hauptmann Herbert Huppertz wird heute sogar über sich hinauswachsen! Auch die I., II. und III. Gruppe des JG 26 starten am 6. Juni 1944 trotz der Rücknahme ins Hinterland ab der Mittagszeit doch noch gegen die alliierte Luftarmada.
Am Boden gibt es zunächst Anlass zur Hoffnung. Die 21. deutsche Panzerdivision schafft es, die britischen Truppen bei Caën („Sword-Beach“) in Bedrängnis zu bringen. Doch letztlich kann der deutsche Gegenangriff, auch unter Einsatz britischer Hawker „Typhoon“-Jagdbomber, von den Briten zum Stehen gebracht werden. Allerdings entsteht eine für die Alliierten gefährliche Situation, als es dem deutschen Panzergrenadierbataillon 192 gelingt, einen Keil zwischen die kanadische 3. und britische 3. Division zu treiben und zwischen den Abschnitten „Juno“ und „Sword“ die Küste zu erreichen. Der Erfolg der Invasion steht auf des Messers Schneide. Ein weiteres Vordringen, das schnelle und zielgerichtete Ausnutzen dieses taktischen Vorteiles hätte jetzt nur durch die allerdings bei Tage sehr riskante Zuführung weiterer deutscher Panzerkräfte erfolgen können. Trotz allem Risiko eine militärisch zwingende Chance! Die Panzerdivisionen stehen von Rundstedt zur Verfügung. Theoretisch. Doch deren Einsatzbefehl hat sich der Führer persönlich vorbehalten. Und der Führer schläft.
Als er aufwacht, glaubt er an ein Ablenkungsmanöver. Die Hauptinvasion stünde noch bevor – am Pas de Calais, wie erwartet. Daher verbietet er die Heranführung weiterer Truppenteile in die Normandie aus dem Bereich der 15. Armee. Und den Einsatz der Panzerreserve. Bis es hoffnungslos zu spät ist. Hitler zögert selbst noch am 8. Juni 1944! Die Finte der britischen Doppelagenten zahlt sich aus.
Gegen Abend erscheint Erwin Rommel wieder in La Roche-Guyon. Die Unterredung mit Hitler hat er abgesagt. Wozu auch jetzt noch? Der Feind war nicht am Strand vernichtet worden. Er hatte bereits 150.000 Mann an Land gebracht, nun Brückenköpfe installiert und war dabei, diese zu sichern. Rommel weiß, was dies bedeutet. Er war die ganze Zeit stumm zusammen mit seinem Fahrer und dem Ordonanzoffizier, Hauptmann Lang, im Wagen gesessen. Dann hatte er einen Satz gesagt: „Ich hab’ die ganze Zeit Recht gehabt – die ganze Zeit!“ An diesem Abend des ersten Invasionstages haben die alliierten Truppen etwa 9.000 Gefallene zu beklagen. Man hatte in England mit mehr gerechnet ...
Ach ja – und die deutsche Luftwaffe? Sie hat am Ende des ersten Tages der Invasion stolze 170 Einsätze gegen die alliierten Luftstreitkräfte geflogen. Die Piloten der Gegenseite hatten es zum Vergleich auf gerade mal läppische 14.000 Einsatzflüge gebracht! Man könnte Prillers Sarkasmus verstehen!
Leutnant Wolfgang Fischer von der 3. Staffel des JG 2 berichtet über seine Erlebnisse am Invasionstag. Bereits die Zeit kurz zuvor ist aufschlussreich – sein Bericht lautet, in die Erzählform Präsens transferiert (die Zeitangaben sind aus deutscher Sicht angegeben):
„Freitag, 3.6.1944:
An diesem Tag wird unsere I. Gruppe noch weiter ins Landesinnere zurückgenommen, nämlich nach Nancy/Lothringen und Umgebung. Die 1. und 3. Staffel landen auf dem Plateau über der Stadt. Dort bleiben wir das ganze Wochenende tatenlos liegen, was für mich recht angenehm ist, denn Nancy kenne ich von meiner Zeit 1943 auf der Jagdschule JG 107 sehr gut. Heute erkläre ich mir diese Rückverlegung so, dass man den Zeitpunkt und Ort der ‚Invasion’ gekannt hat und die Jagdgruppen vor dem erwarteten Luftschlag in Sicherheit bringen wollte. ‚Die deutsche militärische Abwehr’ unter Admiral Canaris hatte nämlich bei der Gegenseite unter Einsatz von einem Heer von ‚V-Leuten’ erfolgreich Spionage betrieben. Sein Mitarbeiter, Oberstleutnant Oskar Reile, damals ‚Kommandeur Frontaufklärung West’ schreibt in seinem authentischen Dokumentarbericht ‚Der deutsche Geheimdienst im II. Weltkrieg – Westfront’ Folgendes:
‚Seite 351: ‚...Die zuständigen Offiziere im Stab des Oberbefehlshabers West (Feldmarschall Rommel, d. V.) und in den Frontaufklärungstruppen West waren zwar seit Beginn des Jahres 1944 auf Grund der Erkundungsergebnisse der festen Überzeugung, dass der Hauptstoß der Invasion in der Normandie zu erwarten sei, doch ließen sich Hitler und seine Berater von den diesen Offizieren vorliegenden Argumenten nicht überzeugen. Der ‚Führer’ vertraute lieber seinem ‚unfehlbaren Feldherrngenie’ und den Meldungen zahlreicher Dienststellen des RSHA (Reichssicherheitshauptamtes, d. V.) und der Nationalsozialistischen Partei. [...] Es wurde im Stab des OB West nie beharrlich angenommen, dass der Hauptstoß der Invasion am Pas de Calais und nicht in der Normandie erfolgen werde, dagegen wurde diese Idee wiederholt vom OKW/Wehrmachtführungsstab vertreten. Begründung: schmalste Stelle des Kanals ...!’
‚Seite 348: ‚Am 1. Juni 1944 gegen 18.00 Uhr stürzten die mit dem Abhören des BBC-Senders beauftragten Soldaten herbei und meldeten mir, dass soeben 26 der Sprüche durchgegeben worden seien, die für die in Betracht kommenden Einheiten der Résistance und der SOE-Gruppen bedeuten: Höchste Alarmbereitschaft! Die Invasion kann jeden Augenblick beginnen.
Noch am gleichen Abend unterrichtete ich fernmündlich und per Fernschreiben den Oberbefehlshaber West ... [...] Schließlich empfanden wir es als eine Erlösung, als von BBC am 5. Juni gegen 18.00 Uhr die von uns erwarteten Sprüche durchgegeben wurden, die für die Empfänger in den Résistance-und Agentengruppen bedeuteten: Die Invasion beginnt, geht sofort an die Durchführung der Euch für den Tag X übertragenen Aufgaben! Sofort meldete ich den Sachverhalt fernmündlich an die in Betracht kommenden Führungsstäbe ...’ “
6. Juni 1944
Flugzeugtyp: |
Focke-Wulf 190 A-8 |
Nationalität: |
Luftwaffe |
Einheit: |
Stab/JG 26 und 4. Staffel/JG 26 |
Piloten: |
Oberstleutnant Josef „Pips“ Priller (vorne) und Unteroffizier Heinz Wodarczyk (hinten) |
Stationierung: |
Lille-Nord/Frankreich/6. Juni 1944 |
Das von „Pips“ Priller am 6. Juni 1944 benutzte Flugzeug trägt seine traditionelle schwarze Nummer Das Foto entstand in den Tagen um die Invasion herum. Doch die Nr. 13 ist nicht die offizielle Markierung für einen Geschwaderkommodore. Dass es früher ein regulär markiertes Flugzeug gab, beweist das Foto unten links.
Am 5. Februar des Jahres 1944 besucht der Oberbefehlshaber der Heeresgruppe B, Erwin Rommel, das JG 26. Im Vordergrund ist Oberstleutnant Prillers Focke-Wulf 190 zu erkennen, damals noch vom Typ A-6 mit der Werknummer 530120. Diese Maschine trägt noch die reguläre Kommandeurskennung . Die Werknummer ist auf der rechten Leitwerkseite mit 0120 abgekürzt, links jedoch vollständig angebracht. Ebenso ist der stilisierte Adlerflügel (der schwarze Zacken unter der Motorhaube) asymmetrisch: Er ist rechts kürzer als links.
Oberstleutnant Priller, Feldwebel Schmidtke, Unteroffizier Wodarczyk, Unteroffizier Grad. Man bemerke die gut getarnte Focke-Wulf 190 hinter den Männern.
Prillers „schwarze 13“ „ Jutta“
mit Zusatztank.
Josef Priller vor einem Einsatz in seiner früheren Focke-Wulf 190 A-6 mit der Werknummer 530120. Hier ist die rechte Heckseite zu sehen, welche nur die Zahlen 0120, diese dafür in größerer Schrift zeigt, während die Nummer auf der anderen Seite vollständig ist.
Von diesen Männern ist bei Kriegsende nur noch einer am Leben. Es ist der eher kleinwüchsige Mann mit der Pfeife links außen und dem Spitznamen ‚Pips’! Die „Unterredung“ scheint eine Art Rapport zu sein – Priller sieht nicht gerade sehr zufrieden aus!
Zwei andere Jagdfliegerasse im Gespräch: Oberst Walter Oesau (links) und Maior Heinz Bär (rechts) im April des Jahres 1944 in Störmede. Walter Oesau ist Geschwaderkommodore des JG 1, Heinz Bär wird wenig später am 1. Juni 1944 zum Kommodore des JG 3 ernannt.
Leutnant Fischer schreibt weiter:
„Montag, 6. Juni 1944:
Morgens etwa um 05.00 Uhr fährt ein Kradmelder an meinem Hotel vor, brüllt meinen Namen und „Invasion!“ – und fährt mich zum Plateau hinauf, wo wir durch kniehohes Gras zum Platz Creil starten (circa 40 Kilometer nördlich von Paris) Dort werden unsere Maschinen mit Bordraketen „BR 21“ ausgerüstet [...].
Während der zwei Stunden Wartezeit für die Montage überlege ich, wie man wohl mit diesen Dingern etwas treffen könnte (‚gearbeitet’ hatte ich nämlich noch nie damit). Wir nennen sie ‚Dödls’ – das war ein Sammelbegriff für alles Mögliche (auch das Ritterkreuz z.B. ist so genannt worden). Die Zielanweisung lautet nämlich schlicht und ergreifend:
‚Auf 1.000 Meter Entfernung 80 Meter links vorhalten.’ Zur Stabilisierung der Flugbahn treten die Treibgase aus 24 schräg in den Raketenboden gebohrten Löchern aus, sodass sie einen Rechtsdrall bekommen und nach rechts abdriften. Gegen kleine, punktförmige Ziele sind sie daher ungeeignet. Gegen Schiffe allerdings mit ihrer großen Längenausdehnung, so kalkuliere ich, müsste man eine reelle Chance haben. Nun ist unsere [...] Zieleinrichtung (‚Revi’ = Reflexvisier) so konstruiert, dass sie ein Luftbild eines Kreises vor die Augen projiziert, dessen Durchmesser 1/10 der Entfernung zum jeweiligen Zielobjekt simuliert, d. h. wenn z. B. eine Jagdmaschine mit der üblichen Spannweite von 10 Metern den Kreis gerade ausfüllt, sitzt man 100 Meter hinter ihr. So könnte ich mit genügender Genauigkeit den Abstand zu einem Schiff und das notwendige Vorhaltemaß ermitteln, um beim Angriff von der Breitseite einen Treffer anbringen zu können – wenn man uns informieren würde, wie lang diese verdammten Kähne eigentlich sind. So nehme ich als unbedarfter Luftkutscher für die verschiedenen Typen bestimmte Längen an, z. B. für einen Truppentransporter 100 Meter. Um 09.30 Uhr starten wir dann mit zwölf Maschinen (Fw 190 AS) unseren 1. Einsatz an die Invasionsfront im Bereich des britischen Abschnitts ‚Gold’ an der Küste des Dorfes Vers sur Mer. Hohagen fliegt diesen Einsatz noch nicht mit, an seiner Stelle führt Hauptmann Wurmheller den Verband. Der Himmel ist zu diesem Zeitpunkt mit dicken Kumuluswolken zu 7/10 bedeckt, dazwischen sichten wir immer wieder Schwärme von alliierten Jägern, mit denen wir uns aber nicht einlassen sollen, um erst mal unsere Raketen gegen Schiffsziele einzusetzen. Etwa um 10.00 Uhr überfliegen wir Bayeux, in dem ich bereits Brände feststellen kann, fliegen geschickterweise erst mal in circa 3.000 Meter ein Stück auf die Seinebucht hinaus und greifen dann von See her an, wodurch wir die Schiffsflak täuschen können, denn wir bleiben zunächst unbehelligt.
Das entscheidende Handicap für uns ist, dass wir wegen des dichten Jagdschutzes über dem Landekopf nicht genügend Zeit haben, günstige Positionen einzunehmen, um Schiffe von der Breitseite anzufliegen. Aus unserer Flughöhe kann ich den ganzen Küstenstreifen von der Ornemündung bei Caën bis hinauf nach St. Maire-Eglise überblicken, vor dem eine tief gestaffelte Armada von Schlachtschiffen weit draußen, Transportschiffen näher zum Land und kleine Landungsboote, die mit Heckwellen zum Strand unterwegs sind. Über den küstennahen Einheiten hängen dicke, dunkle Sperrballons in der Luft. Da ich keinen Vergleichsmaßstab für ähnliche Operationen habe, nehme ich diese grandiose Szenerie zunächst ohne große Gefühlsregungen hin, wenn mich auch im Unterbewusstsein eine Ahnung befällt, dass dieses alles nicht mehr zu beherrschen ist.
Focke-Wulf 190 A-8 mit Werfer-Raketen „Bordrakete“ BR-21 (21 cm).
Ich habe aber als Einziger das Glück, einen größeren Kahn (sieht aus wie ein Truppentransporter der Victory- oder Liberty-Klasse – ca. 8.000 Tonnen – von denen ich schon mal ganz vage gehört hatte) direkt in meiner Anflugrichtung breitseitig anzutreffen. Ich drücke an und ziele eine halbe Schiffslänge vor den Bug, registriere aber nicht gleich, dass sich der Kahn langsam nach links und dann auch noch in einer leichten Linkskurve bewegt. Ich korrigiere also noch schnell bei reduzierter Fahrt (um nicht unter die 1.000-Meter-Grenze zu kommen) auf eine ganze Schiffslänge nach links auf vier Zentimeter mutmaßlichen Kurs des Schiffes, warte, bis es nach meiner Schätzung den Durchmesser des Revis ausfüllt (damit bin ich circa 1.000 Meter entfernt), löse die Raketen aus und sehe mich für den Bruchteil einer Sekunde von einem mächtigen Feuerschein umgeben, begleitet von dem Geheul einer Horde von Teufeln. Gleichzeitig macht die Maschine wegen der plötzlichen Entlastung einen Sprung nach oben. Alles zusammen lässt mich zunächst vor Schreck erstarren, aber das ist schnell vorbei, als der Flieger ruhig und sicher weiterfliegt. Ich verfolge dann die beiden Lichtpunkte auf ihrem Flug nach unten und kann feststellen, dass der linke im Heck des Schiffes in einer Explosionswolke verschwindet, während der rechte knapp hinter dem Schiff in einer Wasserfontäne verlischt.
Anschließend werfe ich die beiden Kartuschen ab und steuere wegen des anschwellenden Flak-Feuers mit zunehmender Fahrt im Sinkflug auf die Küste zu, wobei ich mit allen Bordwaffen die Strandlinie unter Feuer nehme und Kurs auf den ‚Gartenzaun’ [Anmerkung: damit ist der Heimat-Flugplatz ge meint] nehme. Längeres Verweilen über dem Landekopf ist wegen des dichten alliierten Jagdschutzes nicht möglich. ‚Gartenzaun’ erfolgt dann ca. 10.45 Uhr, aber nicht in Creil, sondern auf der Pferderennbahn von Senlis, an der ein kleines Landschloss liegt, in dem wir untergebracht werden. Der Treffer wird mir von meinem Kameraden Leutnant Walterscheidt bestätigt. Der Kommandeur spricht mir seine Anerkennung aus.
Seltsamerweise gibt es bis zum Abend für die ganze I. Gruppe keinen Einsatz mehr, lediglich der Kommodore fliegt mit seinem Stabsschwarm am Nachmittag einen Einsatz zum Landekopf und schießt dabei eine P-47 ‚Thunderbolt’ ab [Anmerkung: gemeint ist Major Hohagen, es handelt sich allerdings bei der ‚P-47’ um eine Typhoon] während alle Flugzeugführer sogar die Erlaubnis zum Verlassen des Platzes bekommen. Nachdem der Tag sehr warm geworden ist, nutze ich die Gelegenheit, mit einigen Kameraden das öffentliche Schwimmbad zu besuchen, wo wir unter der Bevölkerung im Wasser herumplanschen und uns von der Sonne bescheinen lassen, während eine einsame P-51 ‚Mustang’ in aller Ruhe in circa 2.000 Meter Höhe über der Stadt herumkurvt, aber unsere abgestellten Maschinen glücklicherweise nicht ortet, denn es erfolgt kein Luftangriff auf unsere ‚Rennbahn’, wie wir unseren Platz genannt hatten. Eine fürwahr groteske Situation!
Erst am Abend tut sich wieder etwas, als um circa 19.30 Uhr der Kommandeur der III. Gruppe, Hauptmann Huppertz, mit fünf Focke-Wulf 190 A-8 bei uns landet und mich mit noch zwei Kameraden (Leutnant Eichhoff und Oberfähnrich Beer) zu einem Einsatz gegen Luftlandeeinheiten im Raum von Caën mitnimmt. Wir starten um circa 20.00 Uhr und fliegen in etwa 400 Meter über Grund ziemlich genau nach Westen. Auf Höhe von Evreux aber sichten wir zwölf P-51, die in Reihe eine Wehrmachtskolonne in Tiefangriffen bekämpfen. Damit ist das vorgesehene Einsatzziel nicht mehr erreichbar, denn wir müssen nun vordringlich die marschierende Kolonne schützen und die Zusatztanks abwerfen. Die ‚Mustangs’ sind so sehr in ihre ‚Arbeit’ vertieft, dass sie unsere acht Focke-Wulf 190 nicht bemerken, als wir in ihrem Rücken auf 1.200 Meter steigen und sie dann aus optimaler Position von hinten oben angreifen. Es kann sich buchstäblich jeder von uns während des Aufstiegs in aller Ruhe ‚Seinen’ aussuchen. ‚Meiner’ ist gerade dabei, eine Kolonne auf einer Brücke anzugreifen, als ich mich unbemerkt hinter ihn setze und in seiner hochgezogenen Kehrtkurve voll treffen kann. Wegen unserer Steilkurven muss ich extrem vorhalten und kann deshalb meine Treffer nicht unmittelbar beobachten und fliege deshalb dann auf nächste Nähe an ihn heran. Die Wirkung unserer ‚Munitionierungsmixtur’ ist verheerend! Die Geschosse hatten die Kabine und den Rumpfteil dahinter getroffen, aus dem quadratdezimetergroße Löcher herausgerissen sind, deren Ränder dunkelrot glühen. Der Flugzeugführer sitzt zusammengesunken in seinem Sitz, seine Maschine geht in einen leichten Sinkflug über und zerschellt am Fuß eines Baumes unmittelbar am Flussufer, der sofort wie eine Kerze bis zum Wipfel in Flammen steht.
Der Gesamterfolg ist für unsere derzeitigen Verhältnisse ausgesprochen spektakulär, denn wir haben ohne eigene Verluste acht *5 Abschüsse erzielt. Nach Rückkehr gegen 21.30 Uhr – mit archaischem Triumphgefühl im Bauch – erwartet uns ein Übertragungswagen des Reichsrundfunks zu einem Spontaninterview, von dem jeder von uns drei erfolgreichen Schützen [Anmerkung: gemeint sind vermutlich die drei Piloten der I. Gruppe] eine Schallplatte bekommt [...].
Dienstag, 7. Juni 1944:
An diesem Morgen um 05.30 Uhr startet die I. Gruppe unter Führung des Kommandeurs erneut mit zwanzig Maschinen, um zunächst Schiffsziele wieder im britischen Abschnitt ‚Gold’ anzugreifen und dann das ‚Würzburg’-Funkmessgerät [Anmerkung: Radargerät] am Pointe du Hoc zu zerstören, das in die Hände der Alliierten gefallen war. Bei diesem Einsatz hatte mich der Kommandeur zu seinem Katschmarek [Anmerkung: Rottenflieger] bestellt. Um circa 06.00 Uhr überfliegen wir den Landekopf, können aber in der Kürze der uns zur ‚Verfügung’ stehenden ‚ungestörten’ Zeit keine günstigen Positionen einnehmen und schießen unsere Raketen zu ungenau ab, sodass keine Treffer erzielt werden können. Dann begehe ich eine disziplinlose Eigenmächtigkeit, für die ich – wenn ich zurückgekommen wäre – einen schweren Rüffel hätte einstecken müssen. Ich verlasse nämlich meine taktische Position als Katschmarek, um in relativ steilem Tiefangriff eines der großen 2.000-Tonnen-Landungsboote anzugreifen, das gerade so schön in meiner Flugrichtung liegt, aus dessen aufgeklapptem Heck Infanterie ausgebootet wird. Ich will freilich nach diesem Angriff wieder hochziehen und meine Position einnehmen, aber ich gerate in unheimlich dichtes Feuer der leichten Flak aller ringsum liegenden Schiffe (vom angegriffenen kommt allerdings während meines Anflugs keine Abwehr), sodass ich den Eindruck habe, in ein glühendes Spinnennetz zu tauchen. Für circa 6–8 Sekunden kann ich mit allen Bordwaffen den Kahn von vorne bis hinten bestreuen. Aber kurz vor dem Abfangen knapp über dem Boot höre ich Treffer hinten im Rumpf und dann vorne im Motor, der sofort Öl verliert und die Kabinenscheiben dicht macht. Damit ist es vorbei!
Ich kann die Maschine noch auf 400 Meter hochziehen und springe dann – noch über See – mit dem Fallschirm ab. Dabei schlage ich glücklicherweise mit der linken Schulter gegen das Seitenleitwerk, sodass ich mit der rechten Hand noch den Fallschirm ziehen kann. Ich treibe sanft auf die Küste zu, wobei ich gegen die Regeln des Kriegsrechts von einer leichten Flak des von mir angegriffenen Landungsbootes be schossen werde. Ich habe das Gefühl – wie wir zu sagen pflegen – wie ‚Weihnachten und Ostern zusammen’. Dummerweise lande ich dann auch noch in einem deutschen Minenfeld circa 200 Meter neben dem besetzten Strandabschnitt. Zwei mit ihren typischen flachen Stahlhelmen ‚behütete’ Tommies holen mich – mit Stöckchen vorsichtig den Schilfboden Schritt für Schritt abtastend – aus dem Minenfeld heraus und bringen mich zum Verbandsplatz, bestehend aus einem kleinen Zelt, wo man zunächst mein gebrochenes Schulterblatt, Schlüsselbein, Oberarm und drei Rippen provisorisch ärztlich versorgt. Ich muss sagen, dass ich ausgesprochen kameradschaftlich behandelt werde, so gibt man mir Zigaretten und heißen Kakao und eine warme Decke, auf der ich mich bis zum Abtransport ausstrecken kann.
Übrigens war ich bis dahin Nichtraucher und bin ab da unter der nervlichen Anspannung zum ziemlich schweren Raucher geworden. Ich frage mich überhaupt heute, ob wir damals nicht Nerven ‚wie Drahtseile’ hatten, denn Schockzustände, die wie heute nach Unfällen psychologisch behandelt werden müssen, sind mir nicht in Erinnerung!“ *6
Am Mittag des „längsten Tages“ weiß Leutnant Fischer noch nicht, dass er morgen britische Gastfreundschaft in Anspruch nehmen würde. Es ist ein Tag voller offener Fragen. Wird es gelingen? Werden unsere Kalkulationen aufgehen? Können wir die Deutschen schlagen, oder hat der ehemalige „Wüstenfuchs“ irgendwelche „Asse im Ärmel“, von denen wir nichts wissen? Die Briten und Amerikaner sind angespannt und argwöhnisch. Zuzutrauen wäre es ihm, diesem für seine Cleverness berüchtigten raffinierten Gegenspieler. Doch Rommel ist nicht da, wo man ihn dringend benötigt!
Die Soldaten zu Wasser und am Boden beider Seiten beschäftigt mehr eine profanere Frage. Komme ich durch? Werde ich es überleben? Und in diese Frage mischt sich zunehmend eine weitere – tief erstaunt auf britischer und amerikanischer Seite, enttäuscht und verzweifelt auf Seiten der Deutschen.
Wo um alles in der Welt bleibt die deutsche Luftwaffe?
Es gibt sie nicht. Nicht in der Normandie! Von wenigen respektablen Ausnahmen einmal abgesehen.
Ein bitterer Spruch etabliert sich bei den deutschen Landsern, verbreitet sich allmählich. „Wenn das Flugzeug silbrig ist, dann ist es ein amerikanisches, trägt es Tarnfarben, dann ist es ein britisches, wenn es aber unsichtbar ist – dann ist es ein deutsches ...!“
6. Juni 1944: morgens um 05.00 Uhr (britischer Zeit) befinden sich vier Focke-Wulf 190 G-8-Jagdbomber der 3. Staffel des Schnellkampfgeschwaders 10 (SKG 10) auf einem Aufklärungsflug. Sie klären prompt vier schwere britische Bomber des Typs Avro „Lancaster“ über die Wirkung ihrer Bordkanonen auf. Drei davon schießt der Staffelkapitän der 3. Staffel vom nächtlichen Himmel, Hauptmann Helmut Eberspächer. Genau von 05.01 Uhr bis 05.04 Uhr. Im Morgen-„Grauen“, was nicht nur für die vier Lancaster-Besatzungen doppeldeutig ist. Die vierte Lancaster wird von Feldwebel Eisele heruntergeholt. Es handelt sich um Bomber der 76, 578 und 582 Squadron RAF.
Der nächste deutsche Erfolg an jenem dramatischen Tag ereignet sich erst Stunden später. Genau drei Minuten vor Mittag – um 11.57 Uhr (britischer Zeit) – füllt die charakteristische Silhouette einer amerikanischen P-47 „Thunderbolt“ das Fadenkreuz in der Zieloptik einer Focke-Wulf 190 A-8. Das Augenpaar hinter dem deutschen Reflexvisier gehört zu keinem Geringeren als dem Kommodore des Jagdgeschwaders 2 „Richthofen“, Major Kurt Bühligen. Sein 99. „Luftsieg“ zerschellt nahe der Ornemündung. Kurz nach 12.00 Uhr (britischer Zeit) fallen drei Hawker „Typhoon“ den Bordwaffen angeb licher deutscher „Me 109“ zum Opfer. Tatsächlich handelt es sich um Focke-Wulf 190 der Stabsstaffeln der I. und III. Gruppe des Jagdgeschwaders 2, welche südöstlich von Caën auf Typhoon der 183 Squadron treffen, die gerade dabei sind, eine deutsche Panzerkolonne anzugreifen. Die 183 Squadron wird von Squadron Leader Scarlett geleitet, welcher es auf deutscher Seite mit Hauptmann Herbert Huppertz zu tun bekommt, dem Gruppenkommandeur der III. Gruppe. Huppertz holt nacheinander zwei der drei abgeschossenen Typhoon vom Himmel. Deren Piloten Flight Lieutenant R.W. Evans (Seriennummer: MN342), Flying Officer M. H. Gee (MN478) und Flying Officer A.R. Taylor (, R8973) verlieren allesamt ihr Leben. Evans ist Flight Commander und ein erfahrener Pilot. Es nützt ihm nichts. Die Abschussmeldungen des deutschen Hauptmanns datieren um 12.14 Uhr und 12.15 Uhr.
Eine Hawker „Typhoon“ IB der N° 198 Squadron Royal Air Force (es handelt sich um die Maschine von Flight Sergeant J.S. Fraser-Petherbridge). Die schweren Kanonen, Bomben und Raketen der Typhoons werden zur Geisel der motorisierten deutschen Truppen am Boden wie früher die deutschen Ju 87 „Stukas“ für die Einheiten des Gegners. Keine Bewegung am Tage ist mehr sicher.
Die dritte Typhoon, welche am 6. Juni 1944 gegen Mittag von der 183 Squadron als Verlust anerkannt ist, wird dem deutschen Gefreiten Fieseler (III./JG 2) zugeschrieben, welcher um 12.10 Uhr (britischer Zeit) bei Argentan (gute 50 Kilometer südsüdöstlich von Caën) die Vernichtung einer Typhoon angibt, oder aber Oberfeldwebel Hartmann (I./JG 2), der einen gleichartigen Erfolg um 12.15 Uhr (britischer Zeit) 20 Kilometer südlich von Caën für sich in Anspruch nimmt. Es werden somit vier der Hawker-Jagdbomber als abgeschossen gemeldet bei drei von der Royal Air Force um diese Uhrzeit tatsächlich eingeräumten Verlusten dieses Flugzeugtyps. Um 12.16 Uhr ergänzt Unteroffizier Nistler (I./JG 2) die Erfolgsbilanz des Geschwaders um eine amerikanische P-47 „Thunderbolt“ – ebenfalls bei Caën. Alle diese Abschüsse sind innerhalb der deutschen Anerkennungsverfahren bestätigt.
Kein schlechter Auftakt für die Luftwaffe! Ganz so einseitig ist die Angelegenheit allerdings nicht! Nicht genug damit, dass Unteroffizier Franz Thiel aus der 3./JG 2 nach deutschen Angaben durch einen Flugunfall bei der Überführung ums Leben kommt (einige alliierte Quellen sehen feindliche Geschosse am Werk ...), Unteroffizier Bergmann (11./JG 2) kommt gar den Kanonieren der eigenen Flak-Einheiten südlich von Rouen zu nahe. Die deutsche Flak schießt routiniert, präzise, zielsicher, eine Spur zu schnell – und wieder einmal tödlich. Dummerweise hat sie den „Falschen“ erwischt. Wer rechnet auch hier mit einem eigenen Jagdflugzeug!? Seit Stunden, ja Tagen nur Amis und Tommies über uns, Mensch! Wo, zum Teufel, kommt ihr denn her? Wird auch Zeit, verflucht und zugenäht!
Dagegen wird der Absturz einer weiteren Focke-Wulf 190 der III./ JG 2 schon eher „Feindeinwirkung“ zugeschrieben – genau bekannt ist es nicht. Unteroffizier Krieger entkommt unverletzt mit dem Fallschirm in der Nähe von Buc bei Versailles. Und ein „Feldwebel Müller“ der 12./JG 2taucht in den Vermisstenlisten auf, ohne dass sich irgendein näherer Anhalt über die genauen Umstände seines Verschwindens finden ließe. Vermutlich wird er ohne Zeugen abgeschossen.
Auch das Jagdgeschwader 26 fasst allmählich Tritt. Die I./JG 26 trifft am späten Vormittag in Creil ein. Die Piloten starten von dort zu einigen Einsätzen in kleineren Gruppen, teilweise zusammen mit ihren Kameraden vom JG 2. Im Gegensatz zu den Flugzeugführern des „Richthofen“-Geschwaders JG 2 erringen die Männer des JG 26 „Schlageter“ jedoch keine Abschüsse – im Gegenteil. Unteroffizier Friedrich Schneider aus der 2./JG 26 macht unliebsame Bekanntschaft mit den Flugabwehrprojektilen der alliierten Schiffsgeschütze und muss in Beaumonte-le-Roger notlanden – er bleibt dabei zum Glück unverletzt. Ähnlich Fähnrich Gerhard Schulwitz, 3. Staffel des JG 26 (, Werknummer 170335) – er kommt leicht verletzt davon. Nicht so sein Staffelkamerad Unteroffizier Heinz Winter. Auch er macht Bekanntschaft mit Flugabwehrgeschossen. Nur schießen die Richtschützen derjenigen Kanonen, aus denen diese Granaten stammen, besser als ihre alliierten Kollegen zuvor. Es sind deutsche Kanoniere! Und Winter stirbt in seiner
(Werknummer 730466). Es ist zum Heulen!
Die II. Gruppe des JG 26 hat einen weiten Weg ins Kampfgebiet. Die sechzehn einsatzfähigen Focke-Wulf starten in Südfrankreich in Mont-de-Marsan und an der Atlantikküste in Biarritz fast an der Grenze zu Spanien. Seit 05.00 Uhr informiert heben die Jägerpiloten schließlich gegen 07.00 Uhr ab. Dabei gerät Leutnant Hans Bleich in den Luftwirbel der Propeller des vor ihm startenden Oberleutnant Adolf „Addi“ Glunz und verliert die Kontrolle über sein startendes Fluggerät. Das Nächste, was ihn stoppt, sind Bäume. Nur das beherzte sofortige Eingreifen der Platzschutzmannschaften verhindert schwerere Verbrennungen! Bleich kommt – leicht verletzt – aus seinem zerschundenen Jäger heraus.
Somit verbleiben für den bevorstehenden Kampfeinsatz nur noch 15 Jagdflugzeuge.
In „Vrox“ (Vraux?) erfolgt eine Zwischenlandung und das Abwarten weiterer Befehle. Dann geht es weiter an die Front. Der Verband teilt sich. Acht Focke-Wulf 190 A-8 fliegen unter der Leitung von Addi Glunz in Richtung Cormeilles im Nordwesten von Paris, landen dort nach einem angemessen herzlichen Empfang durch die 8th USAAF (328th Fighter Squadron der 352nd Fighter Group) über Rouen, tanken wieder auf und fliegen erst am Abend weiter zum Zielflughafen Guyancourt (15 Kilometer südwestlich von Paris). Da waren’ s nur noch sieben. Dort kommen sie gegen 17.00 Uhr an. Die übrigen Maschinen der II./JG 26 fliegen direkt nach Guyancourt, können von dort aus aber zunächst keine Einsätze durchführen. Vermutlich liegt dies daran, dass niemand auf dem Flugplatz da ist, der die Maschinen warten und erneut startklar machen könnte! Die Piloten sitzen auf Kohlen! Doch andererseits – wer wird es denn mit dem Heldentod so eilig haben ...? Sie haben es alle eilig! Der Feind ist gelandet!
Die III. Gruppe des JG 26 ist zum Zeitpunkt der Invasion völlig zersplittert. Lupcourt sieben Kilometer südlich Nancy und Toul 20 Kilometer westlich der Stadt sind die Basen der Gruppe, die 10. und 12. Staffel ist gar nach Deutschland geschickt worden. Zu allem Überfluss sind die Bodenmannschaften verstreut überall und nirgends, wie eingangs bereits geschildert wurde. „Pips“ Prillers Temperament lässt grüßen! Viel ist nicht bekannt über die Einsätze der schnittigen Messerschmitt-Jäger dieser Gruppe am Invasionstag.
Nur so viel: gegen 09.30 Uhr ist der in Frankreich verfügbare einsatzfähige Teil der Gruppe in Cormeilles (nordwestlich Paris) eingetroffen. Mindestens ein Einsatz in Richtung Invasionsfront ist dokumentiert, bei welchem die Messerschmitt-Piloten an ihre britischen Erzrivalen geraten: Supermarine Spitfire! Beide Seiten fliegen schnittige, schnelle, faszinierende Jagdflugzeuge auf hohem technischen Niveau. Die Briten mit Mk.IX derzeit bessere! Man bleibt sich nichts schuldig. Weder die Briten noch die Deutschen bekommen einen ihrer Gegner zu fassen, beide Parteien trennen sich ohne Verluste.
Die britischen Uhren der Spitfire-Piloten des 135th Wing RAF zeigen 15.30 Uhr. Es läuft ganz gut inzwischen, soweit man von oben erkennen kann. Die Piloten ziehen ihre Kreise über der gigantischen Schiffsarmada, die es vor der deutschen Luftwaffe zu beschützen gilt. Doch die ist weit und breit nicht zu sehen. Merkwürdig! Man hatte den „Hunnen“ („Huns“ oder „Bandits“ war der britische Jargon für deutsche Jäger) ziemlich heftig zugesetzt, das war wohl unübersehbar. Aber bisher hatten die sich noch immer zu wehren gewusst. Wo sind sie denn heute? Was hat die Bande denn vor?
Die Messerschmitt Bf 109 G-6 des Gruppenkommandeurs der III./JG 26, Major Klaus Mietusch, beim Start gegen die alliierte Übermacht. Bemerkenswert ist das Fehlen des Hakenkreuzes am Heckleitwerk!
Die „Bande“ hat gar nichts vor. Sie tut einfach, was sie kann, und das ist wenig genug. Doch dieses Wenige immerhin tut sie mit einigem Mut. Der manchmal jenseits steht von jeglicher Vernunft.
So im Falle der neun zweimotorigen Junkers Ju 88 C-6 der I./ ZG 1, welche plötzlich ins Blickfeld der Spitfire-Piloten geraten. Die C-6-Variante des deutschen Mittelstreckenbombers hat anstelle des verglasten Buges für den Bombenschützen einen vollverkleideten Bug, in den drei 7,9-mm-MG 17 und eine 20-mm-MG-FF-Kanone starr nach vorne feuernd eingebaut sind. Die Besatzung ist von vier auf drei Mann reduziert, da der Bombenschütze entbehrlich wird. Die Maschinen sind keine Bomber, sondern so genannte schwere „Zerstörer“ und sicher wehrhafter als die viersitzige Bombervariante. Gegen Spitfire haben sie jedoch keine Chance! Das wissen auch die deutschen Besatzungen. Mit welchen Gefühlen mögen sie von ihrem Einsatzflughafen Lorient in der Bretagne am Golf von Biscaya gestartet sein mit dem Auftrag, die Invasionsflotte anzugreifen? Was – und vor allem wer, nämlich Jäger – sie dort erwartet, das muss ihnen klar gewesen sein. Man hätte allenfalls würfeln können, ob die ersten feindlichen Jagdflugzeuge amerikanische Sterne oder britische Kokarden tragen würden.
Die Ju 88 C-6 der 2. Staffel des ZG 1 fliegen ohne Jagdschutz! Die britischen Piloten können es kaum glauben! Sind die lebensmüde?
Sicher nicht. Doch wo soll der Jagdschutz auch herkommen? Zumal gegen diese Übermacht? Es gibt keine deutschen Verbände in der Gegend, deren Flugzeugführer diese Aufgabe übernehmen könnten. Außer vielleicht den Piloten der I. Gruppe des JG 2 bei Senlis in der Nähe von Chamant, die sich derweil im Schwimmbad tummeln. Was vermutlich erheblich gescheiter ist, als einen völlig aussichtslosen Kampf am helllichten Tage zu fechten. Wenn die deutschen Jäger überhaupt heute etwas ausrichten können, dann aus der Position des Überraschungsangriffes – das wäre in der Begleitschutzrolle für die größeren und also gut sichtbaren Ju 88 kaum zu realisieren. Nicht um diese Uhrzeit! Es wäre besser, die Bomberpiloten – bzw. „Zerstörer“-Besatzungen – ebenfalls baden gehen zu lassen – im Pool, nicht im Atlantik, wie es nun passiert – geradezu unvermeidlicherweise einfach geschehen muss!
Junkers Ju 88 C-6 des Kampfgeschwaders 40 (Kennung F8), so genannte „Zerstörer“. Gut erkennbar ist die schwere Bewaffnung im Bug. Zusätzlich zu den drei MGs und der 20-mm-Kanone im Bugkonus befinden sich zwei weitere 20-mm-Kanonen vorne in der Bodenwanne. Bomben können ebenfalls mitgeführt werden.
Die 222 Squadron der Briten sichert nach oben – vielleicht taucht der Jagdschutz irgendwoher doch noch auf? Die 485 Squadron greift als Erste an. Flying Officer J.A. Houlton erledigt die erste Ju 88 – mit 45° Vorhaltewinkel! Das neue Gyro-Zielgerät in seiner Spitfire Mk. IX mit der Produktionsnummer MK 950 und dem Code erweist sich als hervorragend effektiv. Zusammen mit dreien seiner Kameraden nimmt er sich dann die nächste vor. Auch sie ist machtlos gegen vier Spitfire auf einmal!
Nach den Neuseeländern der 485 Squadron RNZAF sind nun die Belgier der 349 Squadron am Zuge. Weitere zwei Ju 88 stürzen brennend ab – allerdings auch eine Spitfire Mk. IX. Sie trägt die Seriennummer MK363 und den Code . Flight Sergeant J.C.I van Molkot wird vom Bordschützen eines der sich verzweifelnd wehrenden zweimotorigen Kampfflugzeuge erwischt und gerät in deutsche Kriegsgefangenschaft. Es grenzt an ein Wunder und spricht sehr für die fliegerischen Fähigkeiten der deutschen Piloten, dass immerhin fünf Ju-88 C-6-„Zerstörer“ entkommen können – und sei es mit Beschuss-Schäden. Eine davon geht noch bei einer Notlandung im Maße 85 % zu Bruch, sodass sich die Abschüsse auf letztlich fünf Ju 88 summieren. Weitere Beschädigungen sind auf deutscher Seite nicht vermerkt, entgegen britischen Angaben. Sieben Besatzungsmitglieder sterben, drei werden verwundet.
So warten die schwer bedrängten deutschen Bodentruppen an der Landungsfront weiter auf Unterstützung aus der Luft – vergeblich. Wenn sie Jagdbomber über sich sehen, sind es britische Typhoons und amerikanische Thunderbolts. Wo um Gottes Willen bleibt denn unsere Luftwaffe?
Ein Focke-Wulf 190 A-8-„Jabo-Rei“, wie er von der NSGr 20 geflogen wird. Die A-7-Variante der III./SG 4 unterscheidet sich vor allem durch ein weiter innen liegendes Staurohr an der rechten Tragfläche und eine 20 cm weiter hinten als bei der A-8 positionierte Aufhängung für die Bombe unter dem Rumpf. Die G-8 und F-8 haben andere Tragflächenhalter.
Sie bemüht sich. Nur drei Erdkampfunterstützungseinheiten sind überhaupt in erreichbarer Nähe. Die eine ist eine Schulungseinheit – das SG 103. Die zweite ist die I./SKG 10. Die dritte Einheit ist die III. Gruppe des Schlachtgeschwaders 4 mit ihren potenten Focke-Wulf 190 A-6/A-7-Jagdbombern. Diese Einheit ist eigentlich nach ihren schweren Einsätzen in Italien zur Auffrischung und zum Training von Nachwuchspiloten in Frankreich. Die 8. und 9. Staffel sind weit im Westen stationiert, nur etwa 30 Kilometer näher an der Invasionsfront bei Caën als Prillers Stabsduo des JG 26 „Schlageter“ in Lille. Nun werden sie überraschend gebraucht und zum Einsatz befohlen. Die beiden Jagdbomberstaffeln liegen in Clastres bei St. Quentin und in Frieres, etwa 60 Kilometer von Amiens entfernt, 120 Kilometer nordöstlich von Paris. Die 7. Staffel befindet sich gar in Le Luc, weit im Süden Frankreichs. Die Maschinen müssen schnellstmöglich zum Einsatz! Major Gerhard Weyert befehligt die Gruppe als Gruppenkommandeur. Folgender handschriftlicher Bericht findet sich im Kriegstagebuch (wobei auffallenderweise die in den einigen Quellen in dieser Form vermerkten Namen Kolberg, Brauneis und Krusmann hier „Kollberg“, „Bräuneis“ und „Krüsmann“ geschrieben sind):
Erste Seite des Berichtes von Major Weyert:
Offenbar ist man im Jagdkorps der irrigen Auffassung, ein Flugweg im Tiefflug südlich von Paris sei sicher genug, um der Schnelligkeit halber die 1. Warte in den Focke-Wulf 190-Jagdbombern mitfliegen zu lassen – Flugzeuge, die als eigentliche Jagdflugzeuge lediglich zur Aufnahme einer Person konstruiert wurden – dem Piloten. Doch verhängnisvollerweise hat man nicht mit der Überfülle an britischen Jagdflugzeugen und amerikanischen Langstreckenjägern gerechnet, deren Führung es sich leisten kann, über dem halben Ärmelkanal, den Landungsstränden und dem Hinterland der Invasionsfront bis weit hinter Paris einen dichten Luftschirm aus patrouillierenden Jägergruppen aufzubauen. Es sind genug Jäger vorhanden, um alle diese Aufgaben zu erfüllen – gleichzeitig und umfassend. Ein unvorstellbarer Luxus für die deutschen Führungsstäbe! Die es dennoch besser wissen müssten ...
In Major Weyerts Bericht heißt es auf der Folgeseite weiter:
*) |
Temperatur, Niederschläge, Sichtverhältnisse (Erde und Luft). |
||
**) |
bis Regt. einschl. in Schusszahlen, von Kommando-Behörden in Ausstattungen. |
||
*5c. Wilhelm Limpert-Verlag Berlin 1943 |
***) |
Erfahrungen dürfen auch nachträglich eingetragen werden. |
[Anmerkung: „Horstkdt.“ = Horstkommandant = Flugplatzkommandant, „K-Flugzeuge“ sind Kampfflugzeuge]
Sieben Focke-Wulf 190 starten um 12.15 Uhr (deutscher Zeit. Für die Gegenseite ist es 13.15 Uhr). 30 Kilometer südlich von Paris wird der Verband von etwa 15 Mustang-Jägern abgefangen. Es steht zwei gegen einen, wobei die deutschen Piloten durch das Mitführen ihrer 1. Warte ein zusätzliches schweres Handicap im Luftkampf haben. Vielleicht hat sich manch einer der Mechaniker gewünscht, einmal einen Luftkampf ihrer Flugzeugführer mitzuerleben. Doch so tödlich sicher nicht. Drei Focke-Wulf werden getroffen. Oberleutnant Johann Pühringer (Stab/SG 4, Fw 190 A-7, Werknummer 430472) zerschellt mit Aufschlagsbrand zusammen mit seinem Wart Unteroffizier Martin Krüsmann (Krusmann?), Leutnant Limberg entkommt dem Tode leicht verletzt, Unteroffizier Max Rahofer (Stab/SG 4, Fw 190 A-6,
Werknummer 650502) bleibt unversehrt, während sein Wart, der Obergefreite Fritz Klunker, verletzt wird. Es gibt nur einen amerikanischen Verband, der in der fraglichen Zeit Abschüsse meldet. Die 328th Fighter Squadron der 352nd Fighter Group reklamiert für sich zwei Focke-Wulf 190 als abgeschossen, eine dritte als beschädigt – um 14.20 Uhr britischer Zeit. Es sind P-51 B „Mustangs“, was ebenso übereinstimmend ist wie die Anzahl der „claims“ und der Typ der von den Amerikanern genannten gegnerischen Flugzeuge – deutsche Focke-Wulf 190. Nur liegt die amerikanische Ortsangabe „8 miles southeast of Rouen“ (etwa 13 Kilometer südöstlich von Rouen) über 100 Kilometer vom Ort Bretigny-sur-Orge entfernt, wo der Luftkampf der sieben Fw 190 des SG 4 mit Mustangs stattfindet. Zwar käme nach den US-„claims“ nur diese amerikanische Einheit infrage, da die nächstfrüheren Meldungen um 12.45 Uhr britischer Zeit vor dem deutschen Start datiert sind, und die nächstspäteren Meldungen um 16.20 Uhr britischer Zeit nach der deutschen Landung. Die Ankunft in Laval wird um 13.35 Uhr angegeben, somit 14.35 Uhr nach alliierter Zeitrechnung.
Dennoch ist die Auseinandersetzung mit der 328th Fighter Squadron definitiv einem anderen Luftkampf mit zuzuordnen – mit acht Focke-Wulf 190 der II./JG 26, welche sich unter Leitung von Leutnant Glunz mit P-51 herumschlagen – bei Rouen! Addi Glunz hatte auf seinem Überführungsflug von Biarritz nach Cormeilles eine Formation von P-51 „Mustangs“ entdeckt, die nahe Rouen Tiefangriffe flogen. Glunz zögert nicht und leitet sofort den Angriff ein. Doch die Mustang-Piloten sind auf der Hut, bemerken ihre Gegner rechtzeitig und drehen ein. Das Überraschungsmoment ist dahin. Ein verbissener Kurvenkampf entwickelt sich. Zwei Mustangs nehmen Unteroffizier Lindner (, Werknummer 170383) in die Zange, Lindner wird hierbei getroffen und abgeschossen. Er steigt aus, bleibt aber mit dem Fallschirm an einem der Cockpit-Holme hängen. Gerade noch rechtzeitig gelingt es ihm, sich loszurütteln und freizukommen. Er erleidet nur leichte Verwundungen. Das hätte leicht ganz anders enden können! Glunz durchlöchert im Gegenzug die Tragfläche einer Mustang, kann sie aber nicht zum Absturz bringen.
Die Ungereimtheit der genannten Orts- und Zeitangaben zeigt exemplarisch, wie schwierig die Dokumentationen beider Seiten oft zu koordinieren sind. In vorliegendem Fall sind sich die Quellen einig.
Im zweiten Verband der III./SG 4 fliegt Hauptmann Heinz Mihlan, ein ehemaliger Jagdflieger. Es sind acht Focke-Wulf, die angeblich um 15.57 Uhr (deutscher Zeit) starten und nahe Le Mans bei St. Jean d’Asse an feindliche Jäger geraten. In dem folgenden Luftkampf wird Feldwebel Franz Bräuneis (Brauneis?) in seiner Focke-Wulf A-6 (8./SG 4, Werknummer 470582) abgeschossen – er stirbt gemeinsam mit seinem Wart, Unteroffizier Paul Ebert. Unteroffizier Wenzel wird bei Rouenvon zur Notlandung gezwungen, kommt aber unverletzt aus seiner Focke-Wulf heraus. Hauptmann Mihlan (8./SG 4, Fw 190 A-6,
, Werknummer 470601) schießt bei La Bazoge westlich von Mortain eine „P-51“ ab, wird dann aber selber abgeschossen. Er steigt mit dem Fallschirm aus und bleibt ebenfalls unverletzt. Dieses Glück hat sein Wart Feldwebel Eidam nicht. Er fällt in diesem Luftkampf, dem er als „blinder Passagier“ hilflos ausgesetzt ist. Eidam sitzt hinter der Klappe des Funkgerätes kauernd hinten im Rumpf von Mihlans brennend abstürzender Focke-Wulf. Ohne Fallschirm! Was soll Mihlan in dieser Situation machen? Aus Solidarität Selbstmord begehen? Eine fürchterliche Entscheidung!
Eine Focke-Wulf 190 A-8 der II./JG 26. Es handelt sich zwar nicht um einen Jagdbomber der III./SG 4, dennoch ist der Zugang zum Heckabschnitt hinter dem Funkgerät, in welchem die 1. Warte mitflogen, hier gut zu erkennen.
Auch hier ergeben sich offene Fragen, die sich teilweise erklären lassen, wenn der amerikanische Jagdverband aus mehreren Einheiten bestand. Denn Mihlan schießt eine P-51 „Mustang“ ab, deren elegante Form nur schwer mit der einer P-47 „Thunderbolt“ zu verwechseln sein dürfte. Die erfolgreichen amerikanischen Schützen dagegen sind fast sicher Thunderbolt-Piloten, denn die Flugzeugführer Lieutenant Colonel Frederic C. Gray, Jr. und 1st Lieutenant Vincent J. Massa der 78th Fighter Group (Letzterer 83rd Fighter Squadron) teilen sich den Abschuss einer Focke-Wulf 190 bei Mayenne, während Massas Staffelkamerad 1st Lieutenant Peter A. Caulfield ohne Hilfe eines Kollegen eine Fw 190 bei Mayenne abschießt. Mayenne wiederum liegt genau zwischen St. Jean d’Asse und La Bazoge/Mortain. Auch spricht der deutsche Kampfbericht *7 im Gegensatz zum oben geschilderten Luftkampf nicht von „Mustang“, sondern von „fdl. Jägern“. Weyerts handschriftlicher Bericht redet von „Mustang- und Thunderbolt-Jägern“, welche die Staffeln angegriffen hätten – ohne hierbei zwischen den einzelnen Staffeln zu differenzieren. Die erste gestartete Gruppierung des SG 4 war jedoch definitiv nur mit Mustangs aneinander geraten – entsprechend der Berichte. Somit verbleiben für die zweite Gruppierung (oder die 7. Staffel) auch P-47 „Thunderbolts“, wenn die Gesamtdarstellung Weyerts zutrifft. Allerdings geben die P-47-Piloten den Zeitpunkt ihrer Abschüsse mit 16.30 Uhr an – britischer Zeit. Das entspräche 15.30 Uhr für Mihlan, was eigentlich vor dessen angeblichem Startzeitpunkt liegt, wogegen Mihlans P-51 Abschuss nach einer englischsprachigen Quelle auf 15.48 Uhr datiert wird Um 16.55 Uhr nach deutscher Zeitrechnung landen die restlichen Focke-Wulf.
Noch eine Staffel der III./SG 4 ist auf dem Weg ins Kampfgebiet. Fast haben die Piloten der 7. Staffel ihr Ziel, den Flugplatz Laval, erreicht, als zwei von ihnen doch noch ihr Schicksal ereilt. Kein Flak-Geschütz des Flugplatzes kann ihnen offenbar helfen, denn laute Weyerts handschriftlichem Bericht „fehlt jeglicher Platzschutz“. Oberfeldwebel Martin Kollberg (Fw 190 A-6,, Werknummer 470503) fliegt zusammen mit seinem Wart, dem Obergefreiten Erwin Ohlwein. Kollberg (Kolberg?) und Unteroffizier Speer (Fw 190 A-6,
, Werknummer 470585) werden noch über dem Fliegerhorst Laval abgeschossen und sterben im „Aufschlagsbrand“. Der Obergefreite Ohlwein überlebt diesen Überführungsflug ebenfalls nicht. Es ist 19.00 Uhr deutscher Zeit.
Der Tag ist für das Schlachtgeschwader (SG) 4 noch nicht zu Ende. Ein langer Tag, für wahr! Um 17.19 Uhr (deutscher Zeit) starten vier Focke-Wulf 190 zum ersten Angriff einer Jagdbombereinheit auf den Brückenkopf der Alliierten in Frankreich. Es sind Oberleutnant Hesse, Feldwebel George, Unteroffizier Schneider und Obergefreiter Lienau aus der 9. Staffel. Bei St. Aubin kreuzen sie die Küste. Sie melden als Aufklärungsergebnis: „Im Planquadrat 1065 Kriegsschiffe, anschließend zwei Kreuzer sowie Zerstörer auf Strand schießend. Starke Ausladungen bei St. Aubin“ und als Angriffsziel: „Landungsboote 400 BRT am Strande vor St. Aubin (Pl.Qu. 10672).“. Es handelt sich um St. Aubin sur Mer – dem westlichen Ende des britischen Landestrandes „Sword Beach“, zwölf Kilometer westlich von Ouistreham bei Caën. Offenbar haben es die Engländer selbst jetzt, am Abend des „längsten Tages“, noch nicht geschafft, allen Widerstand niederzukämpfen. Doch es ist nur eine Frage der Zeit.
Die vier deutschen Jagdbomber sind genauso hoffnungslos in der Minderheit wie wenige Stunden zuvor Pips Priller mit seinem Rottenflieger Wodarczyk. Deren Husarenstück ist zur Berühmtheit avanciert. Die Namen Hesse, George, Schneider und Lienau kennen dagegen nur wenige. Obwohl es diese vier Piloten fertig bringen, mit ihren SC-500- (500-kg-) Bomben zwei Landungsschiffe „durch Volltreffer“ zu „vernichten“. Jede der Focke-Wulf trägt eine dieser schweren Bomben unter dem Rumpf. Zwei der vier Piloten haben offenbar ins Schwarze getroffen!
Die Angabe „400 BRT (Bruttoregistertonnen)“ in der Dokumentation dieses Einsatzes legt nahe, dass es sich bei den durch Volltreffer zerstörten Schiffen um Landungsschiffe des amerikanischen Typs „Landing craft infantry (Large) – LCI(L)“ (385 BRT) oder „Landing craft tank (LCT)“ (450 BRT) handelt, welche in großen Stückzahlen der britischen Marine zur Verfügung gestellt worden waren. Für die bildliche Darstellung dieses bemerkenswert couragierten Angriffs ist daher der Schiffstyp LCI gewählt.
Die Piloten berichten von einer starken Abwehr des Angriffes durch leichte und mittlere Flugabwehrgeschütze des Gegners, ferner seien zwölf Typhoon und Spitfire in der Nähe gewesen, welchen man aber habe entgehen können. Der Schwarm von vier Jagdbombern landet wieder ohne Verluste.
Inzwischen ist auch das Jagdgeschwader 2 wieder in der Luft – genau genommen vertreten durch ein paar wenige „Experten“ der Stäbe, Jäger-Asse, die sich zutrauen, dieser unglaublichen Übermacht die Stirn bieten zu können mit der Chance, heil wieder aus dem Schlamassel herauszukommen. Und mit dem Verantwortungsgefühl im Nacken, als Offiziere nicht einfach am Boden herumsitzen zu können, während die Entscheidungsschlacht im Westen beginnt, in ihre gefährlichste Phase zu kommen. Die andererseits so viel Übersicht haben, dass sie ihre Piloten nicht sinnlos „verheizen“ wollen.
Es reicht nicht nur dazu, sich einen Überblick über die Feindlage zu verschaffen und dann wieder heil zu landen. Major Erich Hohagen (Stab I./JG 2) erwischt um 17.25 Uhr bei Beaumont-le-Roger eine britische Typhoon, Hauptmann Huppertz schießt eine knappe Stunde später einen weiteren dieser britischen Jagdbomber vom Himmel, die mit ihren Bomben und Raketen so viel Unheil unter den deutschen motorisierten Kolonnen anrichten. Es ist die dritte Typhoon für Huppertz heute, sein 75. Abschuss insgesamt.
Für ihn scheint sich einer der markigen Sprüche zu bewahrheiten, die in dieser verblendeten Zeit verbreitet werden. „Viel Feind, viel Ehr“! Zumindest im Moment! Wie lange noch?
Um 19.25 Uhr (deutscher Zeit) folgt der nächste Jagdbomber-Angriff der 9./SG 4. Wieder sind vier Focke-Wulf 190 im Einsatz, dieses Mal fliegen Leutnant Klepke, Unteroffizier Plewka, Unteroffizier Walter und Oberfeldwebel George. Ob es sich bei Letzterem um denselben Piloten handelt wie zwei Stunden zuvor ist (dem Verfasser) nicht bekannt – in diesem Falle ist wohl zur Beförderung zu gratulieren. Jedenfalls nehmen sich die vier Jagdbomber im Sturzangriff Fahrzeugansammlungen an der Brücke von Ouistreham vor und beobachten nach dem Einschlag ihrer vier 500-kg-Bomben Brände. Neben der „starken leichten Flak“ als Abwehr vom Boden aus werden „82 Spitfire, Mustang, Thunderbolts bei An- und Abflug und über Ziel ohne Angriff “ registriert. Ein römischer Spruch lautet: „den Tapferen hilft das Glück“. Vielleicht ist es auch nur Dusel. Oder der Vorteil einer kleinen Formation, im Tiefflug schwer erkennbar zu sein – zumal bei schlechten Wetterverhältnissen am Abend.
Eine der vier Focke-Wulf wird jedoch eher vom Pech verfolgt. Den feindlichen Kanonieren kann sie entgehen, der eigenen Flugabwehr nicht. Deutsche Flak-Geschütze beschädigen sie schwer. Zum Glück passiert dem Piloten nichts – er bleibt ungeschoren.
Wie sollen die deutschen Richtschützen auch wissen, dass es sich um ein eigenes Flugzeug handelt? Schließlich war es ja nicht – wie war das noch in jenem bitteren Spruch? – „unsichtbar“.
Die Maschinen landen auf Grund der starken feindlichen Jagdfliegerformationen in Rennes statt in Laval.
20.00 Uhr (deutscher Zeit). Hauptmann Huppertz startet erneut, dieses Mal von einer Pferderennbahn. Es ist Senlis, und in seinem Gefolge sind neben vier Focke-Wulf 190 A-8 seiner III. Gruppe auch zwei Piloten der 2. Staffel – namentlich Leutnant Eichhoff und Fähnrich Beer – und ein Pilot der 3. Staffel aus der I. Gruppe des JG 2. Dieser Pilot ist ein gewisser Leutnant Wolfgang Fischer.
Letzterer hat diesen Einsatz der acht Focke-Wulf 190 A-8 bereits beschrieben. Bei Bernay überraschen die paar deutschen Jäger – zu wenige, zu gut getarnt und vielleicht auch zu erfahren und umsichtig geführt, um im fliegerisch höchst anspruchsvollen Tiefflug nur 40 Meter über dem Erdboden bei den wetterbedingt schlechten Sichtverhältnissen dem alliierten Überwachungs-Jagdschirm aufzufallen – jene P-51 „Mustangs“ der amerikanischen 4th Fighter Group bei ihrem Tiefangriff gegen eine deutsche Infanteriekolonne. Hauptmann Huppertz leitet den Abschussreigen ein – um 20.35 Uhr mit einer Mustang, die er drei Kilometer nordöstlich von Evreux vor sein Reflexvisier ausmanövriert. Sein 76. Abschuss – und Huppertz vierter „Luftsieg“ alleine heute. „Kill“ sagen die Amerikaner – weitaus ungeschminkter. Denn genau das ist es letztlich. Kein kaltblütiger Mord, sondern ein „fairer“ Sieg, ein Erfolg im Kräftemessen – der Bessere oder Cleverere überlebt, mit ein bisschen Glück auf seiner Seite.
6. Juni 1944
Flugzeugtyp: |
Focke-Wulf 190 A-6- bzw. A-7-Jagdbomber |
Nationalität: |
Luftwaffe |
Einheit: |
9. Staffel (III. Gruppe)/SG 4 |
Piloten: |
Oberleutnant Hesse, Feldwebel George, Unteroffizier Schneider und Obergefreiter Lienau |
Stationierung: |
Laval/Frankreich/6. Juni 1944 |
Doch das Ergebnis bleibt dasselbe. Ein in irgendeiner Liste, und ein Vater, eine Mutter sowie meistens eine junge Frau, die nicht wissen, wie sie dieses Kreuz ertragen sollen. Ungezählte Tränen und bitteres Leid – auf der einen oder der anderen Seite, denn wie vielen ebenso jungen deutschen Soldaten auf jener Brücke des Flüsschens Risle hat die Handvoll Focke-Wulf das Leben gerettet?
Vorerst ...
20.54 Uhr. In der Nähe von Bernay. Leutnant Eichhoff aus der 2. Staffel drückt auf die Waffenknöpfe – und trifft. 20.56 Uhr. Sein Staffelkamerad Fähnrich Beer zerschießt eine Mustang, gleichzeitig beobachtet Leutnant Fischer aus der 3. Staffel, wie „seine“ Mustang am Flussufer zerschellt. Der brennende Baum lodert wie ein Fanal. 21.03 Uhr: Fähnrich Voormann aus der III. Gruppe ist in Schussposition – und feuert. 21.04 Uhr: Nun ist Unteroffizier Bielohlawek „am Drücker“. Die sechste Mustang kracht zerberstend in den blutgetränkten Boden der Normandie. Unmittelbar darauf gefolgt von einem Waffenbruder der britischen Royal Air Force. Feldwebel Schuler, ebenfalls aus der III./JG 2, hat sich hinter eine Typhoon gekurvt. 21.04 Uhr: Schuler zielt, schießt und trifft. Neben den 7,9-mm-Geschossen der beiden Maschinengewehre bewirken die 20-mm-Projektile der Kanonen eine verheerende Trefferwirkung. Die Focke-Wulf 190 A-8 ist schon ein schwer bewaffnetes Jagdflugzeug. Wie sagen die Briten? „Butcher Bird“ – Schlächter-Vogel! 21.05 Uhr: Oberleutnant Siekmann aus der III./JG 2 vernichtet eine Typhoon. Gleichzeitig wie sein Kamerad Feldwebel A. Müller, ebenfalls aus der III. Gruppe. Ebenfalls um 21.05 Uhr. Und ebenfalls erwischt es wieder eine Hawker „Typhoon“.
Und was ist mit Hauptmann Herbert Huppertz? Seit einer halben Stunde kein weiterer Abschuss mehr? Aber nein! Huppertz sieht nicht untätig zu, wie seine Männer den alliierten Luftstreitkräften Verluste zufügen. Oder sagen wir „Nadelstiche“, wenn man die Gesamtlage betrachtet. Immerhin sind sie schmerzhaft, diese Nadelstiche. Für den Piloten einer bulligen P-47 „Thunderbolt“ der amerikanischen Army Air Force ist es kein Nadelstich, den ihm Huppertz um 20.59 Uhr zufügt. Der fünfte Abschuss des Deutschen heute! Sein 77. Sieg insgesamt. Noch einer sollte folgen – am 7. Juni 1944, dem Folgetag. Auch dieser Gegner fliegt eine „Thunderbolt“.
Einen weiteren Tag später ist auch Huppertz tot.
Ach ja, das Jagdgeschwader 26? Sollte es heute völlig leer ausgehen, wenn man von Prillers und Wodarczyks Husarenritt einmal absieht? Nicht ganz. Um 20.55 Uhr gerät eine amerikanische Mustang vor die Rohre des Staffelkapitäns der 2. Staffel des JG 26, Oberleutnant Kunz. Es ist der erste Luftsieg des Geschwaders an der neuen Invasionsfront im Westen, die in der Luft allerdings so neu nicht ist.
21.00 Uhr (deutscher Zeit). Es ist immer noch nicht vorbei für heute! Oberleutnant Hesse, Unteroffizier Schneider, Feldwebel Krüger, Feldwebel Weiss und Oberfeldwebel Golles geben Vollgas. Die fünf Jagdbomber der 9. Staffel des SG 4 beschleunigen, werden schneller und heben von der Startbahn ab. Ihr Ziel sind Anlandungen bei Lion. Doch dieses Mal kommen sie nicht durch. Um 21.30 Uhr muss sich der Verbandsführer entschließen, ein Notziel aufs Geratewohl anzugreifen – Feinde am Boden gibt es bereits genug. In der Luft auch! 50 Spitfire und Mustang stürzen sich auf die deut-schen Focke-Wulf, denen es bei diesem Einsatz nicht gelingt, vom alliierten Jagdschutz unentdeckt zu bleiben. Die deutschen Piloten werfen im Sturzflug ihre Bomben auf den Gegner, können aber deren Wirkung nicht beobachten, da ihnen bereits die Leuchtspurgeschosse der Feindjäger um die Ohren fliegen. Einem der Piloten kommen die Geschosse gefährlich nahe an die Ohren, seine Focke-Wulf wird schwer beschädigt. Dennoch kommen alle fünf Maschinen wieder nach Hause, keinem der Piloten ist etwas passiert. Bei fünf gegen 50 ein erstaunlicher Abschluss dieses ereignisreichen Tages.
Hauptmann Herbert Huppertz.
Für das SG 4. Ein anderes Erdkampfgeschwader hat da erheblich weniger Glück. Das SG 103 ist in Metz-Frascaty stationiert und fliegt als Schulgeschwader alle möglichen Flugmuster. Auch Junkers Ju 87 „Stukas“, ein längst nicht mehr konkurrenzfähiger Sturzkampfbomber, und selbst davon leicht veraltete Typen. Für Schulungszwecke mögen die Flugzeuge geeignet sein – aber für einen Einsatz? In einem Gebiet, in dem der Gegner die völlige Luftherrschaft hat? Ein Schulungsgeschwader?
Es kommt, wie es kommen muss. Vielleicht haben die Führungsstäbe nicht mehr damit gerechnet, dass um diese Uhrzeit noch gegnerische Jäger über dem Kampfgebiet Wache halten – und erst recht nicht tief im Hinterland. Es wird eine Einsatzstaffel gebildet, die nach Le Mans fliegen soll, um am nächsten Morgen in aller Frühe die gegnerischen Schiffe anzugreifen – ein Selbstmordunternehmen. Doch soweit kommt es gar nicht erst. Um 20.45 Uhr nach amerikanischer Zeitrechnung bereiten die Stuka-Besatzungen den Mustang-Piloten der 505th Squadron (339th FG) und 354th/357th Squadron (355th FG) ein unfreiwilliges Gute-Nacht Geschenk! Die Stukas fliegen ohne Begleitschutz. Bei Voves, 21 Kilometer südöstlich von Chartres, hält man dies in den Stäben offenbar nicht für nötig. Man hätte es besser wissen können, ja müssen – spätestens seit dem verlustreichen Überführungsflug des SG 4, welches Stunden zuvor fast denselben Flugweg zugewiesen bekommen hatte! Südlich von Paris vorbei nach Laval, das nur 70 Kilometer weiter westlich liegt als das Ziel der Staffel des SG 103, Le Mans.
Eine Focke-Wulf 190 G-3 (man vergleiche die Motorhaube, die Position des Staurohrs und die Form der Tragflächenhalter) rollt aus dem Waldversteck. Nur so haben deutsche Flugzeuge im Jahr 1944 in Frankreich noch eine Chance, der Zerstörung durch feindliche Tiefflieger zu entgehen.
In zehn Minuten ist es vorbei. Fünf Ju 87 D-3 werden abgeschossen (Werknummern 2196, 2653, 131214, 131247 und 131289), weiteren vier Ju 87 D-1/D-3/H-6 gelingt noch eine Notlandung (Werknummern 2094, 2398 – laut einer anderen Angabe 7868 –, 131194, die vierte ist unbekannt). Die Besatzungen haben keinerlei Chance. Es grenzt an ein Wunder, dass nur drei Piloten und zwei Bordfunker ums Leben kommen, es sind Oberleutnant Skupin, Unteroffizier Rüchenschütze und Oberfeldwebel Genrich (Piloten) sowie Oberfeldwebel Micke und Oberfeldwebel Ochmanik (Bordfunker, gleichzeitig Heckschützen). Weitere elf Besatzungsmitglieder werden verwundet.
Am nächsten Morgen werden die alliierten Matrosen regulär geweckt (sofern sie schliefen), und nicht durch das charakteristische Heulen der Sturzflugsirenen *8 deutscher Stukas. Den Mustangs sei Dank.
Als es endgültig Nacht wird über der Normandie nach diesem langen Tag, haben die alliierten Landungstruppen auf französischem Boden Fuß gefasst. Und der Himmel gehört sozusagen „mondförmigen“ Kokarden und amerikanischen „Sternen“. Jedenfalls nicht dem Balkenkreuz!
Dieses allerdings versucht, sich mit dem Mut der Verzweiflung Respekt zu verschaffen. Doch ohne Erfolg. Im Schutze der Dämmerung und der Nacht greifen endlich deutsche Bomber die Invasionsflotte an. Die 3./KG 54 verliert über der Seinebucht zwei Ju 88 A-4-Bomber ( und,
alle acht Besatzungsmitglieder fallen. Die 8./ KG 54 büßt eine Ju 88 A-4 am selben Ort ein (
) mit denselben tödlichen Konsequenzen für alle vier Besatzungsmitglieder. Und der 9./KG 54 ergeht es ebenfalls nicht besser. Zwei Ju 88 A-4 werden – ebenfalls über der Mündung der Seine – vom Nachthimmel geschossen.
und
sind die jeweiligen Kennungen. Nur einer der acht Männer kommt mit dem Leben davon, es ist der Bordfunker der „G“-Maschine, Feldwebel Walter Tauffenbach, der in Gefangenschaft gerät. Alle fünf Ju 88 A-4 werden vermutlich von der gegnerischen Flak heruntergeholt – obwohl auch alliierte Nachtjäger aktiv sind, sodass man sich nicht sicher sein kann. Denn zumindest eine zweimotorige schnelle Messerschmitt Me 410 A-1, ein Schnellbomber oder schwerer Jäger ähnlich der Ju 88 C-6 (nur kleiner, schneller und wendiger), wird bei der Landung in St. Andre sur l’Eure von einem Nachtjäger überrascht und abgeschossen. Es ist eine Maschine der 4./KG 51. Der Pilot der
ist Oberfeldwebel Hermann Bolten, er überlebt verletzt. Feldwebel Wilhelm Lohe, sein Bordfunker und Heckschütze, der die hochmodernen ferngesteuerten Abwehrmaschinengewehre am hinteren Seitenrumpf bedient, überlebt den Abschuss nicht. Eine noch größere Tragödie richtet ein weiterer alliierter Nachtjäger nahe Coulommiers an, 30 Kilometer östlich von Paris. Der Pilot und 15 Männer des Bodenpersonals der I. Gruppe des JG 1, welche ebenfalls in Richtung Front verlegt werden soll, sind an Bord eines unbewaffneten dreimotorigen Junkers Ju 52-Transportflugzeuges. Der britische Nachtjäger hat keine Gegenwehr zu befürchten. Es gibt nicht einen Überlebenden. Dagegen hat der Absturz eines zweimotorigen Bombers der 8./KG 2 nichts mit dem Gegner zu tun und muss als Unfall angesehen werden, wie er auch in Friedenszeiten vorkommen könnte. Die Dornier Do 217 K-1 mit dem Code
fällt mit Motorschaden vom Himmel, alle vier Besatzungsmitglieder überleben den Absturz verletzt. Schließlich geht noch eine Focke-Wulf 190 G-8 der I./SKG 10 auf Grund technischer Mängel verloren, ohne dass dies irgendetwas mit der Wirkung feindlicher Waffen zu tun hätte.
Die deutsche Luftwaffe erhält in den ersten 36 Stunden nach der Invasion Verstärkung. Nach Ausgabe des Codes „Dr. Gustav West“ (für: „drohende Gefahr im Westen“, gleichbedeutend mit: „die Invasion hat begonnen!“) werden etwa 200 Jäger der Typen Messerschmitt Bf 109 und Focke-Wulf 190 ins Krisengebiet geflogen. Bis Ende Juni 1944 sind es fast 1.000 geworden.
Doch Flugzeuge kann man herfliegen – das zugehörige Bodenpersonal samt Ausrüstung nicht. Es muss per Lastwagen und Schiene folgen. Ein gefährliches und schwieriges Unterfangen, da die Bahnverbindungen durch alliierte Bombenangriffe und französische Sabotageakte zerstört sind und Bewegungen mit Lastwagen praktisch nur noch in der Nacht möglich sind.
Die deutschen Jäger werden nun selbst zu den Gejagten – in der Luft wie am Boden. Starts sind nur noch von sorgfältig versteckten Flugpisten aus möglich. Die Jagdflugzeuge verbirgt man zwischen den Bäumen und tarnt sie meisterhaft mit Buschwerk. Anders sind sie eine leichte Beute der allgegenwärtigen alliierten Mittelstreckenbomber und Tiefflieger, die unablässig Streife fliegen.
Ende Juni 1944 sind 230 deutsche Piloten gegen die völlig hoffnungslose alliierte Übermacht gefallen, 88 wurden verwundet. 551 deutsche Jagdflugzeuge hatten die britischen und amerikanischen Jägerpiloten vom Himmel geschossen. Weitere 65 waren am Boden zerstört worden.
Und doch hatten die Alliierten gemäß den bestätigten Abschussmeldungen der Luftwaffe in demselben Zeitraum ebenfalls 526 Flugzeuge durch deutsche Jäger verloren, alleine 203 davon sind US-Jagdflugzeuge des Typs P-47 „Thunderbolt“. Bei einer Übermacht der Alliierten von 50 : 1 – und sei das Kräftever hältnis durch die deutschen Verstärkungen nun vielleicht „nur“ noch 40 : 1 – ist dies eine fast unglaubliche Leistung der deutschen Jagdflieger!
Hinzu kommen die Abschüsse der deutschen Flak-Kanoniere.
„Pips“ Priller schießt am 7. Juni 1944 je eine P-47 „Thunderbolt“ und P-51 „Mustang“ ab, gefolgt von einer P-38 „Lightning“ am 11. Juni 1944. Vier Tage später wird eine viermotorige B-24 „Liberator“ sein 100. Luftsieg im Westen, wofür er die Schwerter zum Ritterkreuz mit Eichenlaub erhält. Danach ist Priller zu wertvoll zum Fliegen. Er erhält striktes Flugverbot und soll sein Geschwader vom Boden aus führen.
Man hätte Priller nicht gekannt, wäre man dem Irrtum aufgesessen, dass der sich daran halten würde.
Eine Hawker „Typhoon“ mit der typischen Ausstattung von acht RP-3-Raketen. Diese Raketen tragen einen 60-Pfund- (27-kg-) Sprengkopf und können selbst einen stark gepanzerten Tiger-Panzer kampfunfähig schießen. Im Oktober des Jahres 1943 wird diese Waffe erstmals von Typhoons eingesetzt (von der 181 Squadron RAF).
Das ist das andere Ende der Flugbahn. Ob dieser deutsche Tiger I durch Raketen getroffen wurde oder nicht – die alliierten Jagdbomber werden zur Geisel dieser ansonsten ihren Widersachern am Boden weit überlegenen, gefürchteten Panzer.
Oberst Josef Priller überlebt den Krieg mit 101 Abschüssen. 68 davon sind immerhin britische Supermarine „Spitfire“, was Priller zum erfolgreichsten Spitfire-Gegner in der deutschen Luftwaffe macht. Er stirbt im Mai 1961 an einem Herzinfarkt.
Unteroffizier Heinz Wodarczyk wird am Neujahrstag des Jahres 1945 beim Unternehmen „Bodenplatte“ in einer Focke-Wulf 190 D-9 (Werknummer 210936) der 4./JG 26 bei Zwolle abgeschossen – vermutlich von alliierten Flugabwehrgeschützen. Er fällt im Kampf.
Hawker „Typhoon“ Mk. IB der 198 Squadron auf einem vorgeschobenen Landestreifen in Frankreich beim Start. Solche provisorischen Plätze gibt es nach der erfolgreichen Seelandung recht schnell!
Heinz Wodarczyk. (rechts)
Der Bayer Josef „Pips“ Priller.
Eine Focke-Wulf 190 A-7 der 4. Staffel des JG 26, zu welcher auch Wodarczyk gehört. Wie Prillers (und vermutlich auch Wodarczyks) Fw 190 A-8 hat auch diese A-7 entgegen der Serie keine Außenkanonen an den Tragflächen, obwohl diese reduzierte Bewaffnung eher für Jagdbomber üblich war. Der Typ A-7 ist von der A-8 durch das viel weiter innen positionierte Staurohr unterscheidbar (dieses sitzt bei A-8 an der rechten Tragflächenspitze). Auch die III./SG 4 fliegt die Focke-Wulf 190 des Typs A-7. Der Behälter unter dem Rumpf ist ein abwerfbarer Zusatztank.
Zum Vergleich ist hier eine Focke-Wulf 190 A-8 sichtbar, welche soeben getarnt wird. Gut erkennbar ist das weit außen positionierte Staurohr. Auch diese Focke-Wulf hat keine Außenkanonen, die an sich bei den Focke-Wulf 190 A-6/A-7/A-8 serienmäßig in den Tragflächen sind. Es muss allerdings eingeräumt werden, dass die Position des Staurohres kein zwingendes Merkmal für die Klassifikation einer Focke-Wulf 190 A-8 in Relation zur Baureihe A-7 ist, da späte A-7-Modelle dieses Konstruktionsdetail bereits aufweisen.
Hinweis: deutsche Flugzeuge, welche zwar vom Gegner abgeschossen wurden, ohne jedoch den Piloten dabei „außer Gefecht zu setzen“, sind in der Spalte „Gesamt“ miterfasst (/Flugzeug = Anzahl verlorener Flugzeuge). Hinweise finden sich im Feld „Bemerkungen“. Dagegen werden in britischen und amerikanischen Quellen (MACR-Listen) oft die auf eigenem Gebiet notgelandeten Maschinen nicht mitgezählt. Zudem finden sich die von der deutschen Flak (Flugabwehrkanonen) vernichteten alliierten Flugzeuge nicht in dieser Aufstellung. Daher muss es zwangsläufig zu Differenzen zwischen Abschussmeldungen und den tatsächlichen Verlusten kommen! Verluste durch Tiefangriffe oder Bomben am Boden, durch „technische Mängel“ oder durch Unfälle werden nicht „gezählt“, da die gegenseitigen Erfolge im Luftkampf gegenübergestellt werden sollen. Da unversehrt gebliebene Piloten oft wenige Stunden später in einer neuen Maschine saßen, deren materialtechnischer Nachschub fast bis zum Kriegsende gesichert war, handelt es sich bei einem Abschuss mit unverletztem Fallschirmabsprung zwar um einen alliierten „Luftsieg“, jedoch nicht um einen dauerhaften deutschen „Verlust“ in der Spalte „Gesamt“ (Pilot/).
Verlustmeldungen der Alliierten im Detail (auch hier werden Unfälle oder Abschüsse durch eigene Geschosse („friendly fire“) nicht gewertet, sofern dies rekonstruierbar ist, beispielsweise bei der 8th USAAF oder der 2nd Tactical Air Force, siehe unten):
8 th USAAF: *10
B-17 „Flying Fortress”: |
- |
|
B-24 „Liberator”: |
4 |
(+2 Verluste durch Start- oder Landeunfall, 20 Crewmitglieder fallen) |
P-51 „Mustang”: |
17 |
(+3 P-51 durch technische Defekte verloren, 1 Pilot fällt, 2 Kriegsgefangene) |
P-47 „Thunderbolt”: |
3 |
(+1 P-47 durch technischen Defekt verloren, der Pilot gerät in deutsche Gefangenschaft) |
F-5 „Lightning”-Aufklärer: |
1 |
9th USAAF:*10
A-26 „Invader”: |
6 |
B-26 „Marauder”: |
2 |
P-38 „Lightning”: |
2 |
P-51 „Mustang”: |
2 |
P-47 „Thunderbolt”: |
5 |
C-47 „Skytrain“-Transportflugzeug: |
18 |
CG-4 „Horsa“-Lastensegler: |
10 |
2nd Tactical Air Force der Royal Air Force:*11
Douglas „Boston” IIIA: |
3 |
|
De Havilland „Mosquito”: |
2 |
|
Mustang I |
1 |
(+2 vermutlich durch eigene Flak abgeschossen, beide Piloten fallen) |
Hawker „Typhoon” IB: |
10 |
(incl. 1 schwer beschädigt Kategorie „B”, das entspricht ungefähr > 60%) |
Spitfire Mk. V: |
2 |
(+1 vermutlich durch eine eigene Spitfire abgeschossen, der Pilot überlebt verwundet) |
Spitfire Mk. IX: |
2 |
(1 Spitfire durch den Heckschützen einer Ju 88 abgeschossen, 1 schwer beschädigt durch Flak Cat. „B”) |
Seafire III: |
2 |
Royal Air Force Bomber Command:*12
Avro „Lancaster“: |
2 |
|
Handley Page „Halifax”: |
2 |
|
Short „Stirling”: |
2 |
|
De Havilland „Mosquito”: |
2 |
Hinzu kommen Verluste der in Italien stationierten 12th und 15th USAAF, welche nichts mit der Invasionsfront in der Normandie zu tun haben, in Höhe von 19 Flugzeugen (davon 14 schwere Bomber)*10 :
12th USAAF |
P-40 „Kittyhawk“ |
3 |
P-47 „Thunderbolt”: |
1 |
|
15th USAAF: |
B-17 „Flying Fortress”: |
1 |
B-24 „Liberator”: |
13 |
|
P-51 „Mustang”: |
1 |
|
1 |
Me 109 G-6 der 1./JG 53 (Luftkampf mit P-51/B-24), |
|
Absturz bei Tagovist, der Pilot fällt |
1 |
Me 109 G-6 der 1./JG 53 (Luftkampf mit P-51/B-24), |
|
Titu, der Pilot bleibt unverletzt |
1 |
Me 109 G-6 der 1./JG 53 (Luftkampf mit P-51/B-24), |
|
Gura-Suti, der Pilot bleibt unverletzt |
1 |
Me 109 G-6 Stab/JG 77 (Luftkampf mit P-51/B-24), |
|
Bauchlandung, der Pilot wird verwundet |
1 |
Me 109 G-6 der 10./JG 301 (Luftkampf mit P-51/B-24), |
|
Absturz bei Matasani, der Pilot fällt |
1 |
Me 109 G-6 der 4./JGr Ost, |
|
Absturz bei Tillewitz, der Pilot fällt |
1 |
Focke-Wulf 190 F-8 der 6./SG 2 (Luftkampf mit P-51/B-24), |
|
Luftkampf bei Bolgrad, der Pilot fällt |
1 |
Focke-Wulf 190 F-8 der 6./SG 2 (Luftkampf mit P-51/B-24), |
|
Luftkampf, der Pilot wird verwundet |
1 |
Me 410 B-3 der 2.(F)/122 |
|
Bruchlandung bei Perugia, der Pilot bleibt unverletzt |
Weitere drei Me 109 G-6 verliert die I./und III./JG 52, wobei Feldwebel Jürgen Nordmann von der 1. Staffel verletzt einen Luftkampf mit sowjetischen Airacobras übersteht und gemäß den Abschussmeldungen des JG 52 diese Luftkämpfe des Geschwaders gegen sowjetische Luftstreitkräfte stattfinden.
*1*2Die Zeitangabe entspricht deutscher Zeit. Auf Grund der doppelten britischen Sommerzeit entspricht 22.00 Uhr in Frankreich 23.00 Uhr in England. Oberstleutnant Meyer, Abwehrchef der 15. deutschen Armee, alarmiert Generaloberst Hans von Salmuth, den Oberbefehlshaber der 15. Armee, um 21.15 Uhr deutscher Zeit (somit 22.15 Uhr britischer Zeit).
*3Anmerkung: es ist davon auszugehen, dass die in den Quellen dargelegten Formulierungen wie das Wort „Blödmänner“ nachträglich – sagen wir – „geschönt“ wurden! Man kann davon ausgehen, dass die tatsächlichen Aussagen drastisch deftiger waren und einer gewissen anatomischen Region näher liegen.
*4Es handelt sich um deutsche Zeit, das heißt, für die Landungstruppen ist es 09.00 Uhr.
*5In mehreren anderen Quellen ist von fünf bzw. sechs P-51 Mustangs die Rede. Diese Differenz erklärt sich laut Quelle “2nd Tactical Air Force” Volume 1/Classic Publications/2005/Chris Shores und Chris Thomas, dadurch, dass einige der als „Typhoon“ angegebenen Abschüsse in Wahrheit P-51 der im Tiefangriff überraschten 4th FG USAAF sind.
*6Quelle: Fliegerblatt, Gemeinschaft der Flieger deutscher Streitkräfte e.V./Ausgabe Nr. 5/2006.
*7Quelle: Bundesarchiv - Miltärarchiv der Bundesrepublik Deutschland, Freiburg, Rolle BA-MA RL 10/358
*8Hinweis: zu diesem Zeitpunkt sind die so genannten „Jericho-Trompeten“ allerdings nicht mehr regelmäßig in die Ju 87 eingebaut – viele „Stukas“ haben sie bereits nicht mehr. Doch auch die ausgefahrenen Sturzflugbremsen erzeugen ein charakteristisches Geräusch im Sturz – auch ohne die infernalisch klingenden Sirenen ...
*9Anmerkung: in diversen Quellen wird der Abschuss einer Me 109 behauptet (21.00 Uhr), der sich nicht bestätigen lässt. Der Abschuss wird bei Croisy von Captain Bolek Michael Gladych (PAF), 61st FG (P-47)für sich reklamiert. Die einzige am 6. Juni verloren gegangene Me 109 ist jedoch die „G-6“ des Unteroffiziers Walter Mützinger aus der 12./JG 27, welcher im dichten Wolkennebel bei einem Überführungsflug in Richtung Normandie – zum Zielflughafen Champfleury-la-Perthe 120 Kilometer östlich von Paris – über dem Schwarzwald in Süddeutschland Bodenberührung hat und durch diesen Unfall sein Leben verliert. Zudem liegt Croisy 200 Kilometer südöstlich von der Flugstrecke Vat (Ungarn)/Steinamanger (damals im Burgenland in Österreich, heute Szombathely) via Stuttgart in Süddeutschland
Champfleury-la-Perthe entfernt.
*10Quelle: USAAF Missing Air Crew Reports (MACR).
*11Quelle: „2nd Tactical Air Force” Volume 1/Classic Publications/2005/Chris Shores und Chris Thomas.
*12Quelle: Royal Air Force Bomber Command 60th Anniversary - Campaign Diary, June 1944.
Quelle: WASt – Deutsche Dienststelle für die Benachrichtigung der nächsten Angehörigen von Gefallenen der ehemaligen deutschen Wehrmacht, Berlin. Verluste der deutschen Luftwaffe via Recherche Salonen.