„Ich sehe einen ständigen Kampf mit der Tatsache voraus, dass der Mensch in der Nacht nichts sehen kann.“
Air Vice Marshal Conningham,
Chef der britischen Bomberflotte (Bomber Command).
Als die Kanoniere der unzähligen Flugabwehrbatterien (Flak) im Umkreis der schwer verteidigten süddeutschen Großstadt Stuttgart die Lichter der Christbäume über sich sehen, denkt keiner von ihnen an das friedvolle Kerzenlicht an Weihnachten. Es ist Sommer, in der Nacht vom 28.zum 29. Juli 1944. Die idyllisch und trügerisch geborgen zwischen bewaldeten Hängen, Weinbergen und dem Fluss Neckar eingebettete Stadt wird durch die als „Christbäume“ bezeichneten Zielmarkierungen der britischen „Pfadfinder“-Vorausflugzeuge in ein fahles rot und grün flackerndes Irrlicht getaucht. Längst haben die Luftwarnungs-Sirenen die Bewohner der Metropole in die Luftschutzbunker, in den Schutz bietenden, einen Höhenzug mitten in der Stadt durchquerenden Wagenburgtunnel und die Keller der Häuser getrieben. Es dauert nicht lange, da erfüllt das Pfeifen der Bomben, das Bellen und Donnern der Flak-Geschütze und das Bersten der Explosionen den Talkessel der Stadt zum dritten Mal in Folge. Schon in der Nacht vom 24. auf den 25. Juli 1944 hatten die schweren britischen Bomber die schwäbische Großstadt heimgesucht. Kaum dem Schrecken entronnen müssen ihre Einwohner schon in der Folgenacht erneut um ihr Leben fürchten. Und nun kommen die Engländer schon wieder – alleine in diesem Jahr schon zum sechsten Mal. Spätestens seit der Nacht vom 1. zum 2. März 1944 ist die historische Altstadt Stuttgarts ein Trümmerfeld. Und sie hören nicht auf, sie hören einfach nicht mehr auf ...
898 Menschen sterben bei den drei aufeinander folgenden Luftattacken in den Flammen und im Bombenhagel, zerfetzt, verbrannt, erschlagen, verschüttet, erstickt, verbrüht oder ertrunken durch berstende Wasserleitungen, 1.916 werden verletzt, 100.000 sind nun obdachlos. Eigentlich wenig, vergleicht man es mit den Tausenden an Toten, die Hamburg vor fast genau einem Jahr in vier kurz aufeinander folgenden nächtlichen Bombenangriffen und zwei Tagesangriffen hatte hinnehmen müssen.
„Und wir können nichts dagegen tun!“ Hilflose Wut erfüllt die Menschen in Schutzräumen, die doch so wenig Schutz zu bieten scheinen. Und Angst. Doch die ist nicht nur in den Kellern. Auch die Besatzungen der schweren britischen Halifax- und Lancaster-Bomber, die gehorsam ihren todbringenden Auftrag erledigen, spüren dieses Gefühl. Jeden Moment dieser ewig langen Stunden über dem Land eines zu allem entschlossenen Gegners kann es krachen, bersten, der Boden unter den Füßen verloren gehen. Die deutsche Flak schießt ihre mörderischen Salven mit tödlicher, durch „Funkmessgeräte“ radargelenkter Präzision. Scheinwerfer durchsuchen den Himmel, wehe dem Kameraden, welcher von ihnen erfasst wird. Sie lassen ihn nicht mehr los, erst einer, dann zwei, dann drei, bis die Zerstörung unter Sicht vollendet ist. Und wie Ungeheuer lauern im Dunkel die schwerbewaffneten deutschen Nachtjäger, unsichtbar, unheimlich, überall und nirgends zugleich. Um 01.38 Uhr über Pforzheim ist es soweit. Der Lancaster-Bomber mit der Herstellungsnummer ME856 erzittert in allen Fugen, als urplötzlich die Tanks in der rechten Tragfläche des grau-grünen Riesen in hellen Flammen stehen. Keiner in der Crew hat einen deutschen Nachtjäger oder Leuchtspurgeschosse gesehen. Ist es das Werk eines Flak-Geschosses? Für die Männer an Bord des abstürzenden Bombers spielt dies keine Rolle mehr. Es sind die letzten Augenblicke für die aus der 467 (Bomb) Squadron der Royal Australien Air Force. Einer von 3.836 mächtigen viermotorigen Flugzeugen des Typs Avro Lancaster mitsamt Besatzung weniger, die in diesem Vernichtungsfeldzug das Glück verlässt.
Es ist der 87. Abschuss einer Besatzung unter Führung von Hauptmann Heinz-Wolfgang Schnaufer, einem Mann, den die Briten inzwischen respektvoll das „Nachtgespenst von Saint-Trond“ nennen. Schnaufer hat etwas gegen die Zerstörung der Stadt Stuttgart im Neckartal. Schließlich ist er am 16. Februar 1922 dort geboren worden. Nun ist er in St. Trond stationiert – es heißt in der flämischen Landessprache Flanderns „Sint-Truiden“, und es ist ein realer Ort, keine Geisterwelt. Schnaufer hatte sich mit sicherer Routine von unten an den feindlichen Bomber herangeschlichen. Sofort nach dem vernichtenden Feuerstoß kippt die deutsche Jagdmaschine weg – zurück in die dunkle Nacht ...
Viel ist geschehen, seit der Reichsluftfahrtminister Hermann Göring in einer prahlerischen Rede am 9. August 1939 verkündet hatte, er werde es nicht zulassen, dass auch nur eine feindliche Bombe auf das Ruhrgebiet falle. Er wolle „Meier“ heißen, wenn eine einzige Bombe auf Berlin falle, sagte er bei einer anderen Gelegenheit *1 . Aus damaliger Sicht war der Hochmut verständlich, schließlich drohte dem Deutschen Reich weder von den wenigen polnischen Bombern noch, falls Frankreich und England unerwartet doch den Polen zu Hilfe eilen sollten, von den veralteten französischen Maschinen ernsthafte Gefahr. Allenfalls die britische Royal Air Force hatte mit den zweimotorigen Typen Handley Page Hampden, Armstrong-Witworth Whitley und Vickers Wellington die Reichweite und technische Fähigkeit, deutsches Territorium anzugreifen und sich möglicherweise zu behaupten, ergänzt durch Mittelstreckenbomber kürzerer Reichweite des Typs Bristol Blenheim, die vielleicht noch die Randzonen Deutschlands bedrohen konnten. Doch lediglich der Heckturm der modernen Wellington stellte eine ernst zu nehmende Abwehrbewaffnung gegen Abfangjäger dar – britische Begleitjäger mit einer Reichweite, die es gestattet hätte, die englischen Bomber nach Deutschland hinein zu eskortieren und vor Angriffen feindlicher Jäger zu beschützen, gab es nicht. Mit mehr als 1.000 modernen Messerschmitt Bf 109-Abfangjägern und 200 zweimotorigen Me 110-Langstreckenjägern würde man wohl mit Bombern ohne Begleitschutz fertig werden. Zudem musste jeder Eindringling mit vernichtenden Gegenschlägen der über 1.000 modernen deutschen Mittelstreckenbomber rechnen. Wer wollte es da wagen, Görings Luftwaffe herauszufordern?
Frankreich und England kommen in der Tat den überfallenen Polen zu Hilfe. Wie Göring vorausgesehen hatte, besteht jedoch keine Neigung der Luftflottenkommandeure beider Nationen, Deutschland zu reizen. Der erste Angriff des britischen Bomber Command mit Hilfe von zehn Blenheim- und neun Wellington-Bombern am 4. September 1939 richtet sich daher folgerichtig strikt gegen militärische Ziele – deutsche Kriegsschiffe in der Helgoländer Bucht. Der Angriff richtet wenig Schaden an und führt zum Verlust von fünf Blenheims und zwei Wellingtons durch deutsche Flak-Geschütze. Am 18. Dezember 1939 versucht es die Royal Air Force erneut – man ist der britischen Bevölkerung einen Achtungserfolg schuldig. 24 moderne Wellington Bomber der 9 Squadron, 37 Squadron und 149 Squadron starten am Nachmittag – zwei kehren mit technischen Problemen um. Die Helgoländer Bucht liegt in strahlendem Sonnenschein unter den Kanzeln der 22 zweimotorigen Flugzeuge. Doch die Briten finden auf Schillig-Reede und Wilhelmshaven keine Kriegsschiffe. Ohne freigegebene Ziele treten sie den Rückflug an. Erleichterung macht sich breit unter den Besatzungen. Gut, man hatte Ihnen Mut gemacht – schließlich ist der mit zwei (später vier) parallelen 7,7-mm-Maschinengewehren bewaffnete elektrisch betriebene Heckstand eine innovative schwere Abwehrbewaffnung, ebenso wie der Zwillingsturm am Bug. Zusätzlich hatte man noch zwei einzelne Seiten-MGs. Man würde den „Jerrys“ (Deutschen) schon das Fürchten lehren, erst recht, wenn man wie jetzt – in Formation fliegend – das Abwehrfeuer würde bündeln können. Doch heute scheint man es nicht beweisen zu müssen.
Sie irren sich gewaltig. Über der Nordsee werden sie von 32 einmotorigen Messerschmitt Bf 109-Abfangjägern und 16 zweimotorigen Messerschmitt Bf 110-Zerstörern eingeholt. Der Luftkampf ist kurz und vernichtend. Zehn Wellington stürzen in die See, zwei weitere enden in einer Notwasserung, drei schwer zerschossene Bomber erreichen mit Mühe die britische Insel. Nur zwei deutsche Jäger fallen der gelobten Abwehrbewaffnung der Bomber zum Opfer, mehrere weitere kehren beschädigt zurück.
Das ist klar und deutlich. Ein überwältigender Sieg der deutschen Jäger – und das Todesurteil für die deutschen Städte. Nur – das weiß zu diesem Zeitpunkt noch niemand.
Die Lektion lässt nur einen Schluss zu: Angriffe bei Tage außerhalb der Reichweite eigener Jäger sind militärisch nicht zu verantworten. Gar keine Angriffe zu fliegen verurteilt die einzige Waffe, die den Engländern verbleibt, um offensiv zu sein, zur Untätigkeit. Dies ist politisch nicht erwünscht. So bleibt Air Vice Marshal Conningham, dem Befehlshaber der britischen Bomberflotte, nur eines übrig: Angriffe im Schutze der Nacht. Doch dieselbe Dunkelheit, welche die Bomber der Sicht der Verteidiger entzieht, schützt auch ihre Ziele. Wenn überhaupt, so sind somit nur Flächenziele auffindbar – Städte. Doch selbst eine Stadt zu finden ist schwierig, wenn sie verdunkelt ist. Und – noch gibt es Bedenken.
Diese Skrupel ändern sich mit dem neuen britischen Premierminister Winston Churchill schon vor einem deutschen Luftangriff auf London. London wird in der Nacht vom 24. August auf den 25. August 1940 zunächst nur versehentlich durch den nächtlichen Navigationsfehler zweier deutschen Bomberbesatzungen bombardiert, die Öltanks in Thameshaven angreifen sollten. Die Bombardierung ziviler Ziele ist strikt verboten! Die trotzige britische Reaktion sind Bomben auf einen Vorort Berlins im Schutze der Nacht des 25. August zum 26. August. Von nun an heißt Hermann Göring „Meier“. Die deutschen Bomben hatten sich bisher auf militärische Ziele beschränkt, teils aber auch angrenzende Stadtgebiete getroffen, so beim Angriff auf den Kriegshafen Portsmouth. Hitler rächt sich nach fünf Attacken auf Berlin mit Tagesangriffen auf London, die zwar vornehmlich auf die Schiffs-Docks und das industrielle „East End“ gezielt werden, doch auch viele Einwohner töten. Als die deutschen Kampfflieger am Tage gegen die britische Gegenwehr ebenfalls hohe Verluste hinnehmen müssen, fliegen in der Nacht vom 14. auf den 15. November 1940449 deutsche Bomber (einschließlich zwölf „Pfadfindern“) einen Angriff auf die britische Industriestadt Coventry. Coventry ist ein Rüstungszentrum, hier werden Flugmotoren hergestellt. Die Fabriken in der Stadt sind ein militärisches Ziel. Doch 554 Menschen sterben, die Innenstadt wird fast dem Erdboden gleichgemacht, der Tod der Zivilisten wird beim Angriff ganz bewusst billigend in Kauf genommen. Dies gilt ebenso für Nachtangriffe auf London, die bei Zielen im Stadtgebiet zwangsläufig zivile Opfer fordern. Sie sind eine harte Gegenreaktion, die die Einstellung zuvor geflogener britischer Attacken erzwingen soll. Coventry wird den Briten als Antwort auf einen Luftangriff gegen München präsentiert – kriegsvölkerrechtlich als Abschreckungsmaßnahme also an sich zulässig, doch in Bezug auf das erhoffte britische Einlenken ohne Erfolg. Im Gegenteil: die Spirale der Gewalt beginnt, sich zu drehen.
Das verbissene Ringen um die Herrschaft über dem deutschen Nachthimmel wird zu einem dramatischen Wettlauf der Technik beider Seiten. Nachtjäger gibt es zunächst nur sehr wenige, sowohl in England als auch in Deutschland. Die Verteidigung der Industrieanlagen liegt in den Händen der Flugabwehrbatterien, wobei eine deutsche Flak-Batterie aus vier Flak-Geschützen besteht. Diese feuern Geschoss-Salven in eine vorher eingestellte Höhe etwa 55 Meter um den Zielpunkt herum, in welcher ein Uhrwerk-Zeitzünder die Granate zur Explosion bringt und in ca. 1.500 zackige Splitter zerlegt. In einer Entfernung unter zehn Meter um die berstende Granate herum ist die Explosion für ein Flugzeug vernichtend, im Umkreis bis zu 180 Meter zumindest gefährlich. Nur – wie kann man so nahe an ein Ziel feuern, das man nicht sieht? Horchgeräte helfen, den Feind in Höhe und Flugrichtung zu lokalisieren, sind aber ungenau. Suchscheinwerfer mit bis zu 13.000 Metern Reichweite bewähren sich besser – hat einer ein Flugzeug erfasst, so ist es kurze Zeit später im Fadenkreuz von mindestens dreien. Auch heftige Ausweichmanöver werden nun häufig nicht mehr dazu führen, dass alle Scheinwerfer gleichzeitig den Kontakt verlieren. Der feindliche Bomber ist des Schutzes der Nacht beraubt.
29. Juli 1944, 01.38 Uhr, über Pforzheim
Flugzeugtyp: |
Messerschmitt Bf 110 G-4 |
Nationalität: |
Luftwaffe |
Einheit: |
IV. Gruppe/NJG 1 |
Pilot: |
Gruppenkommandeur Hauptmann Heinz-Wolfgang Schnaufer mit Besatzung |
Stationierung: |
St. Trond/Belgien |
Flugzeugtyp: |
Avro Lancaster B I |
Nationalität: |
Royal Australien Air Force (RAAF) |
Einheit: |
467 Squadron |
Besatzung: |
Besatzung der ME856 |
Stationierung: |
Waddington/England |
Hinweis: die Karte zeigt im Gegensatz zu den Frontverlaufskarten den Nachkriegsgrenzverlauf, da hier die Lokalisation des Ortes aus heutiger Sicht im Vordergrund steht.
Avro “Lancaster” BI der 467 Squadron RAAF, Waddington, England, 1944. Profil nach Datenlage.
Messerschmitt Bf 110 G-4, IV./NJG 1, Gruppenkommandeur Hauptmann Heinz-Wolfgang Schnaufer, St. Trond, Belgien, Juli-Dezember 1944.
Jetzt hat die Flak (Flugabwehrkanone) leichtes Spiel. Das Ziel ist nun mit Sichtgeräten erfassbar. Eine Rechenanlage im Kommandogerät 36 verarbeitet die optischen Daten über Höhe, Geschwindigkeit und Kurs des Opfers – und errechnet die Ausrichtung der Geschützrohre, Flugbahn und Zündereinstellung der Granaten so, dass diese zum Explosionszeitpunkt genau dort sind, wo sich der Bomber bei konstantem Kurs und gleicher Geschwindigkeit befinden müsste. Die Richtdaten werden verzögerungsfrei mit einer elektrischen Übertragungsanlage an die Richtkanoniere übermittelt, die in die Zünderstellmaschine gesteckten Granaten werden automatisch codiert. Ein Geschosshagel folgt.
Doch das klappt nur gut in klaren Nächten. Wolken hemmen die Wirkung von Scheinwerfern – allerdings auch die Abwurfgenauigkeit der Bomber. Ein sichtunabhängiges Ortungssystem ist nötig. Die Technik ist in den Kinderschuhen, doch sie funktioniert. Die Deutschen nennen es Funkmesstechnik. Die englische Bezeichnung wird bekannter werden: Radar („Radio detection and ranging“).
Einer der Pioniere der deutschen Nachtjagd ist der damalige Hauptmann Wolfgang Falck, dessen mit Messerschmitt Bf 110 C ausgerüstete I. Gruppe/ZG 1 nach der Besetzung Dänemarks in Ålborg stationiert ist – gemeinsam mit der I./ZG 76 und einer mit einmotorigen, einsitzigen Me 109 D ausgerüsteten Staffel der IV. (Nacht)/JG 2 (der einzigen existierenden deutschen „Nachtjagdgruppe“). Schon bald erfreut sich der Flugplatz regelmäßiger nächtlicher „Besuche“ durch britische Bomber.
12,8-cm-Flak-Zwilling 40, maximale Einsatz-Schusshöhe 12.800 Meter, maximale Schusshöhe 14.800 Meter.
Falck ist überzeugt davon, dass man diese lästigen Störungen und auch Zerstörungen nicht nur alleine mit der Flak bekämpfen sollte, sondern ihrer höchstpersönlich selber mit Hilfe der Messerschmitt Bf 110 C-1-/C-2-Jagdflugzeuge Herr werden könnte. Zunächst testet er die Nachtflugtauglichkeit der Me 110-„Zerstörer“ und stellt dabei fest, dass sich zumindest in Nordeuropa bei leidlich klaren Nächten sehr gut die Silhouette eines anderen Flugzeuges von unten gegen den Sternenhimmel abhebt. Somit ist die Angriffsrichtung nahe liegend: von hinten unten. Eigentlich ist das keine neue Erkenntnis, gab es die Nachtjagd doch schon im Jahr 1918, doch sie findet bald Gehör. Denn in der Nacht vom 30. April auf den 31. April 1940 starten Hauptmann Falck, Oberleutnant Streib und Feldwebel Thier mit ihren Besatzungen in den frühen Morgenstunden und hetzen einem englischen Bomberverband hinterher.
Sie finden ihn! Die drei deutschen Piloten können zwar keine Abschüsse erzielen, da die Briten bereits bei den ersten Feuerstößen in den Bodennebel über der Nordsee abtauchen, doch der Beweis ist erbracht, dass nächtliche Abfangeinsätze mit der Messerschmitt Bf 110 erfolgreich durchführbar sind.
Falck erarbeitet zusammen mit dem leitenden Offizier einer örtlichen Funkmess-Stellung ein Verfahren, nach welchem die designierten Nachtjäger zunächst in festgelegten Warteräumen kreisen. Nach radartechnischer Erfassung eines anfliegenden gegnerischen Bomberverbandes durch das Bodengerät sollen die Jäger anschließend mit Hilfe von Koppel-Navigation per Sprechfunk von der Bedienung der Funkmess-Station an die feindliche Formation herangeführt werden. Bei Tage beziehungsweise in der Dämmerung hatte sich die Zusammenarbeit mit der Funkmessanlage bereits bewährt – beispielsweise am 30. April 1940, wenige Stunden vor dem erwähnten Nachtflug. Im fahlen Licht des Sonnenunterganges zwischen 20.40 Uhr und 21.00 Uhr erzielen die Zerstörer-Besatzungen der I./ZG 76 mit ihren Me 110 C immerhin vier Abschüsse – an den Gegner herandirigiert durch das Funkmessgerät. Hauptmann Falcks Erfahrungsbericht (er nennt ihn selber „Denkschrift“) stößt im Reichsluftfahrtministerium auf Interesse. Er wird sogar zur Berichterstattung persönlich vorgeladen.
Flak-Batterie des Kalibers 8,8 cm im Nachteinsatz, ab Modell 41 Zünderlaufzeit (Einsatzhöhe) bis zu 12.800 Meter, maximale Schusshöhe 14.700 Meter.
Wie die Abwehr ihre Probleme hat, ein angreifendes Flugzeug zu orten, so haben andererseits die Bombercrews Schwierigkeiten, ihr Ziel zu finden. Ohne Sicht bleibt zunächst nur die Orientierung mit Hilfe des Koppelkurses wie in der Seefahrt. Der Bordnavigator kennt Flugzeit, Kurs und Geschwindigkeit des Flugzeuges und hat Wetterangaben über die Windgeschwindigkeit und Windrichtung. Das sind Einflüsse, die das Flugzeug unmerklich vom Kurs seitlich versetzen, doch die Prognosen stimmen allenfalls näherungsweise. Müssen noch Kursänderungen oder gar Ausweichmanöver durch Flak-Beschuss geflogen werden, so beträgt die durchschnittliche Abweichung zwölf Kilometer nach rechts oder links auf 100 Flugkilometer. Das Ergebnis nennen die Briten sarkastisch „landwirtschaftliche Bombardierung“ – das Umpflügen von Äckern und Feldern mittels Bomben. Die logische Folge sind Angriffe bei Vollmond und klarer Sicht, erlaubt dies doch wenigstens eine gewisse Orientierung und den Gebrauch des Sextanten. Doch auch die Bomber sind dann im nächtlichen Himmel besser sichtbar!
Die Deutschen sind bereits weiter, sie nützen bei Einflügen nach England ein System von Funkleitstrahlen, welches dem Bomberpiloten einen Dauerton im Kopfhörer liefert, solange er auf Kurs fliegt, Bei Abweichungen nach rechts oder links hört er Morsestriche beziehungsweise Morsepunkte (X-Verfahren „Wotan I“ mit spezialisierten Navigations-Führungsbombern der KGr 100, später vereinfacht zum „Knickebein“-Verfahren, das nach britischen Störmaßnahmen wieder zu Gunsten des X-Verfahrens aufgegeben wird). Über dem Ziel kreuzt nach Vorwarnung durch einen weiteren Funkstrahl ein seitlicher Funkstrahl den Leitstrahl und führt zum Bombenabwurfsignal. Das System funktioniert.
Doch inzwischen formiert sich die Abwehr. Die Engländer greifen auf einmotorige Boulton-Paul „Defiant“-Jäger mit Vierlings-Drehturm zurück, die sich am Tag gegen die Me 109 nicht bewährt hatten, und setzen zweimotorige Bristol „Blenheim“ ein – zum Nachtjäger umgebaute Bomber. Ein großflächig brennendes Ziel – wie London – bietet eine gewisse Sicht, da die Silhouetten der Flugzeuge sich gegen die Brände abheben. Dies nützen die Jäger. Mitte 1940 sind einige Bristol Blenheim des Typs Mk. IF zudem schon mit AI Mk. III-Bordradar ausgerüstet. Der erste mit dieser Hilfe erzielte Abschuss wird auf die Nacht des 22. Juli 1940 um 23.37 Uhr (britischer Zeit) datiert, eine Dornier Do 17 der 2./KG 3.
Als die bereits ab 16. Mai 1940 eröffnete, wenn auch eher nadelstichartige britische Bomberoffensive gegen (nachts seitens der RAF von vorneherein so gut wie unauffindbare „militärische“) Ziele mitten in deutschen Städten anfängt, an Hermann Görings Prestige zu nagen, erinnert dieser sich an den Bericht eines gewissen Hauptmann Falck. Schon kursieren die ersten despektierlichen Witze über den Oberbefehlshaber der Luftwaffe in der deutschen Bevölkerung. Die Erfolglosigkeit der deutschen Flak-Batterien und einmotorigen Me 109 D-Nachtjäger der IV.(N)/JG 2, derartige nächtliche Bombardements wirkungsvoll zu unterbinden, kratzt zudem international sichtbar und somit höchst ärgerlich am Renommee der scheinbar unbesiegbaren Deutschen. Falck wird prompt am 22. Juni 1940 damit beauftragt, ein Nachtjagdgeschwader zu formieren. Es ist ein Schock für den bisherigen Gruppenkommandeur, der als Hauptmann zum bisher rangniedrigsten Geschwaderkommodore in der deutschen Luftwaffe avanciert, allerdings im Oktober 1940 bereits als Major das Ritterkreuz erhält. Weder er noch seine Männer sind von der neuen Aufgabe begeistert – erscheint es doch erheblich wahrscheinlicher, in dunkler Nacht durch eine Bruchlandung Leib und Leben zu verlieren, als einen feindlichen Bomber abzuschießen. Viele Meriten dürfte dieser Kampfauftrag also nicht einbringen, während die Kameraden der Tagjagd sich durch Abschusserfolge derweil ihre Auszeichnungen verdienen können.
Oder sich gegen Spitfires und Hurricanes eine blutige Nase holen! Das allerdings wissen Falcks Zerstörer-Besatzungen im Juni 1940 noch nicht. Jedenfalls macht sich Falck nun zielstrebig an einen fast unlösbar erscheinenden Berg von Problemen. Die erste Klippe, die es zu umschiffen gilt, ist jene der Kommandogewalt. Es ist klar, dass eine wirksame Nachtabwehr nur durch eine perfekte organisatorische Zusammenarbeit von Funkmessstationen, Fernmeldedienst, Flugabwehrbatterien, Suchscheinwerfern und Nachtjägern denkbar ist. Dies ist von einem Geschwaderkommodore allein nicht zu koordinieren – in welchem Rang auch immer. Das Ergebnis dieser Überlegungen ist die Aufstellung einer Nachtjagddivision am 17. Juli 1940 unter der Leitung von Oberst Josef Kammhuber. Gleichzeitig entsteht nun eine Nachtjagdgruppe nach der anderen, vorerst mit eher provisorischen Nachtjägern.
Die Deutschen setzen immer noch einsitzige Me 109 D/E, in zunehmendem Maße jedoch zweimotorige Me 110 C-2 und umgebaute schnelle Bomber des Typs Junkers Ju 88 C-0/C-2 oder Dornier Do 17 Z-10 ein. Falck erkennt bald eine Schwachstelle in der ersten Konzeption der Nachtjagdorganisation. Derzeit finden sowohl die Einsätze der Nachtjäger als auch die Abwehrbemühungen der Flak-Kanoniere über den angegriffenen Zielen statt. Dies birgt einige Nachteile in sich. Kammhuber ordnet daraufhin eine Entzerrung der Flak- und Nachtjagdzonen an und positioniert beides getrennt voneinander, indem das Scheinwerferregiment 1 verlegt wird. Auf diese Weise werden die Horchgeräte der Suchscheinwerfer dieser Einheit nicht mehr durch den Kanonendonner der Flugabwehrgeschütze gestört und die verlagerten Suchscheinwerfer in ihrer Strahlweite nicht durch die Industrieabgase der zu schützenden Städte des Ruhrgebietes und die Rauchwolken der Flak-Salven beeinträchtigt. Ferner kam es bis zu dieser Maßnahme nicht selten vor, dass die Nachtjäger über den angegriffenen Städten von den Scheinwerfern angestrahlt und prompt von den eigenen Flak-Richtschützen beschossen wurden. Was dazu führte, dass die Nachtjägerbesatzungen bei starkem Flak-Feuer das Feld räumten!
Die Jäger werden nun ganzen Suchscheinwerferzonen zugewiesen, welche die britischen Bomber auf ihrem Weg nach Deutschland überqueren müssen. Diese machen die Nacht zum Tage. Und Vollmond für RAF-Besatzungen immer gefährlicher. Kammhuber baut eine von den Briten nach ihm benannte Scheinwerferbarriere auf. Die „Kammhuber-Linie“ reicht von Schleswig-Holstein bis in den Raum von Lüttich. Dieser Luftraum ist nachts für sämtliche deutschen Flugzeuge mit Ausnahme der Nachtjäger gesperrt. Die Jagdflugzeugbesatzungen kreisen im Falle erwarteter Feindeinflüge südöstlich dieses Gürtels in Warteräumen, sodass die Horchgeräte nordwestlich nur noch feindliche Motorengeräusche erfassen können – ohne die Gefahr einer Verwechslung. Die Jäger warten bis zu drei Stunden – bis die Scheinwerfer eine unglückliche britische Maschine im Schnittpunkt ihrer Leuchtkegel festhalten. Dann allerdings muss es schnell gehen! Der Nachtjägerbesatzung bleiben etwa drei Minuten, sich in Angriffsposition zu manövrieren und zu zielen, bevor ihr Opfer den Scheinwerfergürtel überwunden hat. Der erste Abschuss dieser Art wird Oberleutnant Streib (I./NJG 1) am 20. Juli 1940 zugeschrieben. Als die Engländer erkennen, wie das deutsche System funktioniert, versuchen sie, die Nachtjagdzonen zu umfliegen. Kammhuber reagiert mit einer Ausweitung des Gürtels. Doch gegen wolkenverhangene Witterungsbedingungen – in Nordeuropa nicht gerade eine Seltenheit – ist er machtlos.
Auch die Technik formiert sich. Bereits im Jahr 1939 besitzen die Deutschen ein Gegenstück zum britischen Radar. Die eher zierlichen Frühwarngeräte des Typs „Freya“ mit einer Reichweite von 160 Kilometer sind den riesigen Mast-Anlagen der „Chain Home“ an Auflösung sogar klar überlegen. Für genaue Positionsangaben ist das Gerät zu ungenau, doch es liefert einen guten Überblick über die Abläufe am nächtlichen oder entfernten Himmel. Was den Deutschen allerdings im Vergleich zur Royal Air Force entscheidend fehlt, ist eine ebenso effiziente Organisation der vorhandenen Radarstationen, deren Luftlagemeldungen in England systematisch gesammelt, zentral kartographisch ausgewertet und in Führungsbefehle für die Jägereinheiten umgesetzt werden. Zuvor passieren die Meldungen einen „filter room“, in welchem die erkannten Gruppierungen auf der Basis der Kenntnis aller eigenen Flugbewegungen in „Freund“ und „Feind“ eingeteilt und nachfolgend die Kartentisch-Symbole im Operationsraum entsprechend gekennzeichnet werden. Auf deutscher Seite erreichen die Einflugmeldungen dagegen nur die diversen Luftflotten separat, manchmal lediglich die Luftgaukommandos, oder den in seiner Organisation und Zuständigkeit von der Luftwaffe abgekoppelten Marineflugmeldedienst. Und nun wird sogar noch ein eigener Funkmessflugmeldedienst für die Nachtjagd aufgebaut.
Im Jahr 1940 wird in der Royal Air Force zudem das IFF („Identification Friend or Foe“) Mk. I-Freund-Feind-Erkennungssystem eingeführt. Dabei nimmt ein im Flugzeug eingebautes Gerät ein spezielles Radarsignal auf und sendet ein Antwortsignal zurück. Allerdings wird dieses System bei weitem nicht von allen Piloten angewandt, da der Flugzeugführer das Gerät aktivieren muss – was bisweilen unterbleibt und manchmal zu tragischen Verwechslungen führt. Für weitere Probleme sorgt ein ebenfalls per Schalter bedienbarer Selbstzerstörungsmechanismus des Gerätes, der verhindern soll, dass der geheime Apparat bei Notlandungen in deutsche Hände gerät. Nicht selten werden die beiden nebeneinander liegenden Schalter verwechselt! Schließlich verhindert ein Sicherungsdraht derartige ungewollte Selbst-Sabotageakte, die allerdings keine Abstürze verursachen. Ferner produziert das System ein Durcheinander, wenn Anfrage-Radarsignale mehrerer unterschiedlicher Radarstationen zeitgleich eingehen. Daher wird das Verfahren später zum IFF Mark III weiterentwickelt, welches für das Anfragesignal und Antwortsignal ein eigenes Frequenzband verwendet. Es wird auch in der USAAF verwendet und sogar an die Sowjetunion geliefert. Noch besitzt die Luftwaffe nichts Vergleichbares.
Die deutsche Firma Telefunken ist inzwischen in der Lage, ein eigens für genaue Positionsangaben entwickeltes Ortungs-Radargerät zu liefern, das „Würzburg A“-Gerät. Es ist ab April 1940 einsatzbereit, wird im September 1940 erstmals erfolgreich zur Radar-Zielsteuerung der Flak eingesetzt und im Jahr 1941 in großem Umfang eingeführt. Es hat eine Reichweite von 65 Kilometer. Ab dem Herbst 1941 wird mit dem „Würzburg-Riesen“ die Reichweite auf 80 Kilometer erhöht. Kammhuber positioniert die Geräte in einer Linie von Dänemark über Norddeutschland, Holland bis etwa Brügge. Ab Frühjahr 1942 steht die Organisation. Sie enthält eine Radar-Führung von Leitscheinwerfern durch Würzburg-Geräte („helle Nachtjagd“) und eine vorgelagerte „Jäger an den Feind“-Führung ohne Scheinwerferhilfe („AN-Verfahren, später mit ‚Seeburg-Tisch‘“). Der Abwehrgürtel besteht aus aneinander angrenzenden „Dunkelnachtjagdräumen“ an der Küste, die nach dem AN-Verfahren operieren, einem „hellen“ Gürtel dahinter, in welchem die Leitscheinwerfer dem Nachtjäger das Ziel beleuchten, und noch weiter landeinwärts „kombinierten“ Zentren über häufigen Zielgebieten, wo gegen die hier im Zielanflug an Höhe und Kurs völlig gebundenen Gegner sowohl Scheinwerfer und Flak als auch Nachtjäger operieren.
AN-Verfahren: der obere Doppelzacken (Bomber) ist angepeilt, der untere (Jäger) fliegt etwas links versetzt und näher am Freya-Gerät, da dieser Doppelzacken größer ist.
„Himmelbett“-Boden-Station, ein Freya-Gerät (Mitte) und zwei Würzburg-Riesen (im Hintergrund beidseits).
Das AN-System besteht aus Bodenleitstationen, denen Freya-Geräte und Würzburg-Riesen zur Verfügung stehen. Jede Leitstation führt einen einzelnen Nachtjäger. Nachdem das AN-Freya-Gerät einen Einflug erkannt hat und Menge sowie Flugrichtung der Eindringlinge grob erfasst sind, sucht sich der Jägerleitoffizier einen Bomber heraus und behält ihn unter elektronischer Positionskontrolle. Dabei übernimmt das Freya-Gerät die Richtungs- und Seitenpeilung, das Würzburggerät liefert die Feinwerte, vor allem die Höhenwerte. Die AN-Freya-Peilung wird nun auf den Feindbomber ausgerichtet, der als ein nach rechts und links der senkrechten Mittellinie ausgelenkter Doppelzacken erscheint. Sind beide Zacken gleich groß, so ist das Flugzeug exakt in Peilrichtung, andernfalls muss nachjustiert werden. Der Nachtjäger wird dann auf den Peilstrahl geführt und an den Doppelzacken des Bombers herandirigiert, wobei die Größe des Doppelzackens die Entfernung wiedergibt (je kleiner, desto weiter vom Funkmessgerät entfernt). Der Nachteil des AN-Verfahrens ist, dass das Freya-Gerät einen AN-Peilzusatz besitzen muss und der Jägerleitoffizier direkt am Radargerät führt, was an sein Können und die räumliche Abstraktionsfähigkeit sehr hohe Anforderungen stellt. Die Entwicklung des Seeburg-Kartentisches vereinfacht dies, kostet aber Übermittlungszeit, es heißt „Seeburg-Verfahren“. Hier werden via Projektionsgerät Lichtpunkte von unten auf eine transparente Karte projiziert, die die Position des Jägers und des gejagten Bombers farbig anzeigen. Hierfür stehen dann pro Leitstation zwei Freya-Geräte (eines zur Übersicht, eines zur AN-Führung) und zwei Würzburg-Riesen (je einer für Jäger und Bomber) bereit.
Die letzten vier bis fünf Kilometer zum Opfer muss der Jägerpilot sich jedoch immer noch auf seine Augen verlassen. Denn in dieser Nähe zum Ziel sind beide Zacken auf dem Schirm des Freya- und Würzburg-Bodengerätes nicht mehr zu unterscheiden. Was man also benötigt, ist ein Bordradargerät – klein und leicht genug, um es in die Nachtjäger einzubauen, zur Zielanflugkontrolle auf den letzten fünf Kilometern. Die Briten besitzen mit dem AI- (jetzt Mk. VII-) Bordradar eine derartige Ausrüstung in ihren Nachtjägern bereits! Die Ingenieure von Telefunken machen sich an die Arbeit.
Inzwischen werden die englischen Besatzungen nicht nur über Deutschland bedroht. Deutsche Langstreckennachtjäger der I./NJG 2 – meistens Junkers Ju 88 C-2 – schleusen sich in die noch sehr lose fliegenden Bomberformationen ein und warten, bis ihr Wild sich sicher fühlt. Wenn die Besatzungen in England zur Landung einschweben und sich schon gerettet wähnen, schlagen sie zu. Ein landender Bomber ist in seiner Flugbahn völlig kalkulierbar, Ausweichbewegungen sind unmöglich und die Besatzung konzentriert sich auf das Auffinden der Landebahn. Die psychologische Wirkung ist beträchtlich. Nicht einmal über eigenem Gebiet, nach stundenlangem Feindflug mit angespannten Nerven kurz vor dem rettenden Boden unter den Füßen können sich die Besatzungen sicher fühlen. Im Gegenteil – gerade jetzt nicht. Die deutschen Fernnachtjäger mischen sich teilweise unauffällig in den Bomberstrom, schalten gar im scheinbaren Landeanflug selber die Positionslichter an – und feuern dann aus nächster Nähe! Anschließend donnern sie – wieder verdunkelt – im Tiefflug über den Platz, dessen Bodenpersonal geschockt den Aufschlag des abgeschossenen Bombers beobachtet, und werfen über den Gebäuden beziehungsweise der Startbahn auch noch Bomben ab.
Im Jahr 1940 verliert das RAF Bomber Command 492 Bomber, im Jahr 1941 schon 1.034 Kampfflugzeuge – bereits das Doppelte, allerdings bei ebenfalls gestiegener Zahl der Einsätze. Davon ist zwar nur ein kleiner Teil den Abschusserfolgen der deutschen „Fernnachtjagd“ zuzuschreiben, doch andererseits addieren sich die vielen Bruchlandungen britischer Piloten dazu, die in der heiklen Landephase nervös werden. Zumal oft auch noch die Platzbefeuerung bei erkanntem Auftauchen deutscher Nachtjäger ausgeschaltet wird. Die frischen Bombentrichter tun beim Ausrollen dann noch ihr Übriges. Seit ihrem Bestehen melden die Fernnachtjäger 144 sichere Abschüsse, 30 wahrscheinliche Erfolge und mindestens 52 am Boden zerstörte Maschinen. Doch im Oktober 1941 verbietet Hitler diese Einflüge völlig überraschend – zum Entsetzen Kammhubers und seiner inzwischen erfahrenen Männer. Der Führer wünscht, dass abgeschossene britische Bomber auf deutschem Boden zerschellen mögen, zur augenfälligen Demonstration der deutschen Abwehrkraft für die Bevölkerung und die Presse.
„Würzburg-Riese“-Funkmessgerät.
Im Gegensatz zu den Junkers Ju 88 C-2 der I./NJG 2 (Fernnachtjagdgruppe) sind die übrigen Nachtjagdgeschwader zu diesem Zeit punkt mit Messerschmitt Bf 110 C-2, C-4 oder D-1 ausgerüstet. Insgesamt sind es 195 Maschinen – theoretisch. Denn einsatzbereit sind längst nicht alle davon.
Im Jahr 1942 wird das Bordkennungsgerät FuG 25 „Erstling“ in der Luftwaffe eingeführt, welches nun auch deutschen Radargeräten eine Freund-Feind-Erkennung ermöglicht. Das Gerät empfängt die 125 MHz-/8 kW-Impulse des Freya-Gerätes, demoduliert sie und tastet damit einen 1,5 kW-Impulssender im Rhythmus von beliebig wählbaren Morsezeichen, die durch Steckschlüssel codiert sind. Diese werden in Nockenschalter eingebracht, wobei der Flugzeugführer aus zwei vorhandenen einen auswählt. Die Morsesignale werden anschließend mit einer Frequenz von 156 MHz zurückgesandt und mit dem Kennungsempfänger „Gemse“ erfasst, dann sichtbar dargestellt, was eine einwandfreie Identifizierung sicherstellt. Auch organisatorisch verbessern die Deutschen ihre Struktur. Im Divisionsgefechtsstand des inzwischen zum General beförderten Josef Kammhuber in Zeist werden nun sämtliche Meldungen aller Stellungen und Verbände zusammengefasst, ausgewertet und auf einer riesigen Projektionstafel mit Lichtpunkten angezeigt. Kammhuber wiederum kann direkt die örtlichen Befehlsstellen erreichen.
Auch die Briten rüsten auf. Im Herbst 1941 geht das „Gee“-System in Produktion. Es legt ein unsichtbares Funkimpuls-Gitternetz über Europa, basierend auf Laufzeitunterschieden von Funksignalen je nach Entfernung vom Sender. Diese Unterschiede kann der Navigator eines Bombers mit Hilfe eines speziellen Empfängers messen und als Schnittpunkt seinen Standort auf einer Gee-Karte eintragen. Doch bereits in 650 Kilometer Entfernung von den in England stehenden Sendern beträgt die Abweichung zehn Kilometer, darüber hinaus ist es unbrauchbar. Trotz dieser Einschränkungen ist „Gee“ ein gewaltiger Fortschritt. Ab März 1942 steht es voll zur Verfügung. Die britischen Besatzungen lernen zudem, mit der deutschen Bedrohung besser umzugehen. Der Scheinwerfergürtel wird im Tiefflug relativ ungefährdet durchbrochen, die Desynchronisierung der Motoren mit der Folge eines an- und abschwellenden Geräusches behindert die deutsche Horch-Ortung, Kursänderungen alle sechs Sekunden bei Flak-Beschuss erschwert den feindlichen Richtschützen am Boden die Kalkulation der Flugbahn.
Nun werden die veralteten Bombertypen ersetzt. Viermotorige schwere Bomber werden ausgeliefert, zunächst die bereits bei Einführung technisch überholte Short „Stirling“, dann seit dem Jahr 1941 die Handley-Page „Halifax“ und schließlich die aus der zweimotorigen, in dieser Form nicht zuverlässigen „Manchester“ entwickelte viermotorige Avro „Lancaster“. Dieser Bomber sollte zum Rückgrat des Bomber Command der RAF werden. Seit Anfang 1942 fliegt die erste britische (Bomb) Squadron (es ist N° 44) diesen Typ. Er hat eine schwere Abwehrbewaffnung von einem Zwillings-Bugturm, einem Zwillingsturm auf dem Rumpf und einem Vierlingsturm im Heck. Alle Maschinengewehre sind elektrisch drehund schwenkbar. Die 0.303-inch- (7,7-mm-) Waffen haben zwar keine riesige Reichweite – doch bei den Sichtverhältnissen nachts genügt sie! Es ist für die Besatzung ohnehin besser, im Falle eines Angriffs „Korkenzieher“-Ausweichmanöver zu fliegen, als sich auf ein Waffenduell einzulassen!
Im Februar 1942 wird das Bomber Command jedoch noch eine weitere Veränderung erhalten. Es ist eine entscheidende Neuerung, die Tausenden und Abertausenden Menschen den oft grausamen Tod bringen wird. Diese entscheidende Innovation hat einen Namen. Sie heißt Arthur Travers Harris.
Harris war im Jahr 1919 in die Royal Air Force eingetreten und hatte unter anderem in Indien, im Irak und im Iran gedient. Ab dem Jahr 1930 war er im Luftstab für den Nahen Osten tätig und mitverantwortlich für die blutige Niederschlagung verschiedener Aufstände der Bevölkerung gegen die britische Kolonialherrschaft. Dabei setzte er Streubomben, Tretminen und sogar Giftgas gegen die Bevölkerung ein. Araber und Kurden verstünden nur eine Politik der harten Hand, so argumentierte er. Dieser Mann ist nun der neue Chef der britischen Bomberstreitkräfte. Und er hat einen mächtigen Verbündeten: den vom bisherigen Effekt des Bombenkrieges der Royal Air Force reichlich enttäuschten britischen Premier Winston Churchill. Das Bomber Command stelle nicht mehr als eine „ernstlich wachsende Belästigung“ für die Deutschen dar, deren Auswirkung seit Kriegsbeginn „stark übertrieben“ werde, stellt er fest. Churchill gibt dem Bomber Command eine letzte Chance: Arthur Travers Harris! Der ist entschlossen, ihn nicht zu enttäuschen. Diese eine Möglichkeit, eine entscheidende Rolle in der Geschichte seines Landes zu spielen, will er unter allen Umständen nutzen.*2
Harris ist überzeugt, dass Skrupel gegen die Zivilbevölkerung Deutschlands fehl am Platze sind. Um Deutschland in die Knie zu zwingen, müsse man so unendlich viel Leid verursachen, dass dieses unerträglich würde und der Widerstandswille des deutschen Volkes gebrochen werde. Punktziele – wie Industrieanlagen – in der Nacht zu treffen, ist schwierig und nur möglich, wenn man in Kauf nimmt, dass die gesamte bewohnte Umgebung der Fabriken mitgetroffen wird. Doch um die Produktionskapazität der Deutschen geht es Harris gar nicht – nicht primär. Während in höheren britischen Offizierskreisen immer noch die redliche Hoffnung besteht, dass man mit verbesserten Zieleinrichtungen wieder effektiv zu militärischen Zielen zurückkehren könne, kommt Harris der technische Stand der Dinge nur zu gelegen. Sein erklärtes Ziel ist der Bombenterror gegen die Zivilbevölkerung, ohne „wenn und aber“. Krieg und Sieg forderten nun einmal Opfer, zivil oder nicht, was spiele das für eine Rolle? Im Verlauf des Bombenkrieges wird Harris genötigt, mehr Brand- als Sprengbomben zu verwenden, um der Zivilbevölkerung eine Überlebenschance zu geben. Unabhängig davon, dass sich dies als ein völlig untaugliches Mittel erwiesen hätte, antwortet er: „Ich stimme dieser Politik nicht zu. Der moralische Effekt von Sprengbomben ist enorm. Menschen können Feuern entkommen, und die Opfer eines ausschließlich Brände verursachenden Luftangriffs wären minimal. Was wir wollen ist, dass zusätzlich zu den Grauen der Feuer die Mauern den Boche [französisches Schimpfwort für Deutsche, der Verfasser] auf den Schädel krachen, wir wollen sie töten und in Angst und Schrecken versetzen!“
Um dieses Ziel zu erreichen, ist Harris jedes Mittel recht. Die Stars seiner schweren Bomberflotte sind die beiden Konkurrenzmodelle Handley-Page „Halifax“ und Avro „Lancaster“. Beide tragen je sieben Mann Besatzung. Gut, die Halifax hatte anfangs Probleme mit der Leistung ihrer Motoren, doch man arbeitet bereits erfolgreich an der Lösung. Aber mit 5.443 kg ist die Bombenlast der Lancaster höher als die der Halifax (3.175 kg). Nur das zählt für Harris, der zu einem beißenden Kritiker der Halifax wird. Was spielt es da für eine Rolle, dass etwa 29 % aller Halifax-Besatzungen nach Abschuss ihres Bombers noch mit dem Fallschirm herauskommen und überleben, während für nur 11 % der Lancaster-Besatzungen die wenig überlebensfreundliche Konstruktion des Bombers im Falle eines Treffers nicht zur Todesfalle wird? Welchen Wert haben für Harris britische Besatzungen, die in deutschen Gefangenenlagern herumlungern? Sie fliegen genauso wenig für England und für ihn wie tote Crews. Krieg und Sieg fordern nun einmal Opfer! Die Lancaster verbreitet mehr Zerstörung pro Einsatz, nur das zählt für ihn wirklich. Er ist fest davon überzeugt, dass Deutschland in die Kapitulation zu bomben ist, wenn man ihm nur genügend Zeit dafür lässt.
Es kümmert Harris wenig, dass die Verluste unter seinen Besatzungen ansteigen. Einer der Gründe ist die ständig wachsende Zahl deutscher Nachtjäger, welche nun, seit Herbst 1941, mit einem Bordradar ausgerüstet werden können. Einigermaßen verfügbar ist diese Technik allerdings erst ab April 1942. Die Telefunken-Ingenieure haben ihre Hausaufgaben gemacht und das FuG 202 „Lichtenstein B/C“ entwickelt. Es hat eine Reichweite von drei bis vier Kilometern und eine Nahauflösung von 200 Metern – nähere Ziele verdeckt das Nullzeichen. Doch hat die Umrüstung erst begonnen. Außerdem feuern zunehmend Flugabwehrgeschütze radargesteuert und bestimmen Flughöhe, Geschwindigkeit und Richtung der anvisierten Bomber auf elektronischem Wege. Der Schutz, den dichte Wolken bisher vor der Zielerkennung durch deutsche Richtschützen boten, ist für die Bomberbesatzungen verloren. Britische Luftangriffe auf Berlin führen nun zu Verlustquoten von bis zu 10 % der eingesetzten Maschinen. Ein derartiger Aderlass ist nicht verantwortbar! Winston Churchill untersagt daher ab November 1941 Luftangriffe auf die deutsche Reichshauptstadt – zwei Jahre später wird er seine Meinung gründlich ändern.
Anfang 1942 herrscht in Deutschland Optimismus. In Russland verläuft die Front vor den Toren Moskaus, die deutsche Wehrmacht hatte mehr als 2,5 Millionen Gefangene gemacht – wer kann noch daran zweifeln, dass man den Russen bald den Rest geben würde? Die deutschen U-Boote fügen den für England überlebenswichtigen Nachschub-Konvois im Atlantik schwerste Verluste zu. Gut, man steht jetzt auch im Krieg mit den USA, aber die Amerikaner sind ja wohl mit den Japanern vollauf beschäftigt. Bis zum Sommer wird der Krieg siegreich vorbei sein. England ist in Sorge. Und Air Marshal Arthur Travers Harris benötigt dringend einen vorzeigbaren Achtungserfolg.
Er findet ihn in einer Stadt, deren enge Gassen und mit viel Holz erbauten Fachwerkhäuser ein Maximum an Zerstörung erwarten lassen. Dieser Umstand alleine ist das Schicksal von Lübeck. 234 britische Bomber verwandeln am 28./29. März 1942 den größten Teil der Stadt in ein Flammenmeer. Erstmals finden 1,8 Tonnen schwere Luftminen Anwendung. Ganze Häuserblocks werden erfasst, die Dächer abgedeckt – welche nun den Brandbomben gegenüber keinerlei Schutz mehr bieten. Zwölf britische Bomber gehen verloren. Danach steht Rostock auf dem britischen Einsatzplan ...
Auch die Taktik der Anflüge wird überprüft. Bisher ist der Kurs zum Ziel und zurück im Wesentlichen jeder Besatzung individuell überlassen. Dies führt dazu, dass die britischen Bomber die verbesserte deutsche „Kammhuber-Linie“ mit ihren Abwehrsystemen einzeln und im Verlaufe mehrerer Stunden überqueren. Genau hierauf sind die Deutschen vorbereitet. Jeder Nachtjäger – der ja konkret an einen bestimmten Bomber herangeführt werden muss – kann so im Laufe seiner Flugzeit auf mehrere Gegner nacheinander angesetzt werden. Im Durchschnitt benötigen die Jäger-Leitstelle und die Besatzung des Jägers zehn Minuten für Anflug, Sichten und Abschuss. Auch eine mit den „kleinen“ Würzburg-Geräten (jetzt vom Typ D) radargelenkte Flak-Batterie kann sich nur auf ein einziges Flugzeug gleichzeitig „einschießen“, was mindestens ebenso lange dauert. Jede dritte Flak-Batterie ist nun bereits mit dieser Technik ausgerüstet.
Wie wäre es, wenn man alle Bomber im Verband gemeinsam den Abwehrriegel überqueren ließe? Gut, ein paar würden wohl „dran glauben“ müssen – doch der Rest käme zwangsläufig ungeschoren davon, da sich einfach nicht so viele Ziele gleichzeitig nebeneinander bekämpfen lassen würden.
Harris fürchtet, man könne ihm seine Bomber wegnehmen und taktischen Zielen zuordnen, wenn er nicht beweist, dass der strategische Luftkrieg gegen Deutschlands Städte mehr bewirkt, als deutschen Bauern das Säen zu erschweren. General John Dill vom Kriegsministerium ist nicht der einzige, der diese Umorientierung weg von Harris‘ Strategie fordert, auch Sir Stafford Cripps und Admiral Dudley Pound äußern sich so!
Ein leicht aufzufindendes Prestigeobjekt muss her, verbunden mit einer Prestigezahl – 1.000. Das Objekt findet Harris in Köln, die Zahl der verfügbaren Maschinen muss er suchen. Selbst Flugzeugführerschulen müssen Bomber und Besatzungen stellen, fast 500. Harris setzt alles ein, was er hat.
Am 30./31. Mai 1942 ist es soweit. Zum ersten Mal greifen über 1.000 Bomber eine deutsche Großstadt an – 1.047 genau (602 Wellington, 131 Halifax, 88 Stirling, 79 Hampden, 73 Lancaster, 46 Manchester, 28 Whitley). Sie tun es erstmals in geschlossenem Verband – über Lübeck waren es mehrere Wellen gewesen. 868 britische Kampfflugzeuge erreichen ihr Ziel, 1.323 Tonnen Bomben regnen aus ihren Bombenschächten auf die unglückliche deutsche Großstadt, zwei Drittel davon sind Brandbomben ...
474 Menschen werden getötet, 5.420 Gebäude werden stark demoliert oder ganz zerstört, weitere 7.420 leicht beschädigt. Über 45.000 Kölner sind obdachlos. Köln geht in Flammen auf – und 41 britische Bomber ebenso, zwölf kommen zusätzlich als Totalverlust schwerst getroffen gerade noch nach England zurück, 104 weitere sind reparabel beschädigt.
Doch der Bann ist gebrochen. Und Harris ist nun nicht mehr aufzuhalten ...
Die Deutschen schalten schnell. Der Krieg der Techniker entbrennt. Auf die Dauer lässt es sich nicht vermeiden, dass durch Notlandungen und verwertbare Flugzeugtrümmer technische Geheimnisse gelüftet werden. Gegen „Gee“ wird ein Störsignal namens „Heinrich“ entwickelt, welches die britische Navigationshilfe ab August 1942 unbrauchbar macht. Der Funkmess- und Leitstationen-Gürtel wird erweitert, in die Tiefe Deutschlands hinein gestaffelt. Weit reichende Funkmessgeräte des Typs „Wassermann“ und „Mammut“ erfassen die britischen Bomber nun bereits beim Sammeln über England.
Die Briten wiederum setzen eine neue Maschine ein – die de Havilland „Mosquito“. Mit einem überwiegend aus Holz gebauten Rumpf ist der kleine zweimotorige Bomber leicht und daher enorm schnell. Ohne Bomben ist die raffinierte Neukonstruktion sogar schneller als die (erst ab April 1943 verfügbare) neueste Variante der Me 110 (Me 110 G-4: 550 km/h Mosquito B Mk. IV: 611 km/h).
Und Bomben sollen die Mosquitos für ihre Missionen gar nicht tragen. Wenn der Bombenschütze eines jeden Bombers einzeln zielt, so ist es nicht zu vermeiden, dass ein nachweislich beträchtlicher Teil der Bomben ins „Leere“ fällt, zumal so manche Besatzung auf perfekt inszenierte, scheinbar unabsichtlich schlampig verdunkelte Scheinanlagen in Zielnähe hereinfällt. Anders ist es, wenn speziell geschulte Crews den Auftrag haben, das Ziel mit Lichtzeichen zu markieren. Hierfür ist die Mosquito ideal geeignet. Die Masse der Bomber muss nun nur noch in das markierte Zielquadrat hineinbomben. So kommt es, dass von nun an selbst in Sommernächten „Christbäume“ über Deutschlands Städten aufleuchten. Es sind Zielmarkierungsbomben, vier pro Mosquito, die in etwa 1.000 Metern Höhe zerbersten und circa 60 Leuchtkerzen abgeben. Diese sind in codierten Farben gehalten (Rot und in den nachfolgenden Maschinen Grün). Die Leuchtmarkierungen verteilen sich im Fall und bilden einen weit sichtbaren, etwa drei Minuten lang brennenden Feuerkreis am Boden. Da die Markierungsträger in Intervallen anfliegen und termingerecht kurz vor dem Bomberstrom das Ziel erreichen, folgt ein Leuchtkreis alle zwei Minuten dem nächsten, bis die auflodernden Brände der Bomben weitere Kennzeichnungen des Zielareals unnötig machen. Diese Elite-Markierungs-Verbände nennen die Briten „Pfadfinder“.
Blick auf das flammende Inferno der Stadt Köln aus der Sicht eines britischen Bombenschützen im Bug einer Avro „Lancaster“. Im Bomber tut man seine Pflicht gemäß Befehl ...
Inzwischen schreibt man das Jahr 1943, und der Krieg ist immer noch nicht zu Ende. Ganz im Gegenteil. Auch die amerikanischen Bomberverbände sind nun in England eingetroffen und zu einer spürbaren Macht angewachsen. Harris versucht, die amerikanischen Verbände unter britische Kontrolle zu bringen und vom Selbstmordcharakter von Präzisionsangriffen am Tage zu überzeugen. Indes geht es ihm mehr um den Zuwachs an Kampfkraft als um das Schicksal der amerikanischen Besatzungen. Doch die Amerikaner sind stur. Allmählich hatte sich die Ineffektivität der britischen Nachtbomberoffensive über geschäftliche Kanäle wie auch diplomatische Quellen bis in die US-Kommandostellen herumgesprochen. Die US-Stäbe sind selbstbewusst. Als weisungsgebundener kleiner Lehrling unter dem Kommando des Meisters Großbritannien in den Krieg zu ziehen, das könnte den Engländern so passen! Fakt ist, die Deutschen produzieren munter weiter Panzer, U-Boote, Flugzeuge und Geschütze und zeigen sich reichlich unbeeindruckt von Arthur Harris` Eskapaden. Um Deutschland in die Knie zu zwingen, muss man seine Kriegsindustrie zerstören. Und das bedeutet Präzisionsangriffe auf Industrieziele – bei Tage, denn anders sind diese nicht zu treffen. Zum Beispiel die Kugellagerproduktion in Schweinfurt oder Stuttgart. Man würde mit den jeweils 13 12,7-mm-Maschinengewehren (MGs) eines jeden ihrer riesigen viermotorigen Boeing B-17 „Flying Fortress“ oder den zehn MGs ihrer Consolidated „Liberator“-Bomber den deutschen Abfangjägern schon genügend einheizen, auch ohne eigene Jagdeskorte und bei Tageslicht. Schließlich ist die Reichweite und Durchschlagskraft von 12,7-mm-MGs nicht mit jener der dagegen „niedlichen“ britischen 7,7-mm-Abwehrwaffen zu vergleichen!
Nun, die Briten sind sich sicher, dass die Amerikaner noch an ihre Warnungen denken werden. Doch die amerikanischen Besatzungen, die diese Entscheidung später im Verlauf des Jahres 1943 am 17. August und 14. Oktober über Schweinfurt und am 6. September über Stuttgartausbaden müssen, werden andere Sorgen haben, als darüber nachzudenken, ob ihre Kommandeure nicht besser auf die Briten gehört hätten. Die US-Angriffe enden in einem blutigen Fiasko. Die Amerikaner verlieren alleine in diesen drei Angriffen 165 Besatzungen mit ihren Bombern durch Abschuss und 21 Maschinen durch irreparable Beschuss-Schäden, somit 186 Bomber – und 1.493 Besatzungsmitglieder in den viermotorigen „Festungen“, die tot oder vermisst nicht wiederkommen. Fünf gefallene oder vermisste US-Jägerpiloten, deren P-47 den erreichbaren Bereich bis Aachen decken, addieren sich hinzu.
So sieht es am anderen Ende des Bombenhagels aus. Die Stadt Köln brennt lichterloh!
Vorerst werden die Amerikaner ihre Angriffe bis in das Herzland des Deutschen Reiches zähneknirschend einstellen müssen. Man hatte die Deutschen gründlich unterschätzt.
Zu Beginn des Jahres 1943 sind nun fast alle schweren deutschen Flak-Geschütze funkmessgeführt (radargesteuert). Die Nachtjäger verfügen über rund 390 Jäger, überwiegend mit dem „Lichtenstein B/C“-Bordradar ausgerüstete zweimotorige Me 110 F-4. In diese wird zunehmend bis Jahresmitte ein drittes Besatzungsmitglied eingeführt, mit einem Augenpaar mehr. Die ursprünglich einzige deutsche Nachtjagddivision war Mitte 1942 nun in drei Jagddivisionen aufgeteilt worden. Der Nachtjagd-Abwehrriegel ist inzwischen bis nach Ostfrankreich im Bogen in Richtung Schweizer Grenze verlängert, um ein Umfliegen unmöglich zu machen. Und es waren am 31. Juli 1942 auf Intervention der Gauleiter jener leidgeprüften Bombenzielgebiete bei Hitler – ganz und gar gegen Kammhubers Willen – die Scheinwerferdivisionen abgezogen und wieder den Flak-Batterien der Städte zugeteilt worden. Offenbar können die Nachtjäger seit der Einführung des Bordradars auch ohne Zielbeleuchtung operieren, während die Scheinwerfer den Flak-Stellungen nach wie vor wertvolle Dienste leisten.
Die Nachtjäger werden nun mit Hilfe des „Himmelbett“-Verfahrens an die eindringenden Bomber herangeführt. Dabei verfügt die Bodenleitstelle je nach „Rang“ nach wie vor meistens über ein Freya mit AN-Peilzusatz und ein Freya-Gerät zur Luftraumüberwachung, ferner über zwei Würzburg-Riesen. Doch nun werden diese Funkmessgeräte ergänzt um zwei E-Messgestelle mit Peilsendern und zwei, später fünf Y-Peiler des Typs „Heinrich“. Diese E-Messgestelle strahlen in den Sprechfunkverkehr der Leitstelle einen E-Messton ab, der vom Jäger mit Hilfe des neuen FuG 16 ZY in einer genau 1,9 MHz tiefer liegenden Frequenz zurückgestrahlt wird. Die E-Messgestelle erfassen dabei die Entfernung durch den Laufzeitunterschied des Signals, die Y-Peiler die Richtung des Jagdflugzeuges von der Messanordnung aus. Dies genügt den „Y-Stationsführern“, um dessen Position dreidimensional verfolgen und als Gradnetzkoordinate weitergeben zu können. Das System leitet sich aus dem Y-Verfahren der Tagjagd ab. Da der bisher für die Nachtjägerführung benötigte Würzburg-Riese jetzt für die Feindbomberverfolgung frei wird, lassen sich nun zwei Bomber gleichzeitig bekämpfen. Durch deren Verbandsflug ist inzwischen oft ein ganzer Bomberpulk das Ziel. Allerdings wird dennoch in der Praxis meistens ein Jäger per Würzburg-Riese dirigiert, zwei weitere via (ungenauerem) Y-Verfahren. Die Nachtjäger kreisen nun in unterschiedlicher Höhe um so genannte „Funkfeuer“ und werden von dort nacheinander „abgerufen“, wobei neuerdings zwei bis drei Jäger gleichzeitig führbar sind. Sowohl die Nachtjäger als auch die verfolgten Bomber sind im Überblick auf dem Freya-Gerät sichtbar. Eigentlich genügt nun ein einziges Freya-Gerät pro Leitstation, doch gehören zwei Geräte zur Standardausrüstung – bisweilen wird sogar immer noch das AN-Verfahren der Kartentisch-Führung vorgezogen. Der Jägerleitoffizier führt nun die angesetzten Nachtjäger an den Feindverband – so lange, bis die Jagdfliegerbesatzungen mit Hilfe des Bordradars ihre Opfer selbst erkennen können müssten. Zu diesem Zeitpunkt decken sich auf dem Projektionstisch des Jägerleitoffiziers, dem „Seeburg-Tisch“, der durch Einspeisung der Daten in das Projektionsgerät erzeugte rote und der grüne Lichtpunkt. Danach ruft der „Jlo“ die nächsten, beim Langwellen-Funkfeuer wartend kreisenden Jäger in den Kampf.
„Himmelbett“-Verfahren schematisch.
Das britische Bomber Command hat rund 600 viermotorige schwere Stirling-, Halifax- und Lancaster-Bomber sowie 250 zweimotorige Wellington zur Verfügung, ergänzt durch 30 Mosquitos, die überwiegend als „Pfadfinder“ eingesetzt werden. Von Monat zu Monat werden es mehr. Diese Pfadfinder tragen nun eine neue Entwicklung in sich: „Oboe“ und „H2S“.
Oboe ist ein neu entwickeltes Leitsystem, welches je Bodenstation-Paar in England jeweils nur eine Maschine leiten kann und auf zwei Bodenstationen pro Flugzeug angewiesen ist (es steht ein ganzes Netz zur Verfügung, um alle in Reichweite befindlichen Ziele codieren zu können und um mehrere Maschinen gleichzeitig führen zu können). Diese werden „Katze“ und „Maus“ genannt und senden Signale aus, welche von einem Transponder im Flugzeug zurückgestrahlt werden. Die Laufzeit des Signals definiert die Entfernung des Flugzeuges. Hält man diese Entfernung konstant, so ergibt sich ein Kreisbogen um die Sendestation. Durch die Geographie und Erdkrümmung ist seine Reichweite auf 450 Kilometer begrenzt, das ist jedoch ausreichend für Anflüge in das Ruhrgebiet. Der geleitete Pilot hält sein Flugzeug nun auf dem Signalkreis der „Cat“-Station. Diese leitet ihn, indem (ähnlich dem deutschen X-Verfahren) die Signale in eine Art von Morsezeichen moduliert werden: kommt die Maschine zu weit vom Kurvenradius ab, so hört die Besatzung „Striche“, wird der Radius zu eng, dann sind es „Punkte“, liegt er auf Kurs, so wird dies durch einen Dauerton im Kopfhörer deutlich. Über dem Ziel kreuzt der zweite Signalkreis den ersten. Das zweite Signal stammt von der „Mouse“-Station – fünf „Punkte“ und ein Strich! Das ist das Zeichen zum Abwurf! Es können zwar nur wenige Maschinen geführt werden - das genügt allerdings, nämlich dann, wenn diese die Zielmarkierungen für den Rest der Angriffsgruppe transportieren. Und das System ist klein genug, um in eine Mosquito zu passen. Es hat eine Genauigkeit von immerhin 350 Metern.
H2S ist ein fortschrittliches Geländeerkennungsradar, welches einen Ortungskegel unter das Flugzeug legt und den Boden abtastet. Die Spitze des Kegels ist das Gerät, die Basis bildet die Landschaft unter dem Flugzeug. Das zurückgeworfene Echo kann zwischen bebauten Gebieten, offenem Gelände und Wasser unterscheiden und bildet beim Vergleich mit der Karte eine wertvolle Orientierungshilfe. Das Gerät ist aber so groß und schwer, dass es in einen viermotorigen Bomber eingebaut werden muss. Immerhin ist es in Bezug auf sein Einsatzgebiet nur auf die Eindringtiefe des Flugzeugs limitiert, denn es benötigt keine Führungsstation in England. Überall, wo der Bomber fliegt, kann er es nutzen!
Zusätzlich werden die Bomber nun mit elektronischen Abwehrhilfen ausgestattet. Der Krieg der Funkmess-Spezialisten geht in die nächste Runde.
„Monica“ ist eine Radarantenne, die in das Heck der Bomber eingebaut wird. Sie soll sich annähernde Jäger von hinten anzeigen und die Bordschützen alarmieren. Das Gerät kann aber nicht zwischen Freund und Feind unterscheiden, sodass Fehlalarme, ausgelöst durch andere Bomber im Bomberstrom, vorprogrammiert sind.
„Boozer“ ist ein einfacher Radar-Empfänger auf der Frequenz der deutschen „Würzburg“- und „Lichtenstein B/C“-Ortungs-Geräte. Wird das Signal des Ersteren empfangen, leuchtet eine orangefarbene Lampe, ein Signal des deutschen Lichtenstein-Bordradars aktiviert eine rote. Beides bedeutet, dass der Bomber vom Gegner erfasst ist, Letzteres, dass ein Nachtjäger in der Nähe sein muss.
„Mandrel“ sendet Störgeräusche auf den Frequenzen der deutschen Überwachungsanlagen „Freya“, Mammut“ und „Wassermann“, während „Tinsel“-Radiogeräte den Funkverkehr zwischen den deutschen Nachtjägern und ihrem Leitoffizier stören. Mandrel und Tinsel erweisen sich zwar als effektiv und nützlich, bewirken jedoch nicht mehr als eine Verzögerung der deutschen Zielfindung. In Grenzsituationen kann diese für eine Bomberbesatzung jedoch lebensrettend sein, denn wenn der Bomber aus dem Erfassungsbereich des ihn beschattenden und damit für die Heranführung des Nachtjägers unverzichtbaren Würzburg-Riesen herausfliegt, muss der Nachtjäger die Verfolgung abbrechen – es sei denn, die Jägerbesatzung hat die britische Maschine bereits auf ihrem Bordradarschirm erkannt.
So ausgerüstet nimmt sich die britische Bomberstreitmacht nun das Ruhrgebiet vor. Stadt für Stadt wird angeflogen, oft mehrfach. Am 29./30 Mai 1943 ist Wuppertal an der Reihe. 719 britische Maschinen steigen auf, 292 Lancaster, 185 Halifax, 118 Stirling, 113 Wellington und 11 Mosquito-Pfadfinder. 50 deutsche Nachtjäger halten dagegen. Auch Leutnant Heinz–Wolfgang Schnaufer ist dabei. Er startet um 23.51 Uhr. Um 00.48 Uhr schlägt sein erstes Opfer südlich von Baelen brennend auf. Es ist sein 10. Abschuss, eine viermotorige Short Stirling III der 218 Squadron(Werknummer BF565, Codebuchstaben ). Um 01.43 Uhr vernichtet er eine viermotorige Halifax II der 35 Squadron (Werknummer DT804, Code
). Sie schlägt bei Budingen auf, gefolgt von einer weiteren Stirling III der 218 Squadron (Werknummer BK688, Code
). Diese wird geflogen von Flight Sergeant WAM Davis, er kommt mit seinem Flugzeug bis in die Gegend von Diest-Schaffen. Hier ist es vorbei. Der abstürzende Bomber nimmt sechs Besatzungsmitglieder in den Tod. Es ist inzwischen 02.22 Uhr. Zu diesem Zeitpunkt kämpfen 150 Berufsfeuerwehrleute und etwa 1.000 freiwillige Helfer um jeden Keller der Stadt Wuppertal, wohl wissend, dass die Flammen nur zu schnell den dort vorhandenen Sauerstoff verbrauchen und die Menschen still, schmerzlos, doch todsicher an Kohlenmonoxydvergiftung ersticken, wenn sie nicht rechtzeitig befreit werden. Wuppertal ist ein Flammenmeer. 280 Hektar Stadtfläche sind komplett verwüstet und brennen lichterloh, mehr als London während des gesamten Krieges an zerstörter Fläche zu ertragen hat. Seit um 00.46 Uhr die ersten Zielmarkierungen der von Oboe-Leitstationen geführten Mosquitos über der Stadt aufglühten, haben die Spreng- und Brandbomben ganze Arbeit geleistet. Es sollte acht Stunden dauern, bis die Flammen unter Kontrolle zu bringen sind. Für 3.350 Menschen kommt jede Hilfe zu spät. Ein beträchtliche Steigerung seit den 474 Opfern, die Köln vor genau einem Jahr zu beklagen hatte.
Hamburg von oben – die Silhouette eines britischen Bombers über dem Inferno, einer entfesselten Orgie des Massen-Tötens.
Das Bomber Command verliert 33 Bomber, zwei weitere zerschellen bei der Landung. 62 kehren außerdem mit schweren Schäden zurück (davon 60 durch Flak-Feuer, zwei durch Jäger-Geschosse). Von den zerstörten Maschinen gehen 22 auf das Konto der Nachtjäger, davon ist die Hälfte den drei Do 217 J-2 und 13 Me 110 E-2/F-4/G-4 der II./NJG 1 zuzuschreiben, der Schnaufer zugehört.
Inzwischen arbeiten britische Wissenschaftler, Chemiker, Feuerwehrleute und Statiker gezielt daran, die apokalyptischen Vorstellungen des Oberkommandierenden der englischen Bomberflotte bestmöglich zu realisieren. Es wird intensiv daran geforscht, die Wirkung der Bomben so zu optimieren, dass eine Stadt in die größtmögliche Hölle auf Erden verwandelt werden kann. Akribisch werden die Effekte von jeweils verwendeten Mengenverhältnissen an Spreng- und Brandbomben analysiert und verbessert.
Am 24./25. Juli 1943 sollte die Saat zum ersten Mal grausame Ernte einbringen. Der Name des Unternehmens zeigt seine Intention: Operation „Gomorrha“. Es ist Sommer, es ist heiß. Und Hamburg ist für die 791 eingesetzten britischen Bomber ein leicht zu findendes Ziel (347 Lancaster, 246 Halifax, 125 Stirling, 73 Wellington). 74 Bomber sind mit dem H2S-Geländestruktur-Navigationsradar ausgerüstet. Für das Oboe-System ist die Distanz von etwa 650 Kilometer von Südengland zu weit. 728 Bomber erreichen die Stadt, öffnen ihre Schächte und entledigen sich ihrer tödlichen Fracht. Die Orgie aus Sprengstoff und Brandbomben trifft Hamburg mit voller Wucht. Nur zwölf Bomber werden abgeschossen.
Am nächsten Tag (25. Juli 1943) erscheinen die Amerikaner mit ihren schweren Boeing B-17-Bombern, um bewusst die Rettungsund Löscharbeiten zu behindern. 123 US-Bomber starten, 100 B-17 erreichen mit 195,9 Tonnen Bomben an Bord Hamburg. 15 von ihnen werden abgeschossen.
In der Nacht vom 25. zum 26. Juli 1943 nehmen sich die Briten mit 705 Bombern die Stadt Essen vor, von denen 599 das Ziel erreichen. Fast 2.000 Tonnen Bomben töten über 500 ihrer Bürger, mehr als doppelt so viele werden teilweise schwer verletzt. 26 britische Bomber fehlen auf dem Rückflug.
Am Tage dieses Montages, dem 26. Juli 1943, erscheinen die Amerikaner wieder über Hamburg. Mit 54 „Fliegenden Festungen“ und 126,25 Tonnen Bomben. Die ihre Wirkung tun! Zwei B-17 gehen verloren. Weitere 23 B-17-Bomber werden bei anderen Einflügen zerstört, vornehmlich gegen Hannover.
Hamburg brennt immer noch, als die britische Streitmacht in vollem Umfang in der Nacht vom 27. zum 28. Juli 1943 wiederkommt. 739 der 787 gestarteten Bomber (353 Lancaster, 244 Halifax, 116 Stirling, 74 Wellington) erreichen das Zielgebiet. Mit 1.464 Tonnen Sprengbomben und 975 Tonnen Brandbomben – etwa 100.000 Stück – in den Bombenschächten! Damit hat niemand gerechnet, und viele Menschen, die die laue Sommernacht des ersten Angriffes am Wochenende vom Samstag, den 24. auf Sonntag, den 25. Juli bei Freunden oder in Sommerlauben verbracht hatten, sind nun in der Stadt, um zu retten, was noch zu retten ist. Der zweite Angriff trifft sie völlig unvorbereitet. Die Wirkung dieser spezifischen Mixtur aus Explosivstoffen und brennendem Phosphor ist kalkuliert, und die Rechnung geht auf. Die Explosionen der Sprengbomben decken die Dächer ab, reißen Schneisen ins Mauerwerk, legen Brennbares frei. Viele Breschen sind durch den ersten Angriff bereits geschlagen. Unglücklicherweise werden in Hamburg häufig die Kohlevorräte auf den Dachböden gelagert. Die folgenden Brandbomben erzeugen eine Feuerwalze, die die Luft erhitzt. Sie steigt auf. Von der Seite strömt kältere Luft nach, die sich wieder erhitzt. Das Ergebnis ist ein Feuersturm, aus dem es kein Entrinnen gibt. Windgeschwindigkeiten bis zu 240 km/h – doppelt so schnell wie ein Hurrikan – führen zu horizontalen Stichflammen, welche brennende Trümmer und Balken mit sich reißend durch die Straßenzüge rasen. Der Asphalt glüht, es entstehen Temperaturen von über 1.000 °C. Laufende Menschen entzünden sich zu Fackeln, bleiben im Teer stecken, die Flammen rauben sämtlichen Sauerstoff. Das menschenverachtende Inferno hat einen Namen: „Gomorrha“. Es trägt noch einen zweiten ...
Und das Bomber Command hat immer noch nicht genug. Auch die 17 abgeschossenen Maschinen in jenem entsetzlichen Einsatz mit dem erstmals herbeigeführten Feuersturm halten es nicht zurück. In der Nacht vom 29. zum 30. Juli 1943 kommen 777 Bomber wieder (340 Lancaster, 244 Halifax, 119 Stirling, 70 Wellington, 4 Mosquitos). 28 werden abgeschossen. Der Rest lädt 2.277 Tonnen Bomben über einem Trümmerfeld ab. 16 Quadratkilometer Stadtgebiet stehen in hellen Flammen.
In der Nacht vom 2. zum 3. August 1943 erscheinen Harris` Bomber zum vierten Mal über der Stadt, nun noch 425 von 740 gestarteten (329 Lancaster, 235 Halifax, 105 Stirlings, 66 Wellingtons, fünf Mosquitos). Ein heftiger Gewittersturm erschwert den Einsatz und führt dazu, dass nur ein stark reduzierter Teil der eingesetzten Flugzeuge ihr „Ziel“ erreicht. Das Ziel ist Hamburg. Sie werfen erneut 936 Tonnen Bomben ab, 30 Bomber kehren nicht zurück. Alleine in einem Luftschutzbunker (dem Karstadt-Gebäude) sterben noch einmal 370 Menschen – überwiegend Alte, Frauen und Kinder.
Das Ziel ist getroffen.
9.400 Tonnen Spreng- und Brandbomben haben eine Stadt vernichtet. 31.647 Menschen (diverse Quellen nennen über 40.000) sterben in der Hölle. In einer unbeschreiblichen Hölle, die jegliche Vorstellungskraft bei weitem übersteigt. „Sir, Hamburg ist von der Landkarte verschwunden!“meldet Harris zufrieden an Churchill. Vielleicht wäre der Begriff „getilgt“ der wahren Ursache näher gekommen!
Wo waren die Nachtjäger geblieben? Warum hatte die sehr starke Flak um Hamburg diese Apokalypse nicht zu verhindern vermocht?
Beide hatten keine Chance, den Angriff völlig zu verhindern, doch waren sie ab 24. Juli 1943 zusätzlich geschwächt – wirkungsvoll und unerwartet. Obwohl man es hätte ahnen müssen. Schon im Jahr 1940 hatten deutsche und britische Wissenschaftler unabhängig voneinander entdeckt, dass Aluminiumstreifen einer zur Wellenlänge des Radargerätes passenden Länge das Echo eines Flugzeuges simulieren können. Beide Seiten hatten aber davon abgesehen, diese Erkenntnis umzusetzen – aus Sorge, die Gegenseite könnte eigene Einflüge ähnlich behindern, wenn sie den Wirkmechanismus vorgeführt bekäme. Man hielt die Entdeckung sorgfältig geheim, auch vor den eigenen Fronteinheiten. Im Jahr 1942 wird diese Gefahr in Deutschland erneut aufgegriffen – doch von offizieller Seite nichts dagegen getan. Die Briten dagegen machen ihre Systeme nun weniger störanfällig. Das englische Nachtjagdradar AI vom nun verbesserten Typ X und das Bodenradargerät Typ 11 arbeiten auf der Basis von Zentimeterwellen und sind durch Aluminiumstreifen nur unwesentlich zu beeinträchtigen.
Die Deutschen versäumen es dagegen, entsprechende Gegenmaßnahmen zu ergreifen, obwohl Dr. Stüber und Dr. Schulze aus der Erprobungsstelle Rechlin bereits im Sommer 1942 eindringlich warnen. Sie haben auch schon Ideen, wie man zwischen künstlich erzeugten Radar-Echos und echten Flugzeugen unterscheiden lernen könnte – entsprechende Geräte vorausgesetzt. Doch statt – wie von den Wissenschaftlern nun erwartet – sofort energisch an die Entwicklungsarbeit gehen zu können, ordnet Göring strengste Verschwiegenheit an. Die gefährliche Erkenntnis wird einfach „unter den Teppich gekehrt“. Aus lauter Angst, die unter schwerer Strafan-drohung strikte Geheimhaltung zu stören, wagt niemand, an Gegenmaßnahmen auch nur zu forschen, die auf die Gefahr hinweisen könnten.
Bilder des Grauens, die dieses dennoch nur völlig unzureichend wiedergeben können.
Die Industrie selbst ist allerdings nicht ganz so untätig. Man bereitet sich auf die Produktion von Zusatzgeräten vor, welche den Freya- und Würzburg-Geräten über breiter auseinander liegende „Inselwellen“-Bereiche die Verwendung von Ausweichfrequenzen ermöglichen könnten, auch Hochfrequenzteile, die es den Bedienungen erlauben würden, mit einem Handgriff die Frequenz zu wechseln.
Die Situation eskaliert, als ein Großversuch im März 1943 alle Würzburg-Geräte lahm legt! Am 23. März 1943 ergibt sich aus dem Protokoll einer Besprechung mit Generalluftzeugmeister Erhard Milch:
„Aus einem Bericht, der uns als Beuteschrift zugegangen ist, geht hervor, dass die Engländer sowohl unser ‚Freya’- als auch ‚Würzburg’-Gerät genau kannten ... Es ist für uns bisher immer überraschend gewesen, dass die Engländer nur das ‚Freya’-Gerät stören, nicht aber das ‚Würzburg’, wohl aber neuerdings das ‚Lichtenstein’-Gerät ...! Wollen die Engländer mit einer Störung erst später zu einem gegebenen Termin schlagartig einsetzen?“ *3
Man hätte es also nicht nur ahnen können – nein, man hat es geahnt!
Im Jahr 1943 haben die Briten deutsche Bombenangriffe kaum mehr zu fürchten. Hinzu kommt, dass ihnen inzwischen bewusst ist, welche schlagartige Paralyse nicht nur einer Gerätesorte, sondern der gesamten deutschen Abwehr dieser primitive Störungstrick hervorrufen müsste. Dies hat zwei Gründe.
Am 27. Februar 1942 springen 119 britische Fallschirmjäger in der Nähe des französischen Schlosses Bruneval ab, da ein britischer Aufklärer anhand eines Trampelpfades ein höchst merkwürdig aussehendes Objekt entdeckt hatte. Das Objekt hat ein rundes Hohlschild. Man nennt es heute Parabolantenne. Die Briten wissen, dass ein Angriff von See her höchst riskant ist – einen derartigen Überfall erwarten die Deutschen, die um ihr deutlich sichtbares Freya-Gerät fürchten müssen. Ihre Küstenbefestigungen sind gefährlich. Aber ein Kommandounternehmen aus der Luft könnte Erfolg haben.
„Gomorrha“. Hier gab es kein Entrinnen.
Die Wachmannschaften der Würzburg-Anlage sind völlig überrascht, werden überrumpelt – und überwältigt – nur drei Mann überleben, einer davon, ein Techniker, zeigt sich gesprächig. Die Soldaten am Freya-Gerät allerdings sind auf der Hut und wehren sich energisch. Hier scheitern die Angreifer. Die Briten bauen die elektronischen Schalttafeln des Würzburg-Gerätes aus und erbeuten Sender, Empfänger, das Impulsgerät und den Zwischenfrequenzverstärker. Dann entkommen sie mit Hilfe von Sturmbooten zu wartenden Schiffen der Briten unter heftigem Feuer der deutschen Küstenverteidigung. Fast wäre die Evakuierung an einem deutschen Zerstörer und einem Schnellboot gescheitert, einer deutschen Patrouille, vor der sich die Schiffe der Royal Navy gerade noch verbergen können.
Ein knappes Jahr später erbeuten die Briten bei El Alamein ein Würzburg-Gerät fast völlig intakt.
Noch schlimmer wirkt sich die Desertion einer deutschen Nachtjägerbesatzung aus, die am 9. Mai 1943 stattfindet. Genau genommen ist es nur ein Teil der Besatzung, denn Oberleutnant Heinrich Schmitt, Sohn des Sekretärs des ehemaligen Außenministers Gustav Stresemann, hat lediglich seinen Bordfunker Oberfeldwebel Paul Rosenberger in den Plan eingeweiht – nicht den ahnungslosen Bordmechaniker, Oberfeldwebel Erich Kantwill.
„Sir, Hamburg ist von der Landkarte verschwunden!“
Schmitt arbeitet insgeheim für den britischen Geheimdienst Secret Intelligence Service und hat die Flucht sorgfältig geplant. Als der Ju 88 R-1-Nachtjäger befehlsgemäß eine britische Kuriermaschine abfangen soll, täuschen Schmitt und Rosenberger einen Motorschaden vor, gehen in einen extremen, radarsicheren Tiefflug und werfen das Schlauchboot ab. Dann behaupten sie eine bevorstehende Notwasserung und melden sich nicht mehr – während Kantwill verzweifelt protestiert, sich wehrt, aber mit vorgehaltener Waffe in Schach gehalten wird. Die Suchflugzeuge finden nur das Schlauchboot ...
Abwurf von „Windows“-Stanniolstreifen durch britische viermotorige Bomber. 92 Millionen dieser Streifen legen bei Hamburgs Untergang die deutsche Abwehr vollkommen lahm.
Vor der schottischen Küste warten zwei Spitfires auf die Deutschen und geleiten den Nachtjäger zum Fluplatz Dyce. Von dort wird die wertvolle Beute nach Farnborough überführt und eingehend untersucht. Das Flugzeug ist mit dem „Lichtenstein B/C“-Bordradar ausgerüstet und dem FuG 16 ZY!
Die akribische Analyse der deutschen technischen „Leckerbissen“ führt in Großbritannien zu einer verlockenden Erkenntnis: beide deutsche Geräte, das Feindverfolgungs- und Feuerleitradar „Würzburg“ und das Bordradar „Lichtenstein B/C“ (nun auch „Lichtenstein BC“ geschrieben) arbeiten auf ähnlichen Frequenzen – die im Störungsfall zudem nicht auswechselbar sind. Werden die Konstruktionsfrequenzen also wirksam gestört, dann sind die Deutschen in einem Zug – schachmatt!
Die deutschen Nachtjäger hatten im Jahr 1940 nur 42 britische Bomber abgeschossen, 1941 sind es 421, 1942 bereits 687 und alleine im ersten Halbjahr 1943 schon 752. Auf deutscher Seite verliert Kammhuber vom 1. Mai 1942 bis 30. April 1943 (also in zwölf Monaten) zwar immerhin 95 Nachtjäger. Das Bomber Command der Royal Air Force aber büßt einschließlich der Flak-Abschüsse im Jahr 1942 1.390 Bomber mit 9.730 Mann, im ersten Halbjahr 1943 bereits 1.110 Bomber mit 7.770 Besatzungsmitgliedern ein! Das ist entschieden zu viel – die Zumutbarkeitsgrenze ist erreicht! Die Lebenserwartung einer RAF Bomber-Crew liegt statistisch bei 20 Feindflügen. Das verschweigen die Verantwortlichen sorgfältig der britischen Bevölkerung – doch wie lange noch wird man das können?
Also setzt man jetzt die Stanniol-Streifen ein, lässt Millionen aus den Bombenschächten regnen. Mit einem Schlag ist die Abwehr blind, es scheint, als wären 12.000 Bomber am Himmel. Die Jäger greifen fiktive Flugzeuge an, dann fliegen sie aufs Geratewohl – irgendwann einmal ist klar, wo die Feinde fliegen. Hamburg brennt hell genug. Doch zu diesem Zeitpunkt ist der britische Erfolg bereits vollkommen. Von sechs Angriffen seit Einsatz der Aluminiumstreifen kehren „nur“ 124 britische Bomber nicht zurück.
Würzburg-Radarschirmanzeige mit Störung durch „Düppel“- („Windows“-) Stanniolstreifen. Normalerweise sind am Rand des Leuchtkreises einzelne Zacken sichtbar, die Bomber oder Pulks anzeigen.
Zusätzlich erwächst den deutschen Nachtjägern nun ein neuer Gegner. Britischen Spezialisten ist es dank ihrer Detailkenntnisse der deutschen Technik gelungen, ein Bordradargerät zu entwickeln, mit dessen Hilfe die Lichtenstein-Bordradarimpulse der deutschen Jäger optisch so dargestellt werden können, dass sie zur Anflugorientierung für eigene Begleitjäger dienen. Es warnt die Piloten außerdem bei einer feindlichen Annäherung eines mit Lichtenstein BC operierenden Nachtjägers von hinten. Das Gerät mit den Code „Serrate“ wird ab Juni 1943 in Beaufighter- (141 Squadron) und Mosquito-Nachtjäger eingebaut. Die britischen Bomber erhalten Geleitschutz, nun müssen die deutschen Nachtjäger bei Start und Landung um ihr Leben fürchten. Die englischen „Kollegen“ lauern ihnen gezielt auf. Die Fernnachtjagd ist somit die Domäne der Royal Air Force geworden, seit sie den gerade zu dem damaligen Zeitpunkt bereits versierten, bemerkenswert erfolgreichen deutschen Nachtjagdbesatzungen auf Hitlers Intervention hin untersagt werden musste. Die Engländer erzielen zwar nur einige wenige Achtungserfolge, welche die Aktivität der deutschen Nachtjäger mehr stören und behindern, als sie effektiv zu beeinträchtigen. Für einzelne Besatzungen enden sie jedoch durchaus tödlich.
Hamburg steht in Flammen.
Die Deutschen geben sich nicht geschlagen, ganz im Gegenteil. Der Einsatzwille der verantwortlichen Offiziere in der Nachtjagd und der Kampfgeist der Jagdflugzeugbesatzungen der Luftwaffe erreicht nach dem bis zu diesem Zeitpunkt kaum vorstellbaren, auch an Gnadenlosigkeit beispiellosen Inferno von Hamburg ein Ausmaß an grimmiger Entschlossenheit, das Harris nicht erwartet hatte. Klein beigeben – jetzt erst recht nicht! Einem Feind ausgeliefert zu sein, der zu derartigem Vernichtungswillen fähig ist – gnade uns Gott, wenn wir jetzt den Krieg verlieren!
Kann nun nicht mehr jeder Jäger einzeln geführt werden, so stellt man sich eben um. Ohnehin bewegen sich die Briten jetzt in solchen Massen in der Luft, dass einzelne Nachtjäger nicht mehr an einzelne Bomber herangeführt werden müssen. Man leitet sie von Funkfeuer zu Funkfeuer – dorthin, wo die dichtesten Signale der von den Briten „Windows“ und von den Deutschen „Düppel“ genannten Aluminiumstreifen gefunden werden. Hier müssen die Bomber ja schließlich irgendwo sein. Ein Strom von 750 Maschinen ist auf die Dauer nicht zu verfehlen. Einmal herangeführt erhalten die Jägerbesatzungen nun freie Hand – was ihre Effektivität kurioserweise in ungeahntem Maße steigert! Die Nachtjäger, welche bisher „an der Leine“ in einem zugewiesenen Umkreis um ihre Leitstation herum operierten und den Kampf abbrechen mussten, wenn sie bei der Verfolgung eines Feindes aus dem elektronischen „Sichtkreis“ ihrer Leitstelle herausflogen, fliegen nun im Bomberstrom so lange mit, bis die Tankuhr sie irgendwo beliebig in Deutschland zur Landung zwingt – aus der Sicht der Bomberbesatzungen ist dies spät genug im Zeitalter von Zusatztanks. Vom ersten Feindkontakt an suchen sich die Jagdflieger ein Opfer nach dem anderen unter den Bombern. Im Endeffekt führt dies nach einer Übergangszeit zu einer Zunahme der britischen Verluste, die man doch durch „Windows“ eindämmen wollte! Die Entscheidung, diese Geheimwaffe einzusetzen, wirkt sich bald als Bärendienst für das Bomber Command aus.
Der traurige Ausblick vom Kirchturm der Nicolai-Kirche.
Auch einmotorige Jäger kommen nun wieder zum Einsatz – über Brandfackeln wie Hamburg benötigt man kein Bordradar, um die Silhouette eines Bombers zu finden. Bereits Anfang 1943 hatte Major Hajo Hermann angeregt, zusätzlich zu den geführten Nachtjägern eine ungeführte einmotorige Streitmacht mehr oder minder zum Objektschutz über den Ballungsgebieten aufzustellen. Hier sorgen die jetzt wieder um die Städte herum massierten Scheinwerfer für eine gewisse Sicht, welche die Bomber oft minutenlang im „Leuchtgriff“ halten, und selbst bei bewölktem Himmel könnten von oben abgeworfene Fallschirmleuchtkörper die Wolkenschicht so aufhellen, dass sich die Feindbomber „wie Fliegen auf einer leuchtenden Mattscheibe“ abzeichnen würden. Dünne Wolkenschichten seien von unten anstrahlbar – und die britischen „Christbäume“ tun ihr Übriges! Außerdem sei die Instrumentenausrüstung der aktuellen Me 109 G-6 und Focke-Wulf 190 A-4 für blindflugerfahrene Piloten durchaus nachtflugtauglich. Nach Anfangserfolgen mit einem Versuchsverband erhält Hermann die Erlaubnis, ein Geschwader aufzustellen. Man nennt das JG 300 „Wilde Sau“. Kammhuber wird nicht einmal gehört!
Technisch hält Deutschland ebenfalls dagegen. Die Frequenzen der bekannten Radargeräte werden modifiziert – wenn dies auch einige Zeit in Anspruch nimmt. In der Zwischenzeit dienen wie erwähnt so genannte Funkfeuer auf Langwellenbasis ungestört als stationäre Orientierungshilfen. Bereits drei Tage nach dem Untergang der Stadt Hamburg wird in der Erprobungsstelle Werneuchen von Dr. Schulze für die Würzburg-Geräte das Zusatzgerät „Würzlaus“ einsatzreif gemacht. Das so genannte „Laus“-Verfahren nützt den Doppler-Effekt für die Schirmanzeige aus. Zwar wäre es besser gewesen, die „vergeudete“ Zeit für die Entwicklung völlig störsicherer neuer Funkmessgeräte auf Zentimeterwellenbasis zu nutzen, doch wenigstens hatte die Industrie in der Zwischenzeit Basisarbeit für die Entstörung der vorhandenen Technologie geleistet. Das Gerät ist allerdings kompliziert in der Anwendung und reduziert die Reichweite der Fernmessgeräte, kann aber optisch sehr prägnant zwischen mit mehreren hundert km/h fliegenden Objekten und langsam dahintreibenden Stanniolstreifen unterscheiden – leidliche Windstille allerdings vorausgesetzt! Diese Einschränkung hat man mit „Windlaus“ auch bald im Griff. „Nürnberg“ wiederum nützt die Propellervibrationen der „echten“ Radarechos für die Unterscheidung mit Hilfe eines Kopfhörers, überzeugt aber nur in Verbindung mit den „Läusen“.
Feuersturm-Bombenopfer in Hamburg.
Auf die zunehmende Bedeutung von Funkanweisungen zur Leitung deutscher Nachtjäger reagieren die Briten mit der Aufstellung einer Spezialeinheit, der 101 Squadron. Die Lancaster-Bomber dieser Einheit fliegen im Bomberstrom mit und besitzen ein deutschsprachiges Besatzungsmitglied, welches so lange das Funkfrequenzband abhört, bis es den lokalen Funkverkehr zwischen Nachtjägern und den Bodenleitstationen erfasst hat. Dann stört der Spezialist an Bord die Frequenz („Airborne Cigar“). Es gibt allerdings nicht nur eine! Von „Gespenster-Leitstellen“ („Corona)“ in Südengland aus pfuschen zusätzlich deutschsprachige Briten den deutschen Anweisungen verbal ins Handwerk. Am 22./23. Oktober 1943 versucht ein durch den Störungssalat hindurch erstaunlich gut vernehmbarer „Leitoffizier“ die wartenden Nachtjäger auf das deutscherseits zunächst vermutete Ziel Frankfurt zu lotsen, während ein bereits im Bomberstrom unerkannt mitfliegender deutscher „Fühlungshalter“ aber einen plötzlichen Schwenk des RAF-Verbandes in Richtung Kassel meldet. Die Nachtjäger werden von ihrer Bodenleitstelle nun schnellstens dorthin dirigiert. Wie, nun soll das Ziel wieder Frankfurt sein? Die Nachtjägerpiloten wissen nicht mehr, was sie glauben sollen, als wilde Flüche zu hören sind. „Der Engländer flucht jetzt“ – tönt es aus dem Kopfhörer. „Nicht der Engländer, ich fluche, verdammt noch mal!“kommt es prompt danach. Die Jäger hetzen letztlich nach Kassel und schießen prompt 39 Bomber ab, 43 verliert Harris insgesamt über der schwer getroffenen Stadt. Gegen Rückfragen auf einer anderen Frequenz und vertraute deutsche Dialekte sind die Briten machtlos. Ein schwäbisch schwätzender oder sächselnder Leitoffizier lässt sich hald nedd soo oifach imitiera, gell! Nu, saaacha mol …!
Die Y-Führung *4 ist inzwischen mit Hilfe von Zusatzgeräten störsicher – durch ein Nullanzeige-Gerät im Siemens E-Messgestell und einen Resonanzkopfhörer im Heinrich-1-Peiler. Das „Himmelbett-Verfahren“ mit der Führung einzelner Nachtjäger an „den Feind“ wird nur noch zur Vernichtung angeschossener Bomber oder zersplitterter Verbände in Betracht gezogen. Die Bekämpfung eines ganzen Bomberverbandes dagegen wird inzwischen im Sinne der so genannten „Zahmen Sau“-Führung mit Hilfe der Funkgeräte FuG 16 ZY organisiert. Diese sind vom Bordfunker in zwei Betriebsarten-Schalterstellungen bedienbar, der Stellung „EM“ und „FT“. Der Funksprechverkehr mit der Bodenleitstelle ist in beiden Schalterstellungen möglich, die Y-Führung dagegen nur in der Stellung „EM“.
Ein Originaldokument erläutert detailliert die Vorgehensweise nach der Aufgabe der von Kammhuber entwickelten Einzel-Heranführung eines Nachtjägers an sein spezifisches „Opfer“. Generalmajor Josef Kammhuber selbst wird prompt im Herbst von Generalmajor Beppo Schmid abgelöst. Inzwischen gilt:
„Die jeweils anzumessende Maschine schaltet auf EM, lässt sich anmessen [indem einfach Zahlen oder Ähnliches durchgegeben werden], Standort geben und schaltet zurück. Dann wiederholt sich der Vorgang mit den übrigen, auf die gleiche Linie gerasteten Maschinen. [...] Je nach Lage des Startplatzes zum Flugweg oder zu erwartenden Flugweg des feindlichen Bomberstromes werden die Nachtjäger gruppenweise entweder direkt vom Start weg in den Bomberstrom eingeschleust oder aber vorerst mit FuG 10 über die Flugsicherungsorganisation zu einem in Richtung des Flugweges des Feindes liegenden Funkfeuer als Sammelplatz geführt. Fliegt der Feind zu weit von diesem Funkfeuer vorbei, werden die Maschinen zu einem noch näher liegenden Funkfeuer weitergeleitet. Dann erfolgt die Einschleusung in den Bomberstrom (Abb.12). Hierzu erhalten alle über dem Funkfeuer wartenden Maschinen den Antretebefehl (Kurs zum Bomberstrom, Entfernung und Flughöhe). Dann wird die erste Maschine der Gruppe aufgefordert, auf EM zu gehen. Sie wird angemessen und bekommt den eigenen Standort und den Schwerpunkt des Bomberstromes als Jägergitternetzwert zugesprochen. Dann geht die erste Maschine auf FT zurück und bestimmt anhand der Angaben selbst den zu fliegenden Kurs. Jetzt erfolgt in gleicher Weise die Einschleusung der zweiten, dritten usw. Maschine, bis alle sich im Bomberstrom befinden. Je nach Entfernung des Sammelplatzes vom Flugweg des Bomberstroms erfolgt Einschleusung durch einmaligen Messverkehr mit jeder Maschine (Abb. 12 unten), oder durch abwechselnden wiederholten Messverkehr (Abb. 12 oben). So ist es möglich, auf einer Linie durch eine Y-Station in kürzester Frist bis über zehn Nachtjäger in den Bomberstrom zu führen.“
Der elektronische Krieg zwischen England und Deutschland droht derzeit trotz allen deutschen Achtungserfolgen in improvisierten Gegenmaßnahmen zu Gunsten der Briten entschieden zu werden. Die deutschen Techniker halten noch im November 1942 eine Anwendung von Zentimeterwellen für die Fernmesstechnik für wenig erfolgversprechend und wenn – so äußert sich Dr. Runge, Laborleiter der Telefunken-Werke – nur mit unverhältnismäßig hohem Aufwand überhaupt für möglich. Dabei hatte man im Jahre 1940 auf dem Hochfrequenzfeld noch einen klaren Vorsprung besessen. Man konzentriert sich aber weiter auf die Forschung und Entwicklung im 2,4-m- („Freya“-Gerät) und 50-80-cm-Bandbereich („Würzburg“-Geräte, der „Würzburg-Riese“ arbeitet auf 54 cm Wellenlänge). Bis im Februar 1943 durch den Ab-schuss eines britischen Pfadfinders mit H2S-Navigationsradar, welches exakt in dem als ungeeignet erachteten Zentimeter-Wellenlängebereich (9 cm) arbeitet, das Gegenteil der deutschen Annahmen bewiesen wird. Die Wrackteile lassen die Analyse der britischen Konstruktion zu – einer Entwicklung durch englische Ingenieure, die im Vergleich zu der Situation in Deutschland einen zehnfach höheren Forschungssaufwand betreiben können! In Deutschland sind die Versuche auf etwa 100 kleine Labore verteilt, die aus Sicherheitsgründen noch nicht einmal zusammenarbeiten dürfen. Es grenzt an ein Wunder, dass dennoch deutsche Entwicklungen schnell erarbeitet werden.
Jetzt – Mitte Oktober 1943 – kommen bereits neue Hilfsmittel auf deutscher Seite zum Einsatz. Diese elektronischen Geräte verbessern die Schlagkraft der Nachtjäger enorm.
Das FuG 220 „Lichtenstein SN-2“ ist ein Bordradar von fünf Kilometer Reichweite auf einer Frequenz, die durch die Aluminiumstreifen derzeitiger Länge nicht mehr gestört werden kann – allerdings nur, solange die Briten kein solches Gerät in die Hände bekommen! Aber auch dann ist die Störung erschwert, denn es ist ein Langwellengerät mit einer Wellenlänge von 3,3 m, was entsprechend lange Stanniolstreifen (beispielsweise ½ Länge = 1,65 m lang) zur Störung erfordern würde. Allerdings versagt es noch bei einer Mindestentfernung von etwa 500 Metern – in welcher der angeflogene Feindbomber meistens noch nicht mit bloßem Auge optisch sichtbar ist. Für diese letzte Distanz ist also immer noch ein „altes“ FuG 202 Lichtenstein BC (für die Me 110 F-4, G-2 und seit April 1943 G-4) oder C-1 (für die Ju 88 C-6) notwendig. Für diese, seit dem „Windows“-Desaster nun schlagartig störgefährdeten Anlagen stehen schon bald Nachrüstsätze zur Verfügung zur Frequenzänderung und Erhöhung der Störsicherheit („Wismar“). Allerdings konzentriert sich Telefunken mit Hochdruck auf die Optimierung und Fertigung der SN-2-Geräte, sodass „Wismar“ eher schleppend nachgerüstet wird. Im Frühjahr 1944 schließlich ist die Nahauflösung des SN-2-Bordradars so weit fortgeschritten, dass die FuG 202-Zweitgeräte entfallen können. Inzwischen sind 200 SN-2-Einrichtungen ausgeliefert, und die Nahbereich-Reichweite beträgt nun 300 Meter und wird bald noch weiter optimiert auf 200 Meter.
Das raffinierte Gerät „Flensburg“ (Flensburg I) reagiert infamerweise auf die im britischen Bomberheck eingebaute Warnanlage „Monica“. Deren Impulse werden nun zur Annäherungshilfe – jenes britische Gerät, das den Bomber eigentlich schützen soll, führt den deutschen Nachtjäger nun stattdessen genau zum Ziel.
Ferner versagt in den britischen Bombern nun die „Boozer“-Alarmanlage zur Erfassung der Anwesenheit angreifender deutscher Nachtjäger, und ebenfalls das seit Mitte 1943 eingeführte, auf das „Lichtenstein BC“ geeichte „Serrate“-System in den britischen Nachtjägern. Denn auf die Frequenzen des „Lichtenstein SN-2“ sprechen diese Geräte nicht an. Fatalerweise wissen die Engländer davon noch gar nichts. Und noch schlimmer: die Deutschen besitzen nun selber Heckwarnanlagen, beispielsweise das FuG 220 „Lichtenstein SN 2D“ (Telefunken) oder FuG 216 „Neptun R“ (Firma FFO, dieses Gerät wird vom RLM bevorzugt), die ihre Jäger vor einer unbemerkten Annäherung britischer Fernnachtjäger bewahren. Die Besatzungen der ab Januar 1944 aktuellen Mosquito NF Mk. XVII besitzen ein exzellentes, auf der störsicheren 3-cm-Wellenlänge arbeitendes Bordradargerät, welches in den USA entwickelt wurde, das AI Mark X (amerikanische Bezeichnung: SCR 720). Dieses Gerät in der flinken (595 km/h), gut bewaffneten zweisitzigen Mosquito ist für seine deutschen Gegner höchst gefährlich. Es wäre noch erfolgreicher, wenn das an sich auf das Geländeerfassungsradarsystem H2S angesetzte neue deutsche Bordgerät „Naxos-Z“ nicht praktischerweise die Ausstrahlungen dieses amerikanischen Nachtjagdgerätes ebenfalls erfassen würde. Naxos-Z wird damit zum wichtigsten Warngerät an Bord der Nachtjäger in der deutschen Luftwaffe. Und die Engländer ahnen nichts davon.
„Naxos“/„Naxburg“ (als Bodengerät) und „Naxos-Z“ (als Bordgerät – Fa. Telefunken/Lorenz) bzw. „Korfu-Z“/„Korfu-ZX“ (Blaupunkt) erfassen primär die Signale des britischen H2S-Bodennavigationsradars und bald auch deren Weiterentwicklung „H2X“ (deutscherseits „Rotterdam X“ genannt).
Messerschmitt Bf 110 G-4 EN des Staffelkapitäns der 5./NJG 5, Oberleutnant Wilhelm Johnen. Gut zu erkennen ist die mittlere Antenne des FuG 202 „Lichtenstein BC“ (bzw. FuG 212a „W“) und die vier großen äußeren Antennen des neuen FuG 220 „SN-2“.
Die H2S-Geräte auf 9-cm-Welle werden im Übrigen seit dem Auffinden im Wrack eines britischen Bombers am 2. Februar 1943 bei Rotterdam von den überraschten deutschen Technikern analysiert, das verfeinerte H2X auf 3-cm-Basis spätestens seit der Notlandung der B-24 „Sunshine“(449th BG USAAF) im März 1944 in der Nähe von Calais. Es hat die US-Variante „Meddo“-Bordrundsuchgerät eingebaut *5“. Eine eigene deutsche Entwicklung als Pendant, das FuG 224 „Berlin-A“, liefert schließlich schärfere und markantere Geländeumrisse als die alliierten Gegenstücke – im April 1944 ist es fertig! Etwas unpraktisch daran ist nur der Verwendungszweck, nämlich, dass die Domäne des strategischen Bombenkrieges inzwischen fast uneingeschränkt den Briten und Amerikanern gehört ...
„Naxos“ und „Korfu“ werden schon im September 1943 erprobt. Sie dienen der Defensive – mehr als sinnvoll derzeit! Die elektronische Erfassung der britischen Pfadfinder-Radargeräte durch diese neuen deutschen Funkmessgeräte ist von geradezu immensem Vorteil, da die Pfadfinder an der Spitze des Bomberstromes fliegen – das Ziel des Bomberverbandes wird also relativ früh erkennbar, ebenso der Flugweg der nachfolgenden Bomberansammlung. Außerdem benutzen die bereits Ablenkungsangriffe mit Windows-Abwurf fliegenden Pfadfinder-Mosquito-Bomber kein H2S-Radar und auch kein Nachtjagd-Bordradargerät – somit kann der eigentliche Bomberverband aus der Vielzahl der Signale zutreffend „herausgefiltert“ werden. Die Bodengeräte der Serie sind auf eine Entfernung von stolzen 300 Kilometer wirksam, ebenso die Bordgeräte „Korfu-Z/ZX“, während „Naxos-Z“ maximal 50 Kilometer abdeckt. Befindet sich ein deutscher Nachtjäger innerhalb des auf den Boden gerichteten Kegels der H2S-Signale, so muss er nur noch hochziehen, bis er den Bomber gefunden hat. Die rotierende Antenne seines „Naxos-Z“/ „Korfu-Z“ führt ihn von unten dorthin, wo der H2S-Bomber fliegt ... das heißt: noch fliegt.
Denn die nächste Waffe der deutschen Jäger nützt exakt die Angriffsposition schräg unter dem angegriffenen Bomber – im toten Sichtwinkel aller Besatzungsmitglieder. Man nennt sie „Schräge Musik“. Es sind zwei parallele 20-mm-Kanonen, die zusätzlich zu den konventionell direkt nach vorne schießenden Waffen (4 MG 17 und zwei MG 151-20-mm-Kanonen) so in die Nachtjäger eingebaut werden, dass sie in steilem Winkel (~70°) schräg nach vorne oben feuern. Die Nachtjägerbesatzung schleicht sich unbemerkt von unten an ihr Opfer an, welches die Gefahr nicht ahnend ruhig Kurs und Geschwindigkeit hält. Der Pilot koordiniert seinen Kurs und sein Tempo auf den Bomber. Ein schräg nach oben in der Kanzelhaube vor und über dem Flugzeugführer montiertes Reflexvisier erlaubt exaktes Zielen. Dann drückt er auf den Auslöseknopf der Waffen. Von unten sind die Treibstofftanks und die beim Anflug prallvoll mit Sprengstoff oder Phosphorbrandkanistern gefüllten Bombenschächte völlig ungeschützt. Die tödliche Fracht wird der Bomberbesatzung nun selbst zum Verhängnis. Da die Kanonen der „Schrägen Musik“ im Gegensatz zu den übrigen Waffen des Jägers keine Leuchtspurmunition verschießen, ist die plötzliche gewaltige Explosion des Bombers für die daneben fliegenden Kameraden des Opfers zunächst ein Rätsel. Manch einer der Beobachter hat wenig Zeit, sich zu wundern ...
Man führt es lange unbedarft auf direkte Flaktreffer zurück, bis die Briten irgendwann die Einschusslöcher entkommener Bomber analysieren. Die Reaktion ist „Fishpond“, mit welchem der britische Bordfunker den Luftraum unter sich ab Herbst 1943 nach feindlichen Jägern absuchen kann. Allerdings nur dann, wenn sein Bomber über eines der neuen H2X-Bordnavigationsradar-Geräte verfügt.
Nach Möglichkeit versuchen die deutschen Piloten, die Tragflächentanks der Bomber zu treffen – Heinz-Wolfgang Schnaufer beispielsweise zielt wohlüberlegt meistens auf die rechte Tragfläche seines Opfers. Es könnte im Prinzip auch die linke sein – jedenfalls vermeiden das Nachtjäger-Ass und seine erfahreneren Kameraden Treffer im Rumpf. Denn diese können zu einer derartig heftigen Explosion des gegnerischen Flugzeuges führen, dass der eigene Nachtjäger durch die auseinander fliegenden Trümmer selber gefährdet wäre. Aus diesem Grund kippen die deutschen Piloten auch sofort nach dem Feuerstoß in die Tanks ab und verschwinden aus dem Nahbereich um den brennenden Bomber herum. Mit dem Reflexvisier lässt sich bei gleichem Kurs und angepasster Geschwindigkeit in aller Ruhe sehr genau zielen – die „Tommies“ da oben können den Jäger nicht sehen, daher herrscht keine Eile. Schnaufer und seine beiden Besatzungsmitglieder, Bordmechaniker (Beobachter) Oberfeldwebel Wilhelm Gänsler und Bordfunker Leutnant Fritz Rumpelhardt, sind auch durchaus Mensch genug, den „Kameraden mit der anderen Feldpostnummer“ eine Chance zum Absprung zu gönnen.
Schnaufer mit seiner Besatzung kann je nach taktischer Situation mit beiden Waffensystemen umgehen – den starr nach vorne in der Rumpfnase eingebauten Maschinengewehren und Kanonen sowie der starr nach vorne oben feuernden „Schrägen Musik“. Allerdings bevorzugt er (entgegen diverser anderslautender Mutmaßungen) die nach oben feuernde „Geheimwaffe“. Andere Piloten teilen diese Auffassung nicht, Hauptmann Hans-Joachim Jabs beispielsweise, damals noch Kommandeur der IV. Gruppe des NJG 1, hegt eine tiefe Abneigung gegen diese, seiner Ansicht nach der Natur eines Jagdfliegers völlig zuwider laufende Angriffsweise. *6 Er bevorzugt die traditionelle Abschussmethode „von hinten unten“. Vor allem jüngere Piloten des Geschwaders sehen das nicht so.
Entwickelt wurde die Methode an sich bereits im Ersten Weltkrieg durch deutsche Piloten, beispielsweise Leutnant Thiede. Danach greifen die Japaner diese Idee auf. Das Reichsluftfahrtministerium in Deutschland bleibt jedoch lange stur, auch gegen den Rat des damaligen Oberleutnant Rudolf Schoenert, bis der inzwischen zum Kommandeur der II./NJG 5 beförderte Schoenert im Mai 1943 in einer eigenmächtig, sträflich vorschriftswidrig umgebauten Messerschmitt Bf 110 deren Wirkung beweist!
Erwähnt werden soll noch das strömungsgünstige, mit nur stachelförmig nach oben aus dem Rumpf ragenden Antennen arbeitende FuG 217 „Neptun J“. Das Zielsuch-Radargerät ist so handlich, dass es in einen einmotorigen Jäger passt, und ähnelt in seiner Leistung dem FuG 220 „Lichtenstein SN-2“. Der Pilot kann durch Umschaltung auf einem einzigen Rundinstrument nacheinander Entfernung, seitliche Position und Höhe des Feindzieles ablesen. Das moderne Gerät macht die einmotorigen Jagdflugzeuge der „Wilden Sau“ Hajo Hermanns zu den ersten echten Allwetterjägern der Welt. Anfang 1944 werden 35 Maschinen damit ausgerüstet. Das Problem ist nur, dass zwar die Heranführung an den Gegner mit der Umschaltanzeige kein Problem darstellt, in Feindnähe aber das gleichzeitige Fliegen eines Hochleistungsjägers, Starren auf das (auch noch dauernd in der Anzeige zu bedienende) Rundinstrument und das Absuchen des Nachthimmels sich fast ausschließen. Gewöhnen sich die Augen an die Anzeige, sehen sie am Himmel nichts mehr, und umgekehrt. Für die zweimotorigen Nachtjäger bevorzugt man daher das zwar durch die „Hirschgeweih-Antennen“ wesentlich strömungs-ungünstigere, mit den Parallelanzeigen aber praktischer erscheinende FuG 220 „Lichtenstein SN-2“. „Neptun J“ darf nicht verwechselt werden mit dem Rückwarnsystem FuG 216 „Neptun R“ und dem späteren geradezu revolutionären Bordradar der Kriegsmonate ab Ende 1944, FuG 218 „Neptun V“.
Auch neue Jäger stehen den Deutschen nun zur Verfügung. Doch verhindern politische Entscheidungen deren Einführung in größerem Stil. Heinkel hat mit der He 219 „Uhu“ einen fortschrittlichen und schnellen, schwer bewaffneten Nachtjäger entwickelt, welcher sich selbst der britischen Mosquito als ebenbürtig erweist (allerdings nur in der speziell zur Mosquito-Bekämpfung als Kleinserie aufgelegten, krass erleichterten und an Feuerkraft reduzierten Version A-6, mit einer Höchstgeschwindigkeit von 650 km/h im Vergleich zu 595 km/h der bereits erwähnten Mosquito NF Mk. XVII, zu 599 km/h bei der NF Mark XIX und 655 km/h Höchstgeschwindigkeit der gegen Ende 1944 eingeführten Mosquito NF Mk. 30.). Als erstes Flugzeug der Welt besitzt die He 219 für beide Besatzungsmitglieder einen druckluftbetriebenen Schleudersitz. Pilot und Funker genießen in der auf den Vorderrumpf aufgesetzten Glaskanzel Rücken an Rücken sitzend eine exzellente Rundumsicht. Ferner besitzt das Flugzeug eine Bugfahrwerksanordnung – das Muster ist konstruktiv hochmodern. Die Version A-5 ist immer noch stolze 615 km/h schnell. Und durch die Waffenanordnung unter dem Rumpf und in den Tragflächenwurzeln entfällt jegliche Blendwirkung des Mündungsfeuers auf den Piloten. Doch unter dem anhaltenden Druck der Bombenangriffe hatte Generalluftzeugmeister Erhard Milch beschlossen, die Produktion der allmählich unüberschaubaren Typenvielfalt auf wenige, dafür in Masse produzierte Typen zu beschränken. Er übersieht dabei allerdings, dass die Ausstoßzahlen der Luftfahrtindustrie in Bezug auf die Nachtjäger der Typen Me 110 und Ju 88 keinen Anlass dazu geben, Sorge vor einer Reduzierung der „Massenproduktion“ dieser Flugzeugmuster durch neue Bandstraßen für ein Nachfolgemodell aufkommen zu lassen. Die Ersatzlieferungen reichen „hinten und vorne nicht“ – von einer durch die He 219 gefährdeten „Massenproduktion“ kann keine Rede sein! Milchs grundsätzlich dennoch sinnvollen Sichtweise fällt nun der „Uhu“ zum Opfer, obwohl Major Werner Streib von der I./NJG 1 in Venlo in dem verzweifelten Versuch, die Überlegenheit dieser Maschine zu demonstrieren, am 11. Juni 1943 mit einer Erstserienmaschine in einer Nacht fünf Lancaster-Bomber abgeschossen hatte.
Als Milch das hört, sagt er lapidar: „dieser Mann hätte das in jeder Maschine geschafft!“. Milch bleibt bei seiner Fehlentscheidung, die für die Nachtjagd getrost als Tragödie betrachtet werden muss. Es ist ähnlich, als hätten die zunächst auch skeptischen Verantwortlichen der Royal Air Force aus Angst vor dem Holzwurm auf ihre überragende „Mosquito“ verzichtet. Immerhin gelingt es Heinkel, trotz politischer Widerstände 268 Maschinen dieses überlegenen Typs an die Luftwaffe auszuliefern. Es sind ver gleichsweise wenige, doch sie werden geflogen und in der I./NJG 1auch effektiv eingesetzt.
Die Bedeutung der Dornier-Nachtjäger Do 217 J-2 oder N-2 sinkt auf Grund mäßiger Leistungen und Produktionszahl. Allerdings sind auch die Leistungsreserven der älteren Me 110 F-4 und Ju 88 C-6 gegen die britischen Halifax- und Lancaster-Bomber inzwischen fast aufgebraucht, sofern diese ihre Höchstgeschwindigkeit nutzen – was im Verbandsflug fast nie der Fall ist, zum Glück für die deutschen Angreifer. Eine Mosquito ist für eine Messerschmitt Bf 110 oder Junkers Ju 88 ohnehin fast uneinholbar schnell, auf diese fast schon zu symbolhaften Ikonen stilisierten Gegner werden mit mäßigem Erfolg einmotorige Me 109 G-5 mit DB-605-AS-Motor (mit dem Lader des DB 603) und GM-1-Einspritzung angesetzt. Auch einige speziell leichter und damit schneller gemachte, sogar hochglanzpolierte Focke-Wulf 190 A-5 versuchen mehr oder minder vergeblich ihr Glück. Seit Frühjahr 1943 tauchen die gefährlichen zweimotorigen britischen Maschinen mehr und mehr auch als Fernnachtjäger auf, welche die Bristol „Beaufighter“ in dieser Rolle verdrängen. Sie werden mehr als lästig!
Heinkel He 219 „Uhu“. Dieser neue Nachtjäger ist schlank, wendig, schnell und gut bewaffnet, er erhält dennoch dank kurzsichtiger Beschaffungspolitik nur geringe Priorität.
Statt die dringend benötigten He 219 in Großserie in Dienst zu stellen, werden nun die Junkers Ju 88 verbessert, und ab dem Jahr 1944 in der G-1-Version ausgeliefert. Die Ju 88 der G-Serie sind hervorragende Maschinen und erreichen im zuletzt eingesetzten Typ G-7b (mit MW 50) auch 626 km/h. Trotzdem ist die He 219 das überlegene Flugzeug. Doch selbst die in die Jahre gekommenen Messerschmitt Bf 110, inzwischen in der Version G-4 mit 550 km/h Höchstgeschwindigkeit, bewähren sich nach wie er erstaunlich gut. Viele der sie fliegenden Nachtjagdasse wollen sie nicht gegen andere Muster tauschen.
Junkers Ju 88 G-6 der I./NJG 100 mit FuG 220 „Lichtenstein SN-2“.
Messerschmitt Bf 110 G-4 mit FuG 220 „Lichtenstein SN-2“.
Inzwischen besitzen die Deutschen sogar Rundsuchanlagen – umlaufende, sich drehende Radarantennen, die ein perfektes Luftlagebild ergeben. Das Gerät „Jagdschloss“ hat eine Reichweite von immerhin 200 Kilometer und wird um die Jahreswende der Jahre 1943 und 1944 erstmals ausgeliefert. Das letzte Modell dieser Serie, das „Jagdschloss Z“ des Jahres 1945, ist gegen sämtliche Störversuche immun. Hält man sich vor Augen, dass zu diesem Zeitpunkt bereits deutsche funkgelenkte Boden-Luft-Flugabwehrraketen („Rheinland A“) mit Steuerung vom Boden aus durch eine eingebaute Fernsehkamera einsatzreif sind, so lässt sich der technologische Stand Deutschlands bei Kriegsende erahnen!
Am 3. November 1943 verspricht Air Chief Marshal Arthur Harris dem britischen Premierminister Winston Churchill in einer Denkschrift: „Wir können Berlin vom einen bis zum anderen Ende vollständig in Trümmer legen, falls die USAAF [die amerikanische Bomberflotte] sich daran beteiligt. Uns mag es zwar zwischen 400 und 500 Flugzeuge kosten, doch die Deutschen den Verlust des Krieges!“
Am 18. November 1943 beginnt die Royal Air Force ihre Angriffe auf Berlin. Die Bomber kommen wieder, am 22./23.11., 23./24.11., 26./27.11., 2./3.12., 16./17.12., 23./24.12., 1./2.1., 2./3.1., 20./21.1. (Berlin wird verfehlt), 27./28.1., 30./31.1. und 15./16. Februar 1944. Die Einflüge tief ins deutsche Hinterland sind verlustreich, doch ein Feuersturm wie in Hamburg lässt sich in Deutschlands Hauptstadt auf Grund der breiten Alleen, die wie Brandschneisen wirken, allen Bemühungen zum Trotz nicht wiederholen. Berlin beklagt Tausende von Toten, allein im November 1943sind es 4.330 Opfer, in der letzten Januarnacht 1944 etwa 1.000. Über eine halbe Million Berliner sind obdachlos, als die Angriffsserie vorerst abebbt. 427 britische Bomber sind abgeschossen worden, so viele wie erwartet. Doch Berlin ist nicht gebrochen, weder der Wille, noch die Fähigkeit, trotz dieser Schläge nicht aufzugeben. Der „Verlust des Krieges“ ist für Deutschland kaum mehr aufzuhalten. Doch entschieden wird der Krieg nicht in den Bombennächten von Berlin, sondern letztlich Meter für Meter am Boden.
Den Endpunkt der englischen Bomberoffensive auf die „Reichshauptstadt“ markiert der Angriff in der Nacht vom 24. auf den 25. März 1944. Der starke Wind in dieser Nacht führt zu einer deutlichen Zersplitterung des britischen Bomberstromes – und deutsche Flak und Nachtjäger sorgen für seine Dezimierung. Harris hatte 577 Lancaster, 216 Halifax und 16 Mosquitos nach Berlin geschickt – 811 Flugzeuge. Es fehlen 72 bei der Landung (44 Lancaster und 28 Halifax)! Das ist eine Verlustquote von fast 9 %! Um es plastischer vorstellbar auszudrücken: nicht ganz jeder elfte Stuhl bleibt am folgenden Tag leer in den Kantinen der beteiligten RAF Bomber-Groups! 14 deutsche Nachtjäger gehen verloren.
Junkers Ju 88 G-1 mit FuG 220 „Lichtenstein SN-2“ und Blindlandegerät FuBl 2.
Avro „Lancaster“.
Auch Harris hat den deutschen Kampfgeist und Durchhaltewillen unterschätzt. „Die Stärke der deutschen Abwehr hatte mit der Zeit einen Punkt erreicht, an dem Bombenangriffe bei Nacht mit den vorhandenen Methoden so verlustreich geworden sind, dass sie auf Dauer nicht aufrechterhalten werden können!“ – so stellt er später fest (SAO Band 2, Seite 195, via Franz Kurowski *7).
Die britischen Terrorflüge sind auch im eigenen Land nicht unumstritten. Doch können sich die Kritiker genauso wenig durchsetzen, wie es in Deutschland gelungen wäre, Einfluss auf den menschenverachtenden Terror in Hitlers Regime zu nehmen. Allerdings wird in Deutschlands politischen Verhältnissen ein Aufbegehren allzu schnell mit kurzem Prozess geahndet – es ist im Angesicht der „Geheimen Staatspolizei“ (Gestapo) des Diktators Hitler absolut tödlich. Ein Beispiel hierfür ist das Schicksal von Sophie Scholl, die am 18. Februar 1943 beim Verteilen von regimekritischen Flugblättern erwischt und zusammen mit ihrem Bruder Hans und dem Studenten Christoph Probst am 22. Februar 1943 enthauptet wird. Sie sind in ihren Ansichten nicht allein, die studentische Widerstandsgruppe „Weiße Rose“ besteht nicht nur aus ihnen. Doch es ist eine Minderheit, zumal die Briten und Amerikaner mit der Wirkung ihrer Luftangriffe ein Übriges tun, den deutschen Zusammenhalt ganz entgegen dem erklärten Ziel des „moral bombing“ eher zu stärken und sich hinter die staatlichen Organisationen zu scharen, die als Einzige noch Hilfe versprechen. Ein Hinterfragen von Anzeichen für Hitlers Machenschaften, welches dringend geboten wäre, wird nicht gefördert, da man „andere Sorgen“ hat.
Die Verhältnisse in Großbritannien sind glücklicherweise davon grundlegend verschieden. England ist eine Demokratie. Am 9. Februar 1944 zitiert Bischof Bell aus Chichester vor dem britischen Oberhaus einen Artikel der schwedischen Zeitung „Svenska Dagbladet“: *8 „Die englischen Bombenangriffe haben erreicht, was Hitlers Erlasse nie erreichen würden: dass die Mehrheit der deutschen Bevölkerung hinter dem Krieg steht!“
Bischof Bell spricht sich energisch für eine sofortige Beendigung dieser Bombenangriffe gegen die Zivilbevölkerung aus. „Hitler ist ein Barbar! Es gibt sicherlich auf alliierter Seite keinen ehrbaren Menschen, der vorschlagen würde, dass wir ihn uns zum Vorbild machen oder versuchen sollten, mit ihm auf diesem Sektor zu wetteifern. [...] Das, meine Lords, ist keine vertretbare Form der Kriegsführung mehr!“
Das sieht die Mehrheit des britischen Oberhauses anders. Viscount Fitzalan of Dervent: “Ich bin bis auf die Knochen ein Anhänger des Bombenkrieges, meine Lords! Ich stimme der Bombardierung Deutschlands zu, wie die Regierung sie betreibt, und hoffe, dass noch mehr in dieser Richtung geschieht!“ Der Regierungssprecher, Viscount Cranborne, versäumt nicht, in dasselbe Horn zu blasen: „Der einzige Weg, diesen Horror zu beenden, ist, unsere Feinde schnell und vollständig zu schlagen und einen dauerhaften Frieden zu installieren. Das ist der einzige Weg. Dieses Ziel dürfen wir nicht aus den Augen verlieren, wie gütig unser Herz und wie tief unser Mitgefühl auch sein mag.“
Die Amerikaner haben zunächst eher moralische Skrupel und ziehen Tagesangriffe auf Industrieziele vor. Zunächst! Allerdings haben sie inzwischen über Schweinfurt und Stuttgart Lehrgeld bezahlt und warten auf die Einführung neuer druckbelüfteter Zusatztanks für ihre Jäger, welche diese in die Lage versetzen, tief nach Deutschland als Begleitschutz mitzufliegen. Auch verspricht das neue P-51 „Mustang“-Jagdflugzeug die Lösung zu sein gegen die deutschen Abfangjäger, welche den amerikanischen Viermotorigen so vernichtende Schläge zugefügt hatten. Ab Frühjahr 1944steht es zur Verfügung. Die erste mit P-51 B ausgerüstete „Mustang“-Group der 8th USAAF *9 (357th FG) fliegt zum ersten Mal am 11. Februar 1944 im Einsatz. Was folgt, ist die Herausforderung der deutschen Jagdwaffe in Tagesangriffen im Februar 1944 – die „Big Week“ (Große Woche). Die Amerikaner verlieren 226 Bomber und 28 Jäger (eine andere Quelle spricht von über 400 Flugzeugverlusten).
Doch auch die deutschen Jägereinheiten beklagen 225 tote Piloten. Zum ersten Mal neigt sich die Waagschale zu Gunsten der Alliierten, denn einen Abnützungskrieg dieser Dimension können sich die Amerikaner inzwischen leisten, die Deutschen längst nicht mehr. Viele der gefallenen Piloten waren erfahren und sind nun für die Tagjagdgeschwader der deutschen Luftwaffe schlichtweg unersetzlich.
Seit dem 4. März 1944 greifen nun auch die Amerikaner Berlin am Tage an. Ihre Gewissensbisse gegenüber Angriffen auf die Zivilbevölkerung verlieren sich mehr und mehr. Am 6. März 1944 erscheinen sie mit 800 Bombern und ebenso vielen Begleitjägern über der deutschen Hauptstadt. Elf US-Jäger und 69 Bomber werden abgeschossen, 105 schwer beschädigt. Die Abwurfgenauigkeit ist wenig befriedigend, müssen sich die Bomber doch pausenlos erbitterten Attacken deutscher Jäger erwehren.
In der Nacht sind die Leuchtmarkierungen der britischen „Pfadfinder“-Einheiten inzwischen zu einer fast regelmäßigen Einrichtung am Himmel der deutschen Städte geworden. Neben den Mosquitos werden auch viermotorige Lancaster-Bomber mit H2S-/ H2X-Navigationsradar als Markierungsflugzeuge eingesetzt. Sie fliegen dem Haupt-Bomberstrom voraus – notwendigerweise, da die Markierungen ja vor dem Abwurf erfolgen. Es sind etwa 25 Maschinen – je nach Größe des Verbandes. Ferner gibt es inzwischen einen Leitbomber, der den gesamten Einsatz und den Bombenabwurf koordiniert. Zum ersten Mal war ein solcher „Master Bomber“ bei einem vernichtenden Angriff auf das (wie man glaubte) geheime deutsche Versuchsgelände in Peenemünde in der Nacht vom 17. zum 18. August 1943 eingesetzt worden. Die Deutschen nennen das spezifische Flugzeug den „Zeremonienmeister“.
Natürlich wäre es verlockend, diesen Führungsbomber abzuschießen. Viel ist darüber geschrieben worden, dass ein Fuchs wie Heinz-Wolfgang Schnaufer dieses wiederholt versucht hätte. Bei jenem eingangs geschilderten Einflug gegen Schnaufers Geburtsstadt Stuttgart in der Nacht vom 29.auf den 30. Juli 1944 habe er gar einen kompletten britischen Bombenangriff durch gezielten Abschuss des „Zeremonienmeisters“ vereitelt und „sein“ Stuttgart vor dem Verderben gerettet. Dabei sei er fast selber abgeschossen worden, nur die Beschussfestigkeit der vom Heckschützen der Lancaster getroffenen Me 110 Schnaufers habe ihn und seine Besatzung vor dem Absturz bewahrt. Der ganze „Bombensegen“ sei von den jetzt führungslos und desorientiert umherirrenden britischen Bombern auf die unschuldige Natur der Wälder von Renningen „abgeladen“ worden und habe statt Frauen und Kinder nun Rehe und Füchse in Stücke gerissen. Derweil habe Schnaufers Bordschütze quasi im Vorbeiflug aus dem angeschossenen Jäger heraus nach hinten feuernd noch eine weitere Lancaster erledigt ...
Trümmerberge in Stuttgart. Links ist der 1928 als erstes Stuttgarter Hochhaus errichtete Tagblatt-Turm zu sehen, in der Bildmitte die Ruine des Kaufhauses „Breuninger“, dahinter das alte Rathaus, rechts am Bildrand die Stiftskirche.
Nun, die Pfadfinderbomber könnten als Vorhut des Bomberstromes möglicherweise erkennbar sein. Diese Tatsache macht sie auffällig. Zudem ist ihr Navigationsradar H2S/H2X durch die inzwischen standardmäßig in den deutschen Nachtjägern verfügbaren Zielerkennungsgeräte „Naxos-Z“ erfassbar. Die so ausgerüsteten Bomber imponieren elektronisch fast wie „Glühwürmchen im Bomberstrom“, wie sich Helmut Bukowski sehr anschaulich ausdrückt *10. Andererseits besitzen nun fast 20 % der normalen Bomber ebenfalls das Navigationsradar, sie sind eher mit den älteren H2S-Geräten bestückt. Wie man allerdings aus der Vielzahl dieser Maschinen den Zeremonienmeister herausfiltern will, das ist zumindest dem Bordfunker Schnaufers, Fritz Rumpelhardt, ein Rätsel.
Leutnant Fritz Rumpelhardt hat sich nachträglich mit den kursierenden „Heldensagen“*11 auseinander gesetzt. Er berichtet in der erwähnten Quelle (aus dem Englischen rückübersetzt):
„Ich habe in meinem Flugbuch nachgesehen! Wir starteten in St. Trond um 00.45 Uhr am 29.7.44 und wir kehrten auch wieder nach St. Trond zurück um 03.06 Uhr mit einer intakten Maschine und unbeschädigter Radar- und Funkausrüstung. Wir erreichten drei Abschüsse, alle drei wurden von Schnaufer mit seiner ‚schrägen Musik’ erzielt. Heinz hatte schon lange das rückwärts feuernde Zwillingsmaschinengewehr, ein MG 81Z für den Bordschützen, aus dem Flugzeug ausbauen lassen, um es schneller zu machen (durch Gewichtsreduktion und Verringerung des Luftwiderstandes). Es gab also gar keine Möglichkeit für Wilhelm Gänsler, selber einen Bomber abzuschießen. Beide Artikel sind frei erfunden [...].“
Da Rumpelhardt dabei war, darf man ihm wohl glauben.
Es sei noch angemerkt, dass jedem Führungsbomber mindestens eine Ersatzmaschine zugeordnet ist und selbst ohne Führung dieser Leitmaschinen die Pfadfinder ihrer Zielmarkierungs-Aufgabe gewachsen wären. Wie gewachsen, das mag das linksseitig gezeigte, bestürzend beeindruckende Luftbild darlegen. Es zeigt die erwähnte süddeutsche Großstadt Stuttgart im Jahr 1945.*12
Original-Nachtjagdkarte mit Funkfeuer „IDA“.
In der Nacht vom 30. auf den 31. März 1944 greifen die Briten die symbolträchtige Stadt Nürnberg an. 795 britische Bomber machen sich auf den Weg nach Süddeutschland – sie verteilen sich auf 572 des Typs Avro „Lancaster“, 214 des Musters Handley Page „Halifax“ und neun Mosquitos. Die deutschen Nachtjäger sind entschlossen, ihnen einen heißen Empfang zu bereiten. Sie versammeln sich weisungsgemäß über Funkfeuer IDA, wel ches nach den bisherigen Radar-Erkenntnissen in der Nähe des Flugweges des Bomberstromes liegt. Die Erkenntnisse sind ein Volltreffer. Der Bomberstrom fliegt genau auf die wartenden Jäger zu. Es ist eine sternenklare Nacht – und bitterkalt. Die üblicherweise im Dunkeln unsichtbaren Kondensstreifen der jeweils vier Motoren jedes Bombers zeichnen sich im fahlen Licht des Halbmondes als deutlich erkennbare phosphoreszierend schimmernde Schleppe hinter jeder Maschine ab. Das sehen auch die Besatzungen der Bomber. Der Klos im Hals wird immer dicker. Wo ist die schützende Wolkendecke, welche die Meteorologen bis kurz vor dem Ziel vorhergesagt hatten? Ein Wettererkundungsflug mit einer Mosquito hatte bereits Zweifel aufkommen lassen, doch das wissen die Bomberbesatzungen nicht. Das ist auch gut so, denn sie wären wenig erfreut darüber, dass man sie trotz dieser Zweifel losbeordert hatte – quasi ins „offene Messer“ geschickt?
Über IDA sehen die deutschen Piloten ihre Gegner wie auf dem Präsentierteller. Und den Jäger-Besatzungen sind die Eindrücke, Bilder von Hamburg wie auch den vielen anderen Städten nur zu präsent. Jeder Abschuss rettet unzählige Menschenleben – Frauen, Kinder, Mütter und Greise. Ihre Entschlossenheit ist nicht zu überbieten. Die britischen Bomber trudeln mit der tödlichen Präzision von einem Bomber pro Minute vom Nachthimmel, die meisten lichterloh brennend.
Flying Officer Foley sitzt in einer isolierten Kabine seines Pfadfinder-Lancaster-Bombers am H2S-Navigationsgerät. Er hat keine Sicht nach außen. Er erschrickt zu Tode, als er über die Bordsprechanlage die fatalistische Stimme seines Piloten vernimmt: „Ihr legt wohl besser die Fallschirme an, Jungs! Ich habe gerade beobachtet, dass der Zweiundvierzigste runtergefallen ist!“.
Aus allen Teilen Deutschlands fliegen Jagdflugzeuge heran. Nur fünf von ihnen werden nicht wieder auf ihren Basen landen, die von 13 britischen „Intruder“- (Eindringling) Mosquito-Nachtjägern nach Kräften überwacht werden. 19 „Serrate“-Nachtjäger der RAF machen inzwischen in der Nähe ihrer Schützlinge Jagd auf ihre deutschen „Kollegen“. Dagegen ist es ist ein Spießrutenlauf für die britischen Bomber-Besatzungen. 95 Bomber werden abgeschossen, ein weiterer geht bei einem Nebeneinsatz zur Unterstützung der französischen „Resistance“ (Widerstandsbewegung) verloren. Zwölf Maschinen zerschellen zusätzlich bei der Landung, 71 Maschinen landen schwer beschädigt. Arthur Harris hat in einer Nacht 107 Bomber verloren, das sind 13,5 % der eingesetzten Flugzeuge! Mehr Männer in einer einzigen Nacht, als das britische Fighter Command (Jägerkommando) während der gesamten Luftschlacht um England eingebüßt hatte. Doch auch er ist entschlossen, nicht aufzugeben.
In der Nacht vom 27. zum 28. April 1944 greifen 322 Lancaster und eine Mosquito ein weit entferntes Ziel am größten deutschen Binnensee an – einem See, den sich Deutschland und Österreich mit der neutralen Schweiz teilen. Friedrichshafen liegt am Bodensee, hier werden Panzermotoren und Getriebe hergestellt, viele Arbeiter in den Rüstungsfabriken sind KZ-Häftlinge. Die deutschen Nachtjäger fangen die Briten erst über dem Ziel ab. Friedrichshafen wird zu fast 70 % zerstört, doch auch die Rüstungsproduktion wird dieses Mal sehr schwer beeinträchtigt. 18 Lancaster kehren nicht zurück.
In derselben Nacht findet allerdings zusätzlich ein Ablenkungsangriff auf die Bahnanlagen von Montzen an der belgisch-deutschen Grenze statt. Auch dieser Angriff ist verlustreich.
28. April 1944, 02.09 Uhr, südöstlich von Diest
Flugzeugtyp: |
Avro Lancaster B III |
Nationalität: |
Royal Canadian Air Force (RCAF) |
Einheit: |
405 (Pathfinder) Squadron |
Besatzung: |
Besatzung der JA976 |
Stationierung: |
Grandsen Lodge/Bedfordshire/England |
Flugzeugtyp: |
Messerschmitt Bf 110 G-4 |
Nationalität: |
Luftwaffe |
Einheit: |
Stab/NJG 1 |
Pilot: |
Geschwaderkommodore des NJG 1, Hauptmann Hans-Joachim Jabs mit Besatzung |
Stationierung: |
St. Trond/Belgien |
Hinweis: die Karte zeigt im Gegensatz zu den Frontverlaufskarten den Nachkriegsgrenzverlauf (Lothringen u.a.), da hier die Lokalisation des Ortes aus heutiger Sicht im Vordergrund steht.
Avro “Lancaster” B III der 405 (Pathfinder) Squadron RCAF, Grandsen Lodge, England, 1944. Profil nach Datenlage.
Messerschmitt Bf 110 G-4, Hauptmann (ab 1. Mai 1944 Major) Hans-Joachim Jabs, Geschwaderkommodore des NJG 1, St. Trond, Belgien, 28. April 1944, Profil nach Originalfoto.
Von den eingesetzten 120 Bombern des Typs Handley Page „Halifax“, 16 Lancaster-Maschinen und acht Mosquitos werden 15 Bomber abgeschossen – 14 Halifax und eine Lancaster. Jene einzige unglückliche Lancaster ist ein „Pfadfinder“-Bomber der kanadischen 405 Squadron RCAF, gesteuert von Squadron Leader Edward Weyman „Teddy“ Blenkinsop. Es ist der Reserve-Master-Bomber der Formation. Der Angriff ist wenig erfolgreich – nur ein Teil der Bahnanlagen wird getroffen. Blenkinsops Maschine operiert auch als Markierungsbomber. Nach dem Abwerfen der „Christbäume“ wendet der Pilot und richtet seinen Kurs aus auf die derzeitige Heimat – das rettende England. Doch die Hoffnung der Crew ist heute trügerisch. Blenkinsops Lancaster kommt nicht weit ...
Es muss ziemlich genau über den Scheinwerferbatterien um Maastricht sein, als sich das Schicksal der Besatzung erfüllt. Ein deutscher Nachtjäger schießt die kanadische Lancaster vom Himmel. An manchen Stellen wird behauptet, der treffsichere deutsche Pilot habe eine Junkers Ju 88 geflogen. Indes deckt sich nach den Recherchen des Autors Ort und Zeit ziemlich genau mit den Abschussangaben des Kommodore des nahebei in St. Trond stationierten Nachtjagdgeschwaders 1, Hauptmann Hans-Joachim Jabs. „Achim“ Jabs aber fliegt eine Messerschmitt Bf 109 G-4, er schießt exakt in der Rückflugsroute von Montzen nach England um 02.09 Uhr eine Avro „Lancaster“ vom Himmel, und zwar nach den deutschen Angaben in 4.500 Meter Höhe zwei Kilometer südöstlich von Diest. Die britischen Analen wiederum definieren den Absturzort der Lancaster Squadron Leaders Blenkinsop vollkommen identisch als „shot down by a night fighter and crashed at Webbelkom (Brabant), 2 km SE of Diest ...“. Diest, etwa 70 Kilometer von Montzen entfernt, liegt 40 Kilometer nordwestlich von Maastricht – in dieser Gegend also trifft es die Kanadier, die vermutlich Jabs zum Opfer fallen, vorausgesetzt, dass Jabs die auf Montzen angesetzten Lancaster bekämpfte. Denn dieser Bomberpulk verliert angeblich nur eine einzige Avro „Lancaster“. Da Jabs um 02.25 Uhr, also nur eine Viertelstunde später, bei Rotterdam auch eine Halifax „herunter holt“, muss es sich aber definitiv bei dem von ihm angegriffenen Verband um jenen handeln, dessen Ziel die Bahnanlagen von Montzen gewesen waren. Der von Friedrichshafen zurückkehrende Bomberstrom enthält nämlich keine Maschinen des Typs Halifax ...! Alternativ kommt allerdings der Kommandeur der 11./NJG 1 als Bezwinger in Betracht. Auch Oberleutnant Georg-Hermann Greiner fliegt eine Me 109 G-4, er schießt fast zeitgleich mit Jabs um 01.58 Uhr bei Genk (nur 30 Kilometer östlich von Diest, aber nicht exakt identisch mit der Angabe „2 km SE of Diest“) eine Lancaster ab und danach um 02.00 Uhr bei Eindhoven eine Halifax. Die Briten vermelden aber nur den Verlust einer (1) Lancaster. Somit ist in einem der beiden deutschen Abschussberichte von der Verwechslung mit einer Halifax auszugehen.
Teddy Blenkinsop ist der einzige Überlebende seiner Besatzung – zunächst. Zumindest, wenn man von Flight Lieutenant Smith absieht, der bald am 1. Mai 1944 seinen Wunden erliegt. Blenkinsop wird von belgischen Widerstandskämpfern gefunden, später aber bei einem versuchten Attentat mit ihnen zusammen gefangen genommen. Zunächst muss der Kanadier Zwangsarbeit leisten, er wird später in ein Konzentrationslager eingeliefert und stirbt dort an einer „Herzattacke“. Hatte dies eine natürliche Ursache oder war sie provoziert? Keiner weiß es, doch eine Giftspritze wird diskutiert.
Jabs ficht wenige Stunden später bei Tageslicht seinen bemerkenswertesten Luftkampf. Am 29. April 1944 fliegt der Noch-Hauptmann, als Geschwaderkommodore aber bereits designierte Major zusammen mit seiner Besatzung und einem schönen, saftigen belgischen Schinken von St. Trond zu seiner Stabs-Basis in Deelen (bei Arnheim in Holland). Als er dort landen will, löst sich die bisher seinen Tiefflug schützende dichte Wolkendecke auf. Jabs sieht einmotorige Flugzeuge über dem Flugplatz, hält sie aber unbedarft für eigene Jäger. Bis die Maschinen unverhofft von hinten zum Angriff ansetzen ...
Jabs war den acht Spitfire Mk. IX der 132 Squadron RAF genau in die Arme geflogen. Die Einheit wird von Squadron Leader Geoffrey Page geführt, einem britischen Jäger-Ass. Für Jabs und seine Männer wird es eng. Was nun? In die Wolken verschwinden? Das reicht nicht mehr! Jabs hat keine andere Wahl, als sich der zahlenmäßigen Übermacht an auch noch ganz erheblich wendigeren und schnelleren Feindjägern zu stellen – ein völlig chancenloser Kampf! Die Spitfire-Piloten überschätzen aber zunächst die Geschwindigkeit des deutschen Nachtjägers, kurven viel zu schnell ein und verfehlen ihn mit ihrem Feuer. Eine „Spit“ schießt von hinten an Jabs vorbei, überholt die Me 110 G-4. Jabs kurvt kurz hinter sie – und schießt aus allen Rohren. Er trifft. Pilot Officer R.B. Bullin zerschellt mit seiner brennenden Spitfire. Die anderen machen derweil kehrt und kommen nun von vorne. Dort besitzt die Me 110 eine ganze Waffenbatterie! Flying Officer (Flight Lieutenant?) J.J. Caulton bekommt es zu spüren. Er schafft es gerade noch, seine angeschossene Spitfire auf dem Flugfeld notzulanden. Genau das macht jetzt auch Jabs, kurz entschlossen und flink – ein weiterer Angriff der soeben wieder eindrehenden Briten wäre kaum noch einmal zu überstehen. Schon jetzt ist der Dusel nicht zu fassen.
Hans-Joachim Jabs.
Die in Deelen notgelandete Me 110 G-4 – äußerlich erstaunlich „unversehrt“ erscheinend.
Die Deutschen können gerade noch aus der bruchgelandeten Messerschmitt springen, als der deutsche Nachtjäger von seinen inzwischen reichlich erbosten Gegnern am Boden zerschossen wird. Das Flugzeug wird durchsiebt – ohne die Besatzung, allerdings mitsamt dem schönen, saftigen Schinken!
Geoffrey Page wird der „Abschuss“ anerkannt. Als er Jahre nach dem Krieg in München mit Jabs zusammentrifft, beklagt sich dieser scherzhaft über den Verlust der Delikatesse! Wenig später erhält Jabs aus England ein Weihnachtsgeschenk. Es ist ein herrlich duftendes Post-Paket ...
Am 6. Juni 1944 landen die Alliierten in der Normandie, britische, kanadische, amerikanische und später auch französische Bodentruppen rücken gegen Deutschland vor. Von Osten hat sich die russische „Dampfwalze“ in Richtung auf die Reichsgrenzen in Bewegung gesetzt. Deren geradezu gigantische Massen an Geschützen, Panzern, Truppen und Erdkampfflugzeugen sind nun nicht mehr aufzuhalten. Im Süden wird erbittert in Italien gekämpft. Deutschland ist im Zangengriff. Das Ende ist abzusehen.
Allmählich macht sich die Wirkung der amerikanischen Luftkriegs-Doktrin bemerkbar. Auch die Amerikaner beteiligen sich längst an Flächenbombardements, doch greifen sie konsequent auch weiterhin bevorzugt Industrieziele an.
Der Kampf um die Treibstoffindustrie und die Verkehrswege gibt schließlich den Ausschlag.
Bis zum Ende des Krieges stehen der deutschen Luftwaffe genügend Flugzeuge zur Verfügung, doch nicht genug Piloten. Es gelingt den Amerikanern nicht, die Flugzeugproduktion zu unterbinden, geschweige denn den Briten. Doch die Treibstoffindustrie kommt mehr und mehr zum Erliegen. Spätestens seit dem Verlust der rumänischen Ölquellen in Ploeşti ist die Lage bedrohlich, die beharrlichen Angriffe auf die deutschen Hydrierwerke beispielsweise in Merseburg versetzen der Luftwaffe den Todesstoß. Ist Treibstoff vorhanden, so wird der Transport zu den Flugzeugen immer schwieriger. Flugstunden werden überall beschnitten. Die jungen deutschen Flugzeugführer können kaum ihre Maschine fliegen, dann werden sie bereits in einen Kampf geworfen, in welchem ein Pilot völlig unterbewusst die Bedienung seines Jägers beherrschen können muss, um sich auf das taktische Überleben zu konzentrieren. Bereits im Frühjahr 1944 müssen 160 Flugstunden für deutsche Nachwuchspiloten genügen – Amerikaner erhalten die doppelte Schulungszeit. Die Differenz wird immer höher, 1945 verbleiben nur noch etwa 40 Übungsstunden. Doch sie kämpfen verbissen bis zum Untergang.
Auch Arthur Harris kämpft verbissen um seine Doktrin – bis zum Untergang, allerdings beileibe nicht dem eigenen. Anfang 1945 ist längst klar geworden, dass seine Flächenbombardements keine Verkürzung des Krieges bewirken können. Und doch wird unbeirrt weitergebombt, ein Ziel nach dem anderen dem Erdboden gleichgemacht. Immer noch wehrt sich die Luftwaffe verzweifelt, doch sie steht auf hoffnungslos verlorenem Posten. Harris` Bomben-Ziele werden herausgesucht nach simplen Kriterien. Was noch nicht zerstört ist, steht auf der Liste. Ohne Schonung, ohne irgendeine Rücksicht.
Inzwischen hat sich der technische Wettlauf erneut fortgesetzt. Im Morgengrauen des 13. Juli 1944 fliegt die noch unerfahrene Besatzung um den Obergefreiten Mäckle mit ihrem Nachtjäger in Richtung eines Funkfeuers, nachdem auf der Suche nach minenlegenden Stirlings ihr Kompass ausfällt. Mäckle wähnt sich in der Nähe von Berlin, als er auf einem unbekannten Flugplatz mit seiner Ju 88 G-1 der 7./NJG 2 zur Landung ansetzt. Er und seine Kameraden sind mehr als verblüfft, als sie in die Karabinermündungen britischer Soldaten blicken. Sie sind in Woodbridge in Suffolk gelandet.
So fallen den Engländern völlig unbeschädigt ein FuG 220 „Lichtenstein SN-2“, ein „Flensburg I“ – Gerät FuG 227 und ein FuG 350 Z „Naxos-Z“ in die Hände. Natürlich ist auch ein FuG 25a mit Freund-Feind-Kennung an Bord. Die Technik der genannten, größtenteils bisher in England völlig unbekannten Geräte ist innerhalb von Wochen entschlüsselt – sie schlägt ein wie eine Bombe.
Sofort wird Monica – das britische Heckwarnradar, auf welches das Flensburg-Gerät sich einstellt – deaktiviert. Das im Vergleich zum Vorgängergerät „BC“ erheblich schwieriger störbare Bordradar „SN-2“ setzt man mit veränderten Aluminiumstreifen und ab Oktober 1944 mit Störsendern („Piperack“) zunehmend außer Gefecht. Piperack wird in die viermotorigen Bomber der 100 Group eingebaut, einer Spezialtruppe, deren inzwischen vier Squadrons mit Störgeräten vollgestopfte Flugzeuge benutzen. Die beiden mit B-17 „Fortress“, B-24 „Liberator“ jeweils amerikanischer Bauart und zwei weiteren mit Halifax-Bombern ausgerüsteten Squadrons stören nun neben dem deutschen Funkverkehr („Jostle“, Nachfolger des „Airborne Cigar“) mit den Piperack-Geräten auch die SN-2-Signale der feindlichen Nachtjäger. Was diese wiederum anpeilen können und somit prompt zur Zielfindung missbrauchen! Die Fernnachtjagd-Mosquitos erhalten neben ihrem bereits vorhandenen überlegenen AI Mark X-Bordradar „Serrate IV“-Ortungsgeräte, welche jetzt auf die deutschen SN-2-Signale ansprechen. Ferner werden „Perfectos“-Einrichtungen eingebaut, welche fast hinterhältig die deutsche Freund-Feind-Kennung der FuG 25a auslösen und dann die zurückgesandten Signale anpeilen. Die Mosquito-Nachtjäger der Royal Air Force werden zu einer sehr ernsten Gefahr für die Luftwaffenjäger!
Gegen sie und die Mosquito-Bomberversionen setzen die Deutschen seit Dezember 1944 überlegene Düsenjets ein – zunächst einsitzige, ab Ende Februar 1945 zweisitzige Me 262 B-1a/U1-Nachtjäger. Innerhalb von zehn Tagen des März 1945 schießt Feldwebel Karl-Heinz Becker sechs Mosquitos ab *13, Oberleutnant Kurt Welter alleine in der Nacht des 30. März vier der schnellen Maschinen, die sich jetzt fast frech und sicher fühlend im deutschen Luftraum bewegen. 48 erwischt die Staffel insgesamt!
Die deutsche Reaktion auf die aktualisierten britischen Störmaßnahmen lässt ebenso wenig lange auf sich warten. Die FuG 227 „Flensburg II-IV“ orten die Bordstörsender der Briten und führen so die deutschen Nachtjäger ausgerechnet an die lästigen Sabotiermaschinen der Gegenseite heran. Die Antennen des SN-2-Bordradars werden als Schnellbehelf schräg gestellt – gerade die schwer störbaren Frequenzanteile sind nun besser zu empfangen. Neue deutsche Radargeräte werden zudem schnellstmöglich eingeführt zum Austausch der Lichtenstein SN-2-Geräte. Das FuG 218V „Neptun V“ Bordradar der Firma Siemens ist eigentlich schon länger in Arbeit, wurde aber immer wieder zurückgestellt. Nun konstruiert man es mit Hochdruck fertig zum Ersatz des ab September 1944 wirksam gestörten Lichtenstein SN-2. Es funktioniert einwandfrei, denn es nutzt einen Frequenzbereich (1,66 m-1,80 m), den die Briten bis zum Kriegsende nicht als Arbeitsband entdecken. Allerdings kann es erst ab Januar 1945 ausgeliefert werden, etwa 150 der circa 500 produzierten Geräte werden noch eingebaut und größtenteils auch eingesetzt. Das Neptun V wird gegen Kriegsende sogar noch getoppt durch das FuG 240/1-4 „Berlin“, welches gar keine den Luftwiderstand erhöhenden und die Geschwindigkeit um bis zu 50 Kilometer/h reduzierenden Antennen mehr benötigt – ähnlich wie das bewährte britisch-amerikanische AI Mark X. Es basiert auf einer kleinen bewegten Parabolantenne im holzverkleideten Flugzeugbug, nutzt die 9-cm-Technologie und wird überwiegend in die Ju 88 G-6 eingebaut (ein Beispiel ist NM, NJG 4). Nur etwa 30 Geräte können noch ausgeliefert werden. Ebenso fortschrittlich ist das Flak-Leitradar „Egerland“ (Telefunken), das die Geschütze bereits halbautomatisch auf die gewählten Ziele einstellt und sowohl ein rotierendes Rundsuch-Panorama-Radar („Kulmbach“) als auch ein Zielerfassungsradar („Marbach“) anwendet. In Teltow wird eine Flak-Batterie damit noch ausgerüstet. Es arbeitet auf der früher so vernachlässigten störsicheren 9-cm-Wellenlänge.
Doch was hilft das noch? Einen letzten Achtungserfolg erringen die deutschen Nachtjäger, als etwa 100 Ju 88 und He 219 „Uhu“ am 3. März 1945 in zwei großen Wellen die britischen Flugplätze in Norfolk, Suffolk, Lincolnshire und Yorkshire gezielt zu dem Zeitpunkt heimsuchen, als deren Bomber von einem Angriff gegen Kamen und den Dortmund-Ems-Kanal zurückkehren (Unternehmen „Gisela“). 22 werden abgeschossen, acht weitere beschädigt.
Doch die Zerstörung der deutschen Städte können sie nicht verhindern. Ihren grausigen Höhepunkt erreicht die Orgie der Vernichtung in der Nacht vom 13. auf den 14. Februar 1945 mit zwei aufeinander folgenden Wellen an insgesamt 773 Lancaster-Bombern und neun Mosquitos, welche die Barockstadt Dresden von 22.03 Uhr bis 22.28 Uhr und von 01.25 Uhr bis 01.55 Uhr in ein flammendes Inferno verwandeln. Die erste Welle an 244 Bombern wirft über 800 Tonnen Bomben, der zweite Angriff wird von 529 Lancaster geflogen, die über 1.800 Tonnen Last an Bord haben. Unmittelbar am nächsten Mittag folgt ein Angriff von 311 amerikanischen Boeing B-17-Bombern zwischen 12.17 Uhr und 12.31 Uhr. Die Amerikaner werfen noch einmal 771 Tonnen Bomben ab.
Die Amerikaner vernichten schließlich, was noch nicht vernichtet ist.
1.500 Bomber stehen dem britischen Bomber Command inzwischen zur Verfügung. Die amerikanische 8th USAAF alleine hatte bereits Ende 1944 zusätzlich über 2.000 schwere Bomber zum Einsatz gebracht. Die Verbände der 12th und 15th USAAF kommen hinzu, außerdem die zweimotorigen Mittelstreckenbomber der 9th USAAF.
Der Chef der britischen Royal Air Force und Koordinator für die anglo-amerikanischen Luftangriffe, Sir Portal, konstatiert: Nunmehr ist die Zeit gekommen, zum direkten Angriff auf die Moral des deutschen Volkes anzutreten“ .*14
Warum gerade Dresden als Ziel herausgesucht wurde, darüber gab es lange Zeit wilde Spekulationen. So wurde behauptet, die bereits wenige Kilometer vor der Stadt stehenden Russen hätten einen solchen Luftschlag gefordert. Das sowjetische Oberkommando sagt hierzu später, allerdings in einer Zeit, in der bereits offene Feindschaft zwischen den ehemaligen Waffenbrüdern herrscht:
„Die Zerstörung Dresdens war nur ein Glied in der Kette der moralischen Einschüchterung der deutschen Bevölkerung und zugleich eine Demonstration gegenüber der Sowjetunion. Die Bombenangriffe entsprachen und entsprangen politischen Zielen der Westmächte, um vor der ganzen Welt ihre Macht zu beweisen. Dresden sollte als Lehrstück dienen, dem Hiroshima und Nagasaki folgten.“
Fest steht, dass am 27. Januar 1945 der Stellvertreter des britischen Chef-Koordinators Sir Portal, Air Vice Marshal Bottomley, einen mächtigen Bombenangriff gegen eines der folgenden „Ziele“ fordert: die Städte Berlin, Dresden, Leipzig oder Chemnitz. Es wird gewählt. Die Wahl fällt auf Dresden.
Fest steht ebenfalls, dass die amerikanischen Bomber der 8th USAAF bewusst an diesem Angriff teilnehmen sollten. Offenbar aus politischen Gründen! US-General of the Army George C. Marshall hatte die neue Offensive der Flächenbombardierungen auch für die US-Bomber ausdrücklich genehmigt.
Am Morgen des 13. Februar 1945 eröffnet Luftmarschall (Air Chief Marshal) Arthur Harris, Kommandeur der Abteilung „Bomber“ in der Royal Air Force, seinen Stabsoffizieren:
„Gentlemen, heute Nacht werden wir Dresden angreifen. Ich kenne zwar keinen besonderen Grund, der zu dieser Auswahl geführt hat, aber der Angriff wurde uns von oberster Stelle mit größter Dringlichkeit befohlen.“
Oberste Stelle? Die oberste Stelle in Großbritannien heißt Winston Churchill!
Die offizielle britische Dokumentation zum sechzigsten Jahrestag des Bomber Command der Royal Air Force nennt die Beweggründe aus britischer Sicht. Dort ist nachzulesen:
„Das Luft(fahrt)ministerium hatte schon seit Monaten eine Serie besonders schwerer Luftangriffe gegen deutsche Städte erwogen mit Blick darauf, ein derartiges Chaos und eine solche fassungslose Bestürzung hervorzurufen, dass die hart bedrängte deutsche Kriegsmaschinerie und zivile Verwaltung zusammenbrechen würde und der Krieg damit beendet sei. Man gab dieser Operation den Namen „Tunderclap“ [„Donnerschlag“], doch man beschloss, diese Maßnahme so lange nicht durchzuführen, bis die militärische Situation für Deutschland ausgesprochen kritisch geworden sei. Dieser Moment schien nun gekommen zu sein. Sowjetische Truppen waren in der zweiten Januarhälfte rasch durch Polen vorgestoßen und hatten die östliche Grenze Deutschlands bereits überschritten. Die Deutschen kämpften nun also mit dem Rücken an der Wand auf ihrem eigenen Territorium, wobei die Lage im Osten besonders bedrohlich war.
Die Städte Berlin, Dresden, Leipzig und Chemnitz wurden als besonders geeignete Ziele angesehen. Sie lagen alle inzwischen nur noch kurz hinter der deutschen Frontlinie, besaßen wichtige Kommunikations- und Versorgungseinrichtungen und waren bereits vollgestopft mit deutschen Flüchtlingen und Verwundeten aus den jüngst von den Russen eroberten Gebieten. Neben den Überlegungen in Hinblick auf den deutschen Durchhaltewillen sollten die Angriffe auch ein Verlagern von Truppen aus der Westfront an die Ostfront verhindern, welche dem erfolgreichen russischen Vorstoß noch begegnen sollten. Das Luft(fahrt)ministerium erstellte Ende Januar 1945 eine entsprechende Direktive an das Bomber Command. Die offiziellen Unterlagen belegen, wie Winston Churchill höchstpersönlich die letztliche Planung der Operation Thunderclap in die Hand nahm – obwohl Churchill später nach dem Dresden-Raid versucht hat, sich davon zu distanzieren. Am 4. Februar 1945 baten die Sowjets während der Yalta-Konferenz zwar um derartige Luftangriffe, aber ihr Einfluss in den Vorgang kam erst, nachdem die Pläne bereits angeordnet waren.
Das Bomber Command war also konkret vom Luft(fahrt)ministerium auf Churchills Anregung hin angewiesen worden, schwere Bombenangriffe gegen Dresden, Chemnitz und Leipzig zu fliegen. Die Amerikaner wurden ebenfalls um Unterstützung gebeten und sagten diese zu. Die Aktion sollte mit einem amerikanischen Angriff auf Dresden am 13. Februar 1945 beginnen, doch schlechtes Wetter über Europa verhinderte jegliche amerikanische Operationen. So lag es nun am Bomber Command, den ersten Schlag auszuführen.“
Am Nachmittag werden die Besatzungen der britischen Bomber eingewiesen. Die Einweisung beginnt folgendermaßen:
„Dresden ist die siebtgrößte Stadt Deutschlands und darüber hinaus die größte bisher noch nicht bombardierte Fläche Deutschlands. Die Stadt hat sich bis heute zu einem Industriezentrum von hervorragender Bedeutung entwickelt. Sie verfügt über ein umfassendes Netz an Telefon- und Eisenbahnverbindungen. Unsere Ziele bestehen darin, den Gegner an einer Stelle zu treffen, wo er es am meisten spürt: hinter einer sich bereits in Auflösung befindlichen Front, und auf diese Weise gleichzeitig den Russen zu demonstrieren, was das Bomber Command anrichten kann.“ *15
„Industriezentrum?“ Dresden besitzt zwar Produktionsstätten, doch sind die meisten davon kleinere bis mittlere Betriebe, vor allem jene im Stadtgebiet. Sie haben geringe kriegswichtige Bedeutung. Anders sieht es aus in Bezug auf die Zeiss-Ikon-Werke in Dresden-Striesen am Stadtrand und die beiden Sachsenwerke in Radeberg und Niedersedlitz. Doch diese werden nicht einmal angegriffen und bleiben daher völlig unbeschädigt. Es geht schlicht nicht um sie – sondern um die Menschen in Dresden.
Auch um die Telefonverbindungen und Verkehrswege, vor allem die Bahnhöfe. Hierfür interessieren sich die amerikanischen Planer. Die britischen Strategen nicht. Das Zielareal des ersten nächtlichen Luftangriffes ist ein klarer Beleg hierfür. Denn es umfasst genau die Altstadt, das prächtige, romantische Herz der Stadt, von dem es traumhafte Fotos und Gemälde gibt. Das der Vernichtung zugedachte Gebiet ist ein Viertelkreis, dessen Ränder von der Marienbrücke, der Ammonstraße und der Sankt Petersburger Straße bis hinter die Carolabrücke reichen. Es umfasst also die Altstadt mit der berühmten Semper-Oper, dem Zwinger, dem Residenzschloss, der Kreuzkirche und der Frauenkirche einschließlich der Seevorstadt West und reicht an den Rand der Pirnaschen Vorstadt. Auf der anderen Seite reicht es an den Rand des großen Bahnhofes Dresden-Friedrichstadt. Mit etwas Abstand!
Kein einziger der immerhin 18 Bahnhöfe Dresdens liegt in diesem Zielgebiet!
In Dresden rechnet niemand mit einem Bombenangriff. Das heißt – niemand in der Bevölkerung! Gauleiter Mutschmann sorgt im Bereich seiner Stadtvilla und des Jagdschlosses mit Bunkeranlagen vor! Der Bevölkerung allerdings stehen kaum sichere Schutzanlagen zur Verfügung. Man hatte zwar zwei riesige Löschwasserbecken am Altmarkt in den Boden eingebracht. Aber keine Luftschutzbunker gebaut. Die als so genannte „Luftschutzräume“ ausgewiesenen Keller besitzen in Dresden meistens weder feuersichere Türen noch Deckenverstärkungen oder Luftfilteranlagen. Im Jahr 1943 hatte man ein kilometerlanges Fluchttunnelsystem angelegt, welches viele Keller der Häuser verbindet und durch dünne, leicht zu durchbrechende Zwischenwände abgegrenzt ist. Dieses System soll Verschütteten helfen, über die angrenzenden Keller einen Weg ins Freie zu finden, wenn das Haus über ihnen in Trümmern liegt und der Kellereingang versperrt ist. Eine sinnvolle Maßnahme – bei Bombenangriffen mit überwiegender Benutzung von Sprengbomben. Doch nicht dann, wenn Spezialisten und Pyrotechniker eine Bombenmixtur zusammenbrauen, gegen die die Hölle einer harmlosen Sauna ähnelt.
Dresden hatte durchaus bereits kleinere Luftangriffe erlebt. Am 24. August 1944 hatten 65 amerikanische Boeing B-17 der 92nd Bomb Group das Mineralölwerk Rhenania-Ossag im Dresdner Vorort Freital angegriffen und mit 161,5 Tonnen Sprengbomben immerhin 241 Menschen getötet, weitere 267 Dresdner sterben am 7. Oktober 1944 bei einem Luftangriff auf den Verschiebebahnhof Dresden-Friedrichstadt durch 30 B-17 der 303rd Bomb Group USAAF, die 72,5 Tonnen Sprengbomben abladen. Doch das waren eindeutig militärische Ziele. Kein Angriff auf die Stadt selbst, wenn auch viele der Bomben im Stadtgebiet um das mitten innerhalb der Wohnflächen liegende Ziel detonieren. Immerhin 138 B-24 „Liberator“ legen am 16. Januar 1945 noch einmal nach und werfen 341,8 Tonnen Bomben auf den Großbahnhof in der Stadt, davon sind nun erstmals 42 Tonnen Brandbomben. Dies fordert 334 Opfer.
In Anbetracht der prächtigen, unersetzlichen Bausubstanz der „Elb-Florenz“ genannten Stadt glauben die Dresdner Bürger hinsichtlich eines Flächenbombardements aber an ein „Einsehen“ der Alliierten. Seit Ende Januar 1945 verfügt die Luftabwehr von Dresden über kein einziges Flugabwehrgeschütz mehr. Die werden alle an der nahen Front benötigt, um nicht nur mit Handgranaten und Fäusten gegen die Flut der russischen Panzer angehen zu müssen. Es waren einmal 84 Geschütze des effektiven Kalibers 8,8 cm gewesen, die nun fehlen – bitter fehlen!
Es gibt kein Einsehen!
In Dresden sind am Abend des 13. Februar 1945 viele Flüchtlinge aus Breslau und den übrigen von der Roten Armee überrannten Ostgebieten. Täglich treffen neue Flüchtlingstrecks ein, Menschen, die oft Schlimmes mitgemacht haben und froh sind, den Übergriffen und Gewalttaten der sowjetischen Soldaten entronnen zu sein, von denen man allenthalben hört. Manche haben sie auch erlebt und konnten entkommen. Unter den Flüchtlingen befindet sich die Mutter eines Freundes des Autors, die mit ihrem kleinen Sohn – einer Ahnung folgend – wenige Stunden vor dem Angriff mit dem letzten Zug die Stadt verlässt. Alle jene, die sie noch etwas zum Bleiben bewegen wollten, sieht sie nie wieder ...
Es ist Faschingsdienstag, die Kinder sind ausgelassen und fröhlich, viele verkleidet. Etwa 600.000 bis 650.000 Menschen bevölkern die Stadt, viele kampieren im Freien. Der weltberühmte Zirkus Sarrasani gibt eine Vorstellung, als um 21.39 Uhr die Sirenen heulen. Es ist nicht das erste Mal, und nur selten war Dresden wirklich betroffen. Man bleibt ruhig, sucht das auf, was man „Schutzräume“ nennt. *16
Squadron Leader Maurice Smith hat in seinem Mosquito-“Master-Bomber” keine Mühe, das Ziel der Erstmarkierung auszumachen. Es ist das Fußballstadion des Dresdner Sportclubs am Ostra-Ufer nahe der Marienbrücke. Er findet keine Flak-Abwehr vor – die Stadt ist offensichtlich wehrlos. Daraufhin beordert er die acht übrigen Mosquito-Pfadfinder herbei, die nun das Zielareal mit ihren „Christbaum“-Markierungen im Tiefflug „abstecken“. Die roten Leuchtkreise sind perfekt sichtbar, als der „Zeremonienmeister“ nun seine Bomber von 6.700 Metern Flughöhe auf 3.000 Meter Anflughöhe unter die Wolkendecke herunterdirigiert. Ohne Flak-Abwehr ist diese niedrigere Flughöhe sicher, sie ist für den gezielten Bombenabwurf komfortabler als fast 7.000 Meter und sie bietet eine klare Sicht auf das Ziel.
Maurice Smith kreist in seiner Mosquito über dem Bomberstrom und überwacht die Präzision der Bombenschützen in den Lancaster-Maschinen. Sie leisten ganze Arbeit. Bereits der erste Angriff führt wie geplant und ausdrücklich erhofft zu einem gigantischen Feuersturm. 172 „Luftminen“ zerschmettern ganze Wohnblocks, legen Dächer frei, schleudern Brennbares ins Freie. Die Brandherde vereinigen sich. Ein Orkan entsteht, reißt glühende Teile mit sich, lässt Plastik sowie Metall schmelzen und wirbelt Autos und Straßenlaternen durch die feurige Luft. Der Asphalt schmilzt, wird zur klebrigen Masse, brennt. Dort, wo diese Feuersbrunst wütet, gibt es kein Entrinnen mehr. Auch nicht in den „Luftschutzräumen“ und Kellern, denn die Hitze ist auch dort viel zu immens, als dass man sie überleben könnte. Selbst wenn, so verbrauchen die Flammen sämtlichen Sauerstoff ...
Doch das Inferno entsteht selbst in der Altstadt nicht überall – bisher. Manche Straßen sind noch begehbar, über sie fliehen manche Überlebende, als um 22.28 Uhr der letzte Angreifer abdreht. Knapp östlich der brennenden Innenstadt schließt sich an das Stadtzentrum der Große Garten an, am Elbufer findet sich östlich der Carolabrücke ein breiter Grünstreifen, die so genannten Elbwiesen.
Dorthin fliehen nun die Menschen. Dort sind sie sicher vor einstürzenden Mauern, dort ist noch Luft genug zum Atmen. Die vielen heimatlosen Flüchtlinge wissen ohnehin nicht, wohin sonst. Hier stehen ihre Planwagen. Die meisten hatten während des Bombenhagels in Kellern Schutz gesucht, bangen nun aber um den traurigen Rest ihrer Habe und versammeln sich hier. Es sind tausende Menschen! Inzwischen eilen von überall Feuerwehren herbei, um zu retten, was noch zu retten ist. Das hat der Planungsstab unter Arthur Harris einkalkuliert. Feuerwehrleute und Hilfskräfte mindern den Erfolg des Bombardements. Also müssen sie bekämpft werden. Die Männer fahren in den Tod – so ist es in England eingeplant und vorhergesehen.
Denn nun ertönen erneut die Sirenen. Außer in der Altstadt, dort gibt es keinen Strom und wohl auch keine Sirenen mehr. Sie wären im Prasseln der Flammen und Heulen des Feuersturmes ohnehin kaum zu hören. Und die, denen sie gelten, sind in den Kellern verloren. Denn nun rächen sich die unterirdischen Fluchtstollen, die jetzt wie Kanäle für die heiße Luft und den Rauch wirken.
Um 01.25 Uhr muss Squadron Leader Peter de Wesselow in seiner de Havilland „Mosquito“ eine wichtige Entscheidung treffen. Er fliegt den Führungsbomber der zweiten, erheblich größeren Bomber-Welle, die nun der ersten genau in dem Zeitabstand folgt, den die Feuerwehren der Umgebung Dresdens benötigen, um vor Ort zu sein. Der Master-Bomber hat die bisher entstandene Lage zu prüfen. Soll er den zweiten Angriff auf dasselbe Zielgebiet dirigieren, das der erste Verband schon getroffen hat? Oder ist die Zerstörung dort so vollkommen, dass das Abwurfgebiet ausgedehnt werden sollte?
Die Zerstörung der Altstadt scheint bereits zufrieden stellend gelungen zu sein! Die nächsten Bomben fallen nun auf die Umgebung des flammenden Brandherdes. Sie explodieren auf den Elbwiesen, im Großen Garten, mitten unter Tausenden panisch entsetzter schutzloser Menschen, entzünden alles, was brennbar ist. Auch Kleider. Brandgel in Art von Napalm aus Bombenkanistern spritzt meterhoch umher, klebt penetrant, ist schwer zu löschen und entflammt bei Luftzufuhr erneut. Der zweite Luftangriff der Royal Air Force steigert etwas, was bereits kaum mehr zu steigern ist. Der Feuersturm ist nun vollkommen. Ein Orkan mit Temperaturen über 1.000 °C. Was hier geschieht, ist selbst mit Fantasie nicht vorstellbar.
Die beiden britischen Verbände verlieren zusammen sechs Avro „Lancaster“, zwei weitere gehen in Frankreich zu Bruch und eine muss in England notlanden.
Über der Stadt liegt eine schwarze schwere Rauchwolke, als die Sonne des 14. Februar 1945 aufgeht. Diejenigen, die diese Hölle überlebt haben, empfinden es nicht als Glück. Sie empfinden größtenteils gar nichts mehr, so groß ist das Grauen. Viele flüchten sich immer noch ans Ufer des Flusses Elbe, der mit seinem breiten Uferstreifen durch die einst so wunderschöne sächsische Stadt fließt. Sie ahnen nicht, dass von 1.293 effektiv eingesetzten amerikanischen Bombern 1.220 auf dem Weg nach Mitteldeutschland sind. 802 von 881 gestarteten Begleitjägern sind zur Deckung dieser Bomberpulks eingeteilt. Von den Bombern erreichen 340 B-24 „Liberator“ Magdeburg und 294 Boeing B-17 Chemnitz als Ziel. Andere Maschinen greifen (teilweise versehentlich) Nebenziele an. Immerhin 311 von 461 eigentlich eingeplanten B-17-„Fliegenden Festungen“ erscheinen über dem weidwunden Dresden!
Amerikanische Boeing B-17 G am 14. Februar 1945 über Dresden. Der raketenartige Rauchschweif stammt von einer Zielmarkierung.
Mit dem erklärten Ziel, den strategisch wichtigen Rangierbahnhof zu zerstören. Mit 474,7 Tonnen Sprengbomben und 296,3 Tonnen Brandbomben. Ein „Präzisionsangriff“ auf den Bahnhof mit radargestütztem Zielanflug durch die Wolkendecke. Auf Gleisanlagen mit einem Drittel Brandbomben, deren Zerstörungswirkung allenfalls auf die Bahnhofsgebäude wirksam ist? Es kommen Fragen auf ...
Der Luftangriff findet zwischen 12.17 Uhr und 12.23 Uhr statt, durch Nachzügler bis 12.31 Uhr.
Ebenfalls fragwürdig sind Berichte, die amerikanische Jagdeskorte habe systematisch Jagd auf die Überlebenden der Katastrophe gemacht und mit ihren Bordwaffen ein weiteres Blutbad angerichtet. Diese Meldungen, durch angebliche Augenzeugenberichte untermauert *17, werden von den amerikanischen Stellen allerdings bis heute dementiert. Und es scheint, dass sie dies zu Recht tun.
Der Autor Dr. Helmut Schnatz hat sich außerordentlich fundiert mit dieser Frage befasst *18. An der Begleitschutzmission sind die amerikanischen Mustangs der 20th Fighter Group, 356th FG, 359th FG und 364th FG beteiligt, die alle von England aus einen weiten Weg bis Mitteldeutschland zurücklegen müssen. Hinzu kommt die 352nd FG, die von Chievre bei Brüssel aus startet und es daher näher hat.
Der Anflug der amerikanischen Bomberpulks findet in etwa 8.500 Metern Höhe über einer am 14. Februar 1945 zwischen 6/10 und 10/10 geschlossenen Wolkendecke statt. Über dem Ziel fliegen die Verbände in der Regel etwa 1.000 Meter tiefer, doch immer noch über den Wolken. Nur einzelne Wolkenlücken erlauben die Sicht auf das zudem rauchgeschwängerte Dresden. Die Lage ändert sich allerdings immer wieder. Während die 356th FG meldet, Feuer in der Stadt zu sehen, die 359th FG von einer 6/10-Bedeckung spricht, kann die 352nd FG außer Wolken gar nichts unter sich erkennen. Der Angriff muss also im Wesentlichen mit elektronischen Radar-Zielhilfen durchgeführt werden. Ein Luftbild, erstellt von einer britischen Aufklärungs-Mosquito der 106 Group um 13.15 Uhr zeigt schwere Qualmwolken und Brände, die einen Tiefangriff zumindest an den Elbwiesen im eigentlichen Stadtgebiet mangels Sicht recht gefährlich erscheinen lassen. Dort – unter anderem – soll es gewesen sein.
Die US Field Order 1622a für den Einsatz enthält immerhin die ausdrückliche Anweisung an die beteiligten Fighter Squadrons, Tiefangriffe durchzuführen. Allerdings nur unter bestimmten Bedingungen:
„Etwaige Tiefangriffe können auf dem Rückflug nach dem Ermessen der Gruppenführer [„leaders, gemeint wohl „Group leaders“] geflogen werden, wenn keine Feindflugzeuge angetroffen werden oder erwartet werden können. Nur die „A“-Gruppen werden Bodenziele angreifen. Flugplätze werden nicht – ich wiederhole – nicht attackiert!“
Also sind Tiefangriffe expressis verbis erlaubt und angeordnet – allerdings ausdrücklich nur auf dem Rückflug und ausschließlich dann, wenn deutsche Jäger nicht in der Nähe sind. Das sind sie aber während des Bombenangriffes auf Dresden! Es ist zwar ein Himmelfahrtskommando, mit 146Jagdflugzeugen gegen die den Luftraum in Mitteldeutschland völlig kontrollierenden 758 P-51 „Mustangs“ und 44 P-47 „Thunderbolts“ anzugehen, doch die deutschen Jagdflieger starten.
Es sind zusammen 78 Messerschmitt Bf 109 G-10/G-14/K-4 und Focke-Wulf 190 A-8 der I./II./III. und IV./JG 300 sowie 68 Focke-Wulf 190 A-8/A-9 und D-9 der I. und II./JG 301, die sich den 802 US-Jägern der Jagdeskorte und zudem 1.220 schweren, viermotorigen Bombern entgegenwerfen.
Bei den entstehenden harten Luftkämpfen sterben sieben Piloten des JG 300, ein weiterer wird verwundet. Neun Jagdflugzeuge des ehemaligen „Wilde Sau-Geschwaders“ gehen verloren, weitere vier werden beschädigt, sind aber noch reparabel. Drei Flugzeugführer des JG 301 fallen ebenfalls, ein Jagdflieger dieses Verbandes wird verwundet. Drei der vier Flugzeuge der Einheit gehen mitsamt ihren Piloten verloren.
Auf der kümmerlichen „Haben“-Seite werden von den deutschen Fliegern zwei Mustang-Abschüsse (einer davon sogar nur als wahrscheinlich) eingereicht, beide erfolgreiche Jagdflieger sind Flugzeugführer des JG 300 (8. und 14. Staffel). Tatsächlich melden die Amerikaner siebenverlorene und zwei irreparabel beschädigte Jagdflugzeuge bei acht gefallenen oder vermissten Piloten. Die wenigsten dürften aber den hoffnungslos unterlegenen deutschen Jagdfliegern zuzuschreiben sein. Deren dürftige zwei Abschüsse veranschaulichen ihre Chancenlosigkeit. Auch siebenBomber kehren nicht zurück, acht weitere sind völlig zerschossen. Das summiert sich auf sechs gefallene, 19 verwundete und 72 vermisste Crewmitglieder.
Merkwürdigerweise ist von amerikanischer Seite dokumentiert, *19 dass gegen 12.33 Uhr zwei B-17 der etwas zurückhängenden 306th BG von drei Focke-Wulf 190 schwer beschädigt werden, wovon eine B-17 später notlanden muss. Diese Erfolge tauchen in den deutschen Meldungen nicht auf. Ein zweiter Anflug auf die Bomber ist den deutschen Jägern nicht mehr möglich, da nun deren Jagdschutz eingreift und eine Focke-Wulf abschießt. Die beiden anderen deutschen Piloten können entkommen. Dieser Luftkampf findet westlich von Dresden statt, die P-51 sind Maschinen der 356th Fighter Group.
Soweit zu den Zahlen! Doch die Fragestellung bleibt, ob in Anbetracht der Luftkämpfe auch noch Tieffliegerattacken der Mustangs gegen die verzweifelten Überlebenden in und um Dresden plausibel sind (die Thunderbolts haben Magdeburg zum Ziel, kommen also nicht in Betracht). Die Luftkämpfe finden im Wesentlichen während der Bombenangriffe statt. Zu diesem Zeitpunkt verbieten sich Tiefangriffe alleine durch die wichtigere Aufgabe des Schutzes der Bomber vor den angreifenden deutschen Jägern – eine Notwendigkeit, die jedem US-Jägerpiloten in der Gegend durch den Funkverkehr präsent ist –, und dadurch, dass man zumindest im Zielgebiet (Dresden) bei Tiefflügen selber in den Bombenhagel geraten könnte. Danach aber müsste in Anbetracht der Tatsache, dass die in England startenden Mustangs über Dresden an der Grenze ihrer Reichweite operieren, der schnelle Rückflug im Interesse der amerikanischen Jagdflieger liegen. Denn die nominelle Eindringtiefe (im eher akademischen Idealfall ohne jede Kurve 1.360 Kilometer) ist durch die bei Begleitschutzmissionen nötigen andauernden Schleifen um die langsamen Bomber herum und speziell bei spritfressenden Luftkämpfen nicht als Maßstab anzusehen. Immerhin sind es nach England zurück noch stolze 975 Kilometer direkte Luftlinie.
Nach Belgien, der „Heimat“ der 352nd FG, ist es allerdings näher. Doch die 352nd FG meldet in ihrem Einsatzbericht über Dresden absolut keine besonderen Vorkommnisse. Da bei jeder Auslösung der Schusswaffen die eingebaute Bordkamera in der Tragfläche automatisch mitläuft, müssten Tiefangriffe aber erwähnt sein. Und in der Tat – sie sind es auch. Allerdings erst um 13.30 Uhr, somit eine Stunde nach den Bombenwürfen. Normalerweise also weit weg von Dresden im Westen. Doch wo sind die P-51 der 352nd FG zu diesem Zeitpunkt tatsächlich? Da sie die taktische Nachhut bilden und nach versprengten Nachzüglern Ausschau zu halten haben, dürften sie sich etwas länger als die anderen Fighter Groups in der Gegend aufgehalten haben. Sicher aber nicht bis 13.30 Uhr – wenn diese Zeit stimmt! Da feststeht, dass sie sich um 14.15 Uhr bei Limburg an der Lahn befinden *20, also 400 Kilometer westlich von Dresden, weil sie dort erst die Bomber verlassen, lässt sich die Abflugzeit von Dresden rekonstruieren. Maßstab für die Geschwindigkeit über Grund ist der Bomberstrom, dessen Reisegeschwindigkeit bestenfalls bei 300 km/h anzusetzen ist. Das sind also für 400 Kilometer 80 Minuten. Spätestens um 12.55 Uhr sollten somit die letzten P-51 der 352nd FG den Raum Dresden verlassen haben. Selbst dieser späte Zeitpunkt wäre nur für nicht vom deutschen Radar erfasste Tiefflieger denkbar (siehe unten).
Es dokumentieren auch die anderen Fighter Groups, dass sie auf dem Rückflug Bodenziele angegriffen hätten. Dies plangemäß zu einem Zeitpunkt, als die zu schützenden Bomber bereits in dem durch die 9th USAAF und 2nd Tactical Air Force der RAF gut gedeckten, durch alliiertes Radar überwachten Nahbereich um die deutsche Westfront aus der Gefahrenzone herausgeflogen waren, beispielsweise bei Frankfurt am Main (356th FG). Aber auch schon ab Coburg (364th FG), was immerhin näher an Dresden liegt als an der westlichen Erdkampflinie. Da dies dennoch 200 Kilometer Distanz sind, spielt diese Tatsache für die erörterte Frage zwar keine Rolle. Es zeigt aber die Aggressivität der Amerikaner.
Ausgedehnte Tiefangriffe, ja ganze Menschenjagden sind also auszuschließen, zumal die Entwarnung im Raume Dresden um 12.48 Uhr gegeben wird, die letzte Bombe aber erst um 12.31 Uhr fiel. Tiefangriffe könnten also – wie Dr. Helmut Schnatz akribisch und plausibel darlegt – nur in der kurzen Zeit dazwischen stattgefunden haben, wobei auch dann ein zeitlicher Abstand zur Entwarnung einkalkuliert werden müsste. Die deutschen Radargeräte sind, wie sich nachweisen lässt, dank fehlender „Windows“-Störung (ein geplanter Einsatz britischer Mosquitos kam nicht zustande) bestens „im Bilde“. Tiefflieger in Bodenähe erfassen diese aber nicht, das muss eingeräumt werden. Nur – es bleibt völlig unplausibel, warum US-Piloten, von ihnen am ehesten einzelne der 352nd FG, ausgerechnet in das rauchgeschwängerte, möglicherweise doch mit Schnellfeuer-Flak bestückte Dresdner Elbtal eingetaucht sein sollten, um völlig pflichtwidrig ihre Begleitschutzaufgabe zu missachten.
Was aber irritiert, das sind die Meldungen der 20th Fighter Group. Diese Fighter Group befindet sich während des Luftangriffes gar nicht über Dresden, denn sie eskortiert die 91st BG, 381st BG und 398th BG irrtümlich nach Prag, wohin sich der Verband verfliegt. Prag wird bombardiert – versehentlich. Der Rückweg führt über Brüx (Most). Das ist nur 50 Kilometer von Dresden entfernt, also etwa sechs Flugminuten für ein Jagdflugzeug ohne das Handicap eines langsamen Bombers „im Schlepptau“. Und im US-Einsatzbericht der 20th Fighter Group heißt es: *21 „Shortly after leaving the target ‚A’ Group hit the deck to strafe enemy transportation but found few targets“ „Kurz nach Verlassen des Zieles ging die ‚A’-Group auf Bodennähe herunter für Tiefangriffe auf feindliche Fahrzeuge, fand aber nur wenige Ziele.“ „Wenige Ziele“ – das ist leider im Sinne militärischer Ziele, also beispielsweise Fahrzeuge, zu interpretieren. Angriffe auf Fahrradfahrer oder einfach Menschenansammlungen fallen nicht darunter. Dass es diese in der Endphase des Zweiten Weltkrieges sowohl von britischen, kanadischen als auch amerikanischen Piloten grundsätzlich gegeben hat – unabhängig davon, ob dies auch in Dresden plausibel ist – das steht außer Frage. Und trotz auch in diesen Fällen mitlaufender „gun camera“ sind diese nicht als Erfolgsmeldungen dokumentiert. Die Tatsache, dass Tiefangriffe stattfanden, allerdings üblicherweise schon. Selbst um 14.00 Uhr werden noch Teile der 20th FG bei Coburg festgestellt, bei einer Reisegeschwindigkeit von 300 km/h sind das 40 Flugminuten von Brüx aus, ohne Eskortaufgabe bei Ø 400 km/h 30 Minuten.
„Kurz nach Verlassen des Zieles“ – das wäre also im Großraum Dresden, denn um Prag oder Brüx herum sind keine Tieffliegeraktivitäten bekannt. Dresden selber ist als „Wirkungsstätte“ allerdings extrem unwahrscheinlich, denn es liegt klar seitlich (nördlich) zum Kurs Brüx Coburg. Die in der Umgebung von Dresden behaupteten Angriffe hier und da auf Krankenwagen beispielsweise könnten aber nun doch denkbar sein und den Tatsachen entsprechen.
Was bleibt nun von den angeblichen Massakern amerikanischer Mustang-Piloten am Elbufer? Dr. Helmut Schnatz hat eine bestechend einfache Erklärung. *22 Er räumt ein, dass es Zeugenberichte gibt, die absolut glaubhaft Tiefflüge kleinerer Gruppen von (Jagd-) Flugzeugen im Elbtal durch Dresden unmittelbar nach den Bombenwürfen schildern. Manche erinnern sich an Bordwaffenfeuer, andere nicht. Nun fand – wie erwähnt – westlich von Dresden ein Abfangversuch deutscher Jäger statt, der mit der schweren Beschädigung zweier US-Bomber endete. Danach waren die Mustangs zur Stelle und verfolgten die Angreifer, schossen dabei eine Focke-Wulf ab. Die anderen könnten sehr wohl ihr Heil in der Flucht nach Osten gesucht haben, im Wissen, dass die Verfolger in diese Richtung immer näher an ihre Reichweitengrenzen stoßen. Dass diese Flucht geradezu absichtlich im Tiefflug in die schützenden Rauchwolken der Brände über Dresden geführt haben kann, erscheint plausibel. Ebenso das vielleicht nur auf Schatten gezielte Bordwaffenfeuer der nachsetzenden Amerikaner, deren Geschosse dann auch den Boden treffen. Im Eifer und Frust einer vergeblichen Hetzjagd vereinzelt womöglich sogar beabsichtigt.
Zusammen mit möglichen gezielten Angriffen der 20th FG auf Rettungsfahrzeuge zwischen Brüx und Dresden ergibt sich genügend Nahrung für eine Legendenbildung. Die Ausmaße von Menschenjagden erscheinen dennoch absurd. Dabei ist allerdings die erwähnte Aggressivität der amerikanischen Piloten ins Kalkül zu ziehen. Noch einmal soll Dr. Helmut Schnatz zitiert werden. Er weist darauf hin, dass die amerikanischen Piloten „nicht in den chevaleresken Traditionen groß geworden sind, wie sie die europäischen Luftwaffen teilweise noch bis in den Zweiten Weltkrieg hinein geprägt haben, sondern in denen der Indianerkriege des 19. Jahrhunderts.“ Und damals galt nun einmal: „Nur ein toter Indianer ist ein guter Indianer.“ *23 Dies mag die weniger ausgeprägten Hemmungen der US-Piloten erklären, ihre deutschen Widersacher am Fallschirm „in die ewigen Jagdgründe zu schicken“. Mehr aber auch nicht, hier ist sich der Autor mit Dr. Schnatz einig. Schnatz warnt eindringlich davor, diese Sicht der Amerikaner zu verallgemeinern, und verweist auf die schlichte Professionalität der US-Piloten. Heißsporne gab und gibt es in jeder Armee, und Tiefangriffe auf Zivilisten – ob in Dresden oder nicht – wurden auch von den Piloten der Royal Air Force geflogen. Aber auch die deutsche Luftwaffe hat sich nicht immer „mit Ruhm bekleckert“.
Die Katastrophe von Dresden allerdings kratzt nun doch empfindlich am Ruhm der Royal Air Force – und jenem Winston Churchills, als das Ausmaß der Tragödie im noch neutralen Ausland bekannt wird. Dresden ist so gründlich und in so wenigen Stunden vernichtet worden wie noch keine Stadt zuvor.
Und weil selbst das noch nicht genügt, haben die Amerikaner am 15. Februar 1945 für 461,9 Tonnen Bomben an Bord von 210 Boeing B-17 Bombern keine bessere Verwendung als die Trümmer von Dresden! Und sie hören nicht auf! Am 17. April 1945 kommen sie wieder. 590 US-Bomber und 1.732,8 Tonnen! Die Sowjetsoldaten nähern sich bereits einer Stadt, die zum Fanal geworden war!
Um der Seuchengefahr Herr zu werden, bleibt der Verwaltung der zerbombten Elbmetropole ab dem 2. März 1945 keine andere Wahl, als die Innenstadt abzusperren und dort Gitterroste aufzubauen. Das nun gnädige Feuer bannt die Ansteckungsgefahr, die von den verwesenden Körpern ausgeht ...
Die Zahl der Opfer wird wohl nie ganz geklärt werden. Die Schwierigkeit besteht im Fall von Dresden darin, dass niemand genau weiß, wer der zigtausend Flüchtlinge sich zum Zeitpunkt der „Exekution“ dieser Stadt im Bereich des Feuersturmes aufgehalten hat. Wenn also eine Flüchtlingsfamilie vermisst wird – wo kam sie um? Durch den Rachedurst der von der deutschen Gewalt im eigenen Land gründlich selber heimgesuchten Russen oder durch die strategischen Planungen der Royal Air Force und USAAF? Nach dem Angriff äußert sich Arthur Harris so: „Dresden? Einen solchen Ort gibt es nicht!“
Wie kann man neben jenen Menschen, die erschlagen wurden, verbrannten, erstickten, zerfetzt wurden oder sich in das kochende Wasser der Löschbecken am Altmarkt „retteten“, jene Opfer zählen, die einer Temperatur von 1.000 °C ausgesetzt waren? Wie viel bleibt von jenen Unglücklichen übrig? Nun, so erstaunlich es ist – größtenteils kann man das. Zumindest in Deutschland. Die Verwaltung Dresdens gibt sich alle erdenkliche Mühe, selbst Leichen zu erfassen, die auf die Größe eines Kopfkissens zu Asche geschrumpft sind. Um ganz sicher zu gehen, zählt man die „Fundstücke“ dreifach.
Die Scheiterhaufen auf dem Dresdner Altmarkt.
Am 16. März 1945 wird vom „höheren SS- und Polizeiführer Elbe in den Gauen Halle-Merseburg, Sachsen und im Wehrkreis IV“ vorläufig Bilanz gezogen. Das Dokument trägt das Diktatzeichen des Polizeibeamten Max Jurk und ist von Polizeioberst Wolfgang Thierig unterzeichnet. Hier heißt es:
„Bis 10.3.1945 früh festgestellt: 18.375 Gefallene, 2.212 Schwerverwundete, 13.718 Leichtverwundete, 350.000 Obdachlose und langfristig Umquartierte ...“
Das Dresdner Bestattungsamt registriert bis zum 12. Juli 1945 21.271 Bombenopfer. Dies erhöht sich offiziell durch nachträgliche Funde in den vielen verschütteten Kellern bis zum 9. Dezember 1950 auf etwa 34.000 Menschen. Rechnet man eine Dunkelziffer dazu, so ergeben sich rund 35.000 Opfer, die aber auch diverse an ihren im Kampf erlittenen Wunden verstorbene deutsche Soldaten beinhalten.
Gegen diese Zahlen wird wiederum eingewandt, dass es sich hierbei nur um die wenigen identifizierten Opfer gehandelt habe. Die vielen Flüchtlinge, die keinerlei Angehörigen hatten, welche vor Ort nach ihnen fragen konnten, komplett ausgelöschte Familien, unidentifizierbare Aschenklumpen – wer will sie zählen und wie?
Das mag in Einzelfällen wirklich zutreffen. Wenn diese Differenzen aber in die Größenordnung von vielen Zehntausenden gemutmaßt werden, so müssten dem entsprechend hohe Zahlen an ungeklärten Flüchtlingsschicksalen gegenüberstehen. Eine Expertenkommission unter Leitung von Dr. Horst Boog hat sich im Jahr 2008 mit dieser Frage befasst und die bekannten seriösen Zahlen bestätigt, die in Anbetracht so vieler Flüchtlinge überraschend „niedrig“ liegen.
Blick auf das, was blieb ...
Dresden, ein Fanal.
Aus der Sicht des Autors handelt es sich hierbei ohnehin um eine reichlich akademische Frage. Wer sich auch nur halbwegs mit menschlicher Anteilnahme den Horror vorzustellen versucht, den die Operation „Donnerschlag“ in Dresden ausgelöst hat, für den dürften Zahlen kaum noch eine Rolle spielen.
„Ich glaube nicht, dass der gesamte Rest der deutschen Städte die heilen Knochen auch nur eines britischen Soldaten aufwiegt!“, soll Harris ungerührt nach dem Angriff auf Dresden gesagt haben, der ihm aber nicht wichtig gewesen war. Churchill und die alliierten Stabschefs hatten ihn durchgesetzt.
Am 16. Februar 1945 findet eine denkwürdige Pressekonferenz statt. Dessen Ergebnis wird vom Korrespondenten der amerikanischen „Associated Press“ für alle Morgenzeitungen in die USA gekabelt. Er löst ein Umdenken der öffentlichen Meinung aus:
„Alliierte Luftflottenchefs haben die seit langem erwartete Entscheidung getroffen, bewusst Terrorangriffe auf deutsche Wohnviertel durchzuführen, um mit diesem unbarmherzigen Vorgehen den Untergang Hitlers zu beschleunigen. [...] Ausdrückliches Ziel ist es, weitere Verwirrung im Straßen- und Schienenverkehr der Nazis zu stiften und den deutschen Kampfgeist zu brechen!“
Wesel – pulverisiert am 16., 18., 19., und zweimal am 23. Februar 1945.
Als Beispiele nennt der Journalist die Städte Berlin, Chemnitz, Cottbus – und Dresden. „Der totale Luftkrieg gegen Deutschland wurde offensichtlich bei dem beispiellosen Tagesangriff auf die mit Flüchtlingen überfüllte Hauptstadt vor zwei Wochen und weiteren Angriffen auf andere Städte - vollgestopft mit vor dem russischen Vormarsch aus dem Osten fliehenden Zivilisten.“ Gemeint ist der schwere Angriff auf Berlin am 3. Februar 1945. Er brachte 22.000 bis 25.000 Menschen in den Ruinen der Reichshauptstadt den Tod. Die Reaktion der britischen Regierung am 17. Februar 1945 ist ein striktes Presseverbot.
Auch das erfolgreichste Nachtjäger-Ass aller Zeiten, Heinz-Wolfgang Schnaufer, nun im Range des Majors, kann diese Katastrophen nicht verhindern. Immer noch fliegt er eine Messerschmitt des altbewährten Typs Me 110 G-4, wenn auch bereits eine neue Maschine. Inzwischen machen britische Elite-Nachtjägerpiloten gezielt Jagd auf ihn und seine Besatzung, während ihm das britische Bomber Command zynisch und bewundernd zugleich am 16. Februar 1945 über den Soldatensender Calais zum 23. Geburtstag gratuliert. Die Mosquitos erwischen ihn nicht. Er dagegen erwischt immer noch so manch eine Halifax oder Lancaster. Am 21. Februar 1945 stellt er mit neun abgeschossenen Bombern an einem Datum seine persönliche Tages-Bestmarke auf. Zwei Bomber fallen ihm in den frühen Morgenstunden zum Opfer, sieben in der Folgenacht desselben Tages innerhalb von 19 Minuten.
Pforzheim – zerstört nach Dresden!
Ob er wohl an die 121 Bomber denkt, die er in nur 164 Einsätzen abgeschossen hatte, als er sich am 8. Mai 1945 mit seinem Geschwader den Briten ergibt? Ob er sich noch an seinen 87. Abschuss am 29. Juli 1944 erinnert, den er über Pforzheim in Süddeutschland erzielt hatte, jene Lancaster mit den Kennzeichen , eine von drei Viermotorigen in dieser Nacht? Ob er daran denkt, wie anders Pforzheim damals noch aussah als jetzt, nachdem 367 britische Bomber am 23. Februar 1945 innerhalb von 22 Minuten 1.825 Tonnen Bomben auf die Kleinstadt niederregnen ließen, dabei eine Fläche von 83 % der Stadt dem Erdboden gleichmachten und 17.600 Menschen töteten, ein Fünftel der Bevölkerung? Goldschmiede und Uhrmacher, was die „kriegsindustrielle“ Tradition der Stadt angeht!
Ob irgendjemand an die 55.573 Besatzungsmitglieder denkt, die in den brennenden Särgen der britischen Bomber im Laufe des Krieges gefallen waren, 70 % der gesamten Verluste der Royal Air Force (79.281 Mann) in diesem Krieg? Weitere 4.200 waren verwundet worden. Oder daran, dass die Überlebenschance einer britischen Bomberbesatzung kaum höher war als eins zu zwei? Ob man an die 8.655 Flugzeuge (davon 3.836 Lancaster-Bomber alleine) denkt, die das Bomber Command der Royal Air Force bei dem vergeblichen und kostspieligen Versuch verlor, den deutschen Widerstandswillen mit Bombenterror zu brechen?
Arthur Travers Harris (am Stabsschreibtisch sitzend).
Arthur Harris wohl kaum. Die Deutschen haben kapituliert – bedingungslos. Sie sind am Ende, endlich. Doch Harris ist seit dem Angriff auf Dresden bei Winston Churchill in Ungnade gefallen – dem britischen Premierminister, welcher doch diese Demonstration der Macht der Royal Air Force wenige Kilometer vor den Spitzen der Roten Armee maßgeblich selber unterstützt, ja herbeigeführt hatte – und nun doch betroffen ist über das unvorstellbare Ausmaß an Leid, welches jener Angriff ausgelöst hat. Oder vielleicht nur so tut, weil ihm dieses Grauen politisch allmählich eher schadet als nützt? Jedenfalls protestieren die Stabsoffiziere des Bomber Command wütend und sehr überzeugend mit Beweisen, als Churchill in einem Memorandum versucht, dem Bomber Command die Verantwortung für die Entscheidung zuzuschieben, Dresden zu vernichten. Dabei war dieser Angriff nur einer von vielen gewesen, noch nicht einmal der letzte. Die mit Verwundeten voll belegte Lazarettstadt Würzburg war nur Wochen vor Kriegsende in einer schrecklichen Nacht am 16. März 1945 zerstört worden, obwohl die amerikanischen Truppen bereits in der Nähe standen. Die barocken Fassaden brannten wie Zunder, die Stadt mit ihren ebenso unersetzlichen Kulturdenkmälern wurde zu 82 % vernichtet. Auch der ‚betroffene’ Churchill hatte es nicht verhindert. 5.000 Opfer starben vier Wochen nach Dresden.
Adolf Hitler, der Führer ins Verderben, begeht schließlich Selbstmord, um nicht mehr zur Rechenschaft gezogen werden zu können. Der gewissenlose Mann, der die englischen Städte einmal „ausradieren“ wollte, nachdem Churchills Royal Air Force ihn unter anderem mit Luftangriffen auf Berliner Wohnviertel herausgefordert hatte, trägt durch das Ausmaß der Gegenreaktion eine Mitverantwortung für den folgenden Radiergummi der Engländer und Amerikaner. Man muss ihm – so schwer es diesem Mann gegenüber fallen mag – jedoch zugestehen, dass er auf diplomatischem Wege mehrfach eine Übereinkunft mit England zu erreichen versucht hat, dass Angriffe auf zivile Ziele unterbleiben mögen. Ohne Erfolg!*24 Hitler genehmigt Angriffe auf britische Städte zunächst nur als konkrete Gegenreaktion – Coventry für München, Birmingham für Hamburg! Erst spät wird undifferenzierte Rache daraus. Dies gipfelt schließlich im Jahr 1944 in Gegenangriffen mit unbemannten fliegenden Bomben des Typs „V1“ (mit Pulstriebwerk – den Vorläufern von „cruise missiles“) und Raketenangriffen mit revolutionären „V2“-Raketen, gegen die keine Abwehrchance besteht. Insgesamt fallen etwa 42.000 britische Zivilisten während des Zweiten Weltkrieges deutschen Bomben zum Opfer.
Heinz-Wolfgang Schnaufer.
Air Chief Marshal Arthur Travers Harris wird bei Kriegsende nur auffallend oberflächlich geehrt. Verbittert zieht er sich im November 1945 nach Südafrika zurück. Er stirbt im Jahr 1984, inzwischen doch zum „Sir“ geadelt – und wird posthum rehabilitiert. Durch ein Denkmal, mit Sockel sechs Meter hoch in Bronze. Vor der St. Clement Danes Kirche in London, und in Anwesenheit der erlauchten Schirmherrin der Statue – Queen Mom. Das britische Königshaus bekennt sich damit zu „Bomber-Harris“, allen empörten Protesten vieler fassungsloser deutscher Bürgermeister zum Trotz!
Reichsmarschall Hermann Göring, mit dessen Hochmut es begonnen hatte, stirbt am 15. Oktober 1946 im Nürnberger Gefängnis durch Zyankali. Er begeht Selbstmord, um der bevorstehenden unrühmlichen Hinrichtung als Kriegsverbrecher zu entgehen.
Und Winston Churchill, seit 10. Mai 1940 Kriegs-Premier Großbritanniens? Siegreich und geehrt! Er hatte im Jahr 1932 in seinem Buch „Thoughts and adventures“ folgende Überlegungen in Bezug auf den vergangenen Ersten Weltkrieg angestellt:
„Alles, was in den vier Jahren des [Ersten] Weltkrieges geschah, war nur ein Vorspiel zu dem, was sich für das fünfte Jahr vorbereitete. Die Schlacht des Jahres 1919 hätte ein riesiges Anwachsen der zerstörenden Kräfte gesehen. Hätten die Deutschen die Moral bewahrt, sich geordnet an den Rhein zurückzuziehen, sie wären im Sommer des Jahres 1919 mit Kräften und Methoden angegriffen worden, die unvergleichlich fürchterlicher gewesen wären als alle je eingesetzten. Tausende von Flugzeugen hätten ihre Städte in Trümmer gelegt. Abertausende Kanonen hätten ihre Front pulverisiert. [...] Die Schlacht von 1919 wurde nie geschlagen, aber ihre Ideen leben weiter. [...] Der Tod steht in Bereitschaft. [...] Er wartet nur auf das befehlende Wort. [...] Das nächste Mal mag man darum wetteifern, Frauen und Kinder oder die Zivilbevölkerung überhaupt zu töten, und die Siegesgöttin wird sich zuletzt jämmerlich mit demjenigen dienstbeflissenen Helden vermählen, der dies in gewaltigstem Ausmaß zu organisieren versteht.“
Im Jahr 1932 gesagt.
Im Jahr 1945 getan.
Mindestens 570.000, vielleicht bis zu 1.000.000 Wehrlose haben jene „Ideen“ mit dem Leben bezahlt.
87 gemeldeten Abschüssen der deutschen Nachtjäger-Besatzungen stehen 61 tatsächlich vernichtete schwere viermotorige Bomber des Bomber Command der britischen Royal Air Force gegenüber.
Verlustmeldungen der britischen Luftwaffe im Detail:
Royal Air Force Bomber Command:
Avro „Lancaster“: |
43 |
Handley-Page „Halifax“: |
18 |
de Havilland „Mosquito”: |
keine |
Das Bomber Command fliegt in dieser Nacht vier Missionen:
Der Hauptanflug richtet sich als letzter Angriff einer Serie gegen die süddeutsche Großstadt Stuttgart. Der Angriff wird mit 494 Lancaster-Bombern und zwei Mosquitos der 1, 3, 5 und 8 Bomb-Groups geflogen. 39 Lancaster-Bomber werden abgeschossen.
Ein weiterer Angriff richtet sich gegen Hamburg. 307 Flugzeuge der 1, 6 und 8 Bomb-Groups führen ihn aus. Es sind 187 Bomber des Typs Handley-Page „Halifax“, 106 Maschinen des Typs Avro „Lancaster“ und 14 Mosquitos. 18 Halifax und 4 Lancaster gehen verloren.
119 weitere Flugzeuge bombardieren die Abschussrampen für die unbemannten „fliegenden Bomben“ des Typs „V1“ im französischen Forêt de Nieppe ohne Verluste.
13 Mosquitos greifen Frankfurt an, fünf Halifax verminen die Elbe, diverse Patrouillenflüge und Übungsflüge finden ebenfalls statt. Keine Verluste hierbei.
„Christbäume“.
7. März 1945, 20.17 Uhr, nordwestlich von Boxmeer
Flugzeugtyp: |
Heinkel He 219 A-7 *25 |
Nationalität: |
Luftwaffe |
Einheit: |
I. Gruppe/NJG 1 |
Pilot: |
Gruppenkommandeur Hauptmann Werner Baake mit Bordfunker |
Stationierung: |
Münster-Handorf, Deutschland |
Hinweis: |
Hauptmann Baake erzielt in der Nacht vom 7. auf den 8. März 1945 einen Abschuss 20 Kilometer nordwestlich von Boxmeer, das entspricht etwa 10 Kilometer südwestlich von Nimwegen in Holland. Es ist Baakes 43. Luftsieg, eine britische Avro „Lancaster“, erzielt um 20.17 Uhr am 7. März 1945. |
Hinweis: die Karte zeigt im Gegensatz zu den Frontverlaufskarten den Nachkriegsgrenzverlauf (Eupen/Malmedy, Luxemburg), da hier die Lokalisation des Ortes aus heutiger Sicht im Vordergrund steht.
Heinkel He 219 A-7 des Stabes der I./NJG 1 (es handelt sich nicht um Hauptmann Baakes Maschine).
*1Anmerkung: es ist allerdings nie wirklich belegt worden, wann und wo Göring diesen Satz gesagt haben soll, daher könnte es sich auch um eine Art „Flüsterwitz“ handeln, siehe „Das rote Leuchten – Dresden und der Bombenkrieg“/Edition Sächsische Zeitung 2005/Oliver Reinhard und Mathias Neutzner und Wolfgang Hesse.
*2Quelle: „Das rote Leuchten – Dresden und der Bombenkrieg“/Edition Sächsische Zeitung 2005/ Oliver Reinhard und Mathias Neutzner und Wolfgang Hesse.
*3Quelle: „Radarkrieg und Nachtluftverteidigung über Berlin 1939 bis 1945“/VDM Verlag 2007/ Helmut Bukowski.
*4Quellen: Originaldokumente (in .pdf-Kopie).
*5Der Begriff „Meddo“ ist eine deutsche Creation nach dem Fundort, ebenso wie „Rotterdam-Gerät“ für H2S.
*6Quelle: „Ace of Diamonds – Schnaufer”/Tempus Publishing Ltd. 1999/Peter Hinchcliffe, z.B. Seite 108/110.
*7Quelle: „Chronik des Bombenkrieges/Flechsig Verlag 2006/Franz Kurowski.
*8Quelle: „Chronik des Bombenkrieges/Flechsig Verlag 2006/Franz Kurowski.
*9P-51 B der zur 9th USAAF gehörenden 354th FG fliegen erstmals am 1.12.1943 im Einsatz, als Begleitjäger „leihweise“ der 8th USAAF zur Verfügung gestellt zum ersten Mal als Eskorte für Bomber am 5.12.1943 (Einsatz nach Amiens - Quelle „P-51 in action“/Squadron/Signal Publications).
*10 „Radarkrieg und Nachtluftverteidigung über Berlin 1939 bis 1945“/VDM Verlag 2007/Seite 240.
*11Quelle: „Ace of Diamonds – Schnaufer”/Tempus Publishing Ltd. 1999/Peter Hinchcliffe, Seite 195.
*12Anmerkung: Stuttgart ist nicht nur Heinz-Wolfgang Schnaufers Geburtsort, auch der Autor erblickte hier im September des Jahres 1957 „dereinst das Licht der Welt“.
*13Quelle: Osprey Aircraft of the Aces 17 „German Jet Aces of World War 2”/1998/Hugh Morgan und John Weal.
*14Quelle: SAO Band III, Seiten 52-54, via „Chronik des Bombenkrieges/Flechsig Verlag 2006/ Franz Kurowski.
*15Quelle: Max Hastings, „Bomber Command“, London 1981, via Franz Kurowski.
*16Quelle: „Das rote Leuchten – Dresden und der Bombenkrieg“/Edition Sächsische Zeitung 2005/Oliver Reinhard und Mathias Neutzner und Wolfgang Hesse. Für weitere Details sei auf dieses exzellente Werk verwiesen!
*17siehe hierzu beispielsweise: „Chronik des Bombenkrieges/Flechsig Verlag 2006/Franz Kurowski.
*18Quelle: „Tiefflieger über Dresden?“/Böhlau Verlag 2000/Helmut Schnatz. Auch dieses Buch kann nur empfohlen werden.
*19Quelle: „Tiefflieger über Dresden?“/Böhlau Verlag 2000/Helmut Schnatz, Seite 107.
*20Quelle: „Tiefflieger über Dresden?“/Böhlau Verlag 2000/Helmut Schnatz, Seite 121.
*21Quelle: „Tiefflieger über Dresden?“/Böhlau Verlag 2000/Helmut Schnatz, Seite 98.
*22Quelle: „Tiefflieger über Dresden?“/Böhlau Verlag 2000/Helmut Schnatz, Seite 138f.
*23Quelle: „Tiefflieger über Dresden?“/Böhlau Verlag 2000/Helmut Schnatz, Seite 75.
*24Quelle: „Thoughts and adventures”, Winston Churchill, Seite 247 ff
Quelle: Royal Air Force Bomber Command 60th Anniversary - Campaign Diary, December 1944.
Quelle: WASt – Deutsche Dienststelle für die Benachrichtigung der nächsten Angehörigen von Gefallenen der ehemaligen deutschen Wehrmacht, Berlin. Verluste der deutschen Luftwaffe via Recherche Salonen.
*25Hinweis: es kann nicht sicher rekonstruiert werden, ob Hauptmann Baake eine He 219 A-2 oder A-7 flog, beide Subtypen sind zu diesem Zeitpunkt in der I. Gruppe des Nachtjagdgeschwaders 1 verfügbar. Der Verfasser geht aber davon aus, dass der Gruppenkommandeur eher das neueste Modell der Heinkel He 219 für sich nutzt. Somit dürfte Baake eine He 219 A-7 geflogen sein.