Der dritte Jahrestag der deutschen Invasion in Russland beginnt mit einem Feuerwerk der besonderen Art. Die Nacht war schwül gewesen, Hitzegewitter hatten einen klitzekleinen Vorgeschmack dessen bereitet, was den Soldaten der deutschen Heeresgruppe Mitte bevorstehen sollte. Seit Tagen fallen etwa 270.000 Partisanen verstärkt über die rückwärtigen Positionen, Versorgungslager, Transporte, Melder und Eisenbahnlinien her. 10.500 Sprengungen lähmen jede deutsche Truppenbewegung, alleine 3.500 einzelne Gefechte mit Partisaneneinheiten finden statt. Grausame Gefechte, denn beide Seiten machen selten Gefangene! Die deutschen Soldaten tun gut daran, sich nicht zu ergeben ...
Zehntausende Zivilisten hatten die Deutschen nach Westen deportiert, zum Arbeitseinsatz in der Kriegsindustrie oder zum Bau von Befestigungen. Andere waren erschossen worden, gehenkt oder auf noch schlimmere Weise ums Leben gekommen – als Vergeltung für Partisanenüberfälle, bei denen deutsche Soldaten oft nicht nur getötet, sondern gefoltert und demonstrativ grausam zugerichtet worden waren. Die Gewalt schaukelt sich hoch – der Zorn über solche Exzesse ebenso! Man „zahlt es den Partisanen heim“. Ganze Dörfer werden dem Erdboden gleichgemacht – zur Abschreckung. Was genau das Gegenteil bewirkt. Es fördert Rache, und damit den Zulauf für die Partisanenkämpfer ...
Immer noch gibt es russische Hilfstruppen im deutschen Lager. Deren Loyalität wird aber von Tag zu Tag zweifelhafter – angesichts der Kriegsentwicklung. Hatte es zu Beginn des Feldzuges von Volksteilen, welche unter Stalin gelitten hatten, durchaus auch starke Sympathien für die deutschen Invasoren gegeben, so haben sich die Truppen der Wehrmacht mit ihren befehlsgemäß statuierten „Exempeln“ an Wehrlosen inzwischen fast jegliches Wohlwollen in der Zivilbevölkerung verscherzt. Vor allem die gnadenlosen Aktionen der politischen SS (nicht zu verwechseln mit den allerdings ebenfalls rigorosen „Elite“-Kampftruppen der „Waffen-SS“) gegen jüdische Sowjetbürger tragen zu Hass und Verbitterung in hohem Maße bei – Erschießungen, Massaker, die teilweise auch bei der Wehrmacht auf Ablehnung stoßen, sofern jene diese überhaupt mitbekommt. Andererseits – ein Einschreiten gegen SS-Einheiten ist gefährlich in diesen Zeiten. In dem von Hitler unterschriebenen Einsatzbefehl für den Russlandfeldzug sind die Zuständigkeiten unmissverständlich geregelt. Die Frontlinie obliegt der Wehrmacht, dahinter hat sie der SS nicht hineinzureden! Hitler weiß sich nötigenfalls durchzusetzen, das ist bekannt. Wehrmachtsoffiziere, die aufbegehren, bekommen das zu spüren.
Die Skrupel deutscher Wehrmachts-Soldaten gegen „Strafaktionen“ an wehrlosen Zivilisten werden natürlicherweise vom Anblick zerstückelter eigener Kameraden beeinflusst, die sie nach Partisanenüberfällen vor sich liegen sehen. Es ist ein Teufelskreis, denn die folgende rücksichtslose Vergeltung an Unschuldigen führt erneut zu hasserfüllten Grausamkeiten der Gegenseite – und so weiter ...
Nirgendwo hat die deutsche Wehrmacht so unter den Partisanen zu leiden wie in Weißrussland. Dessen ausgedehnte Wald- und Sumpfgebiete bieten ideale Verstecke. Jede Nacht hören die deutschen Landser ganze Flugzeugverbände, welche für diese Geheimarmee Waffen und Nachschub abwerfen. Während der eigene Nachschub inzwischen nur noch auf wenigen, besonders gut gesicherten Straßen eine Chance hat, nach vorne durchzukommen. Diese „Straßen“ (was man in Russland so nennt) erfreuen sich dann auch zunehmender Aufmerksamkeit durch die russischen Schlachtflugzeuge ...
Die Politik der Zerstörung auch aller materiellen Werte auf dem Rückzug nach Westen auf ausdrücklichen Befehl Hitlers – „Verbrannte Erde“ genannt – tut ein Übriges, die Rachegefühle der sowjetischen Soldaten anzuheizen. Die deutsche Zivilbevölkerung in Ostpreußen und den übrigen Ostgebieten des Deutschen Reiches wird die Vergeltung später auf entsetzliche Art zu spüren bekommen. Hitlers Propagandamaschinerie hatte deutsche Unmenschlichkeiten durch eine verblendete Ideologie zu rechtfertigen versucht. Bald werden auch in Stalins Namen die Racheakte an hilflosen Mädchen, Frauen, Alten und Kindern in den von der Roten Armee eroberten deutschen Ostgebieten offiziell legitimiert.
Die schweren Kämpfe in der Ukraine hatten es erforderlich gemacht, immer mehr Verbände der Heeresgruppe Mitte in den Süden zu werfen, um den russischen Vormarsch dort zum Stehen zu bringen. Nun sind die Westalliierten in der französischen Normandie gelandet, was die Verlegung weiterer Truppen nach sich zieht. Die Verbände der deutschen Luftflotte 6 sind auf eine fast groteske Art und Weise ausgedünnt inzwischen. Diese, der Heeresgruppe Mitte zugeteilte Luftflotte verfügt am 22. Juni 1944 über gerade mal 40 (vierzig!) einsatzfähige Jagdflugzeuge. Zur Abwehr von etwa 5.000 Flugzeugen der sowjetischen Luftwaffe alleine am Frontabschnitt der Heeresgruppe Mitte! Fünftausend!
Während die deutschen Truppen in vielen Belangen noch auf Pferdegespanne angewiesen sind – längst nicht jedes Geschütz wird von einer Zugmaschine bewegt – sind die sowjetischen Truppen inzwischen dank der großzügigen Hilfe der Vereinigten Staaten von Amerika voll motorisiert. Wo auf der deutschen Seite der Front nur Panzereinheiten und Panzergrenadiere mit Kampfwagen und Schützenpanzerwagen operieren, während das Gros der Infanterie auf ihre Füße als Fortbewegungsmittel angewiesen ist, sitzen jenseits der Feuerlinie die Soldaten der Roten Armee einfach rittlings auf ihre Panzer auf und lassen sich so in die Schlacht chauffieren. Panzer gibt es ja genug – allerdings nur solche mit einem roten Stern auf dem Turm!
Der Rest der Infanterie Stalins fährt in Abertausenden amerikanischer Lastwagen und Jeeps sowie LKWs eigener Produktion. Auch an Treibstoff mangelt es nicht.
Der ist auf deutscher Seite inzwischen so knapp, dass die Monatslieferungen an die motorisierten Einheiten im Mai 1944 die Hälfte des Standes vom Vormonat betragen! Die amerikanischen Bombenangriffe auf die rumänischen Erdölfelder von Italien aus zeigen Wirkung! Auch andere Rohstoffe werden immer knapper – wie Mangan, Nickel, Molybdän und Wolfram. Mit der Folge immer schlechterer Qualität von Ersatzteilen.
Als Generalfeldmarschall Busch nach einem Autounfall seines Vorgängers (Generalfeldmarschall von Kluge) am 12. Dezember 1943 die Heeresgruppe Mitte übernimmt, wird ihm der Ernst der Lage bald ebenso klar, wie auch schon von Kluge dringliche Berichte an Hitler geschrieben hatte. Manche Divisionen halten Frontabschnitte von 30, gar 50 Kilometern. An vorderster Front verteidigt hier manchmal nur ein (1!) Mann 50 Meter Geländebreite. Das kann im Ernstfall nicht gut gehen!
Hitler hält an seinem Glauben fest, der deutsche Soldat sei ein so überragender Kämpfer, dass für ihn nichts unmöglich sei. In der Tat sind die militärischen Leistungen, ist das Durchhaltevermögen der deutschen Truppen in vielen Situationen ungeheuer beachtenswert, bis zum bittersten Ende. Doch bei einer derartig überwältigenden Übermacht kann nur noch ein Wunder helfen.
Oder der drastische Rückzug auf eine kürzere, gut befestigte Abwehrstellung. Eine „Frontbegradigung“. Eine zwingende militärische Notwendigkeit für jeden halbwegs vernünftigen Offizier – außer für den Oberbefehlshaber der Wehrmacht: Adolf Hitler. Sogar die mehr als sinnvolle Errichtung einer Auffangstellung westlich der Beresina muss vor Hitler geheim gehalten werden, der solche rückwärtigen Befestigungen nur als Versuchung seiner „rückzugsversessenen“ Generäle zum Weichen sieht.
Man hatte es kommen sehen! Am 10. Juni 1944 hatten die deutschen Horcheinheiten einen sowjetischen Funkspruch an die Partisanen aufgefangen, dass diese ab 20. Juni 1944 zuschlagen sollen. Man ist also gewarnt. Doch was nützt dies unter den Bedingungen an der Ostfront des Jahres 1944?
Seit dem 10. Juni 1944 greifen die Russen im Norden an. Das erklärte Ziel Stalins ist es, die finnischen Bundesgenossen Hitlers aus der Allianz der Achsenmächte herauszubrechen. Nach dem Scheitern des „Unternehmens Zitadelle“ im Kursker Bogen machen sich die Finnen keine Illusionen mehr über den Ausgang des Krieges. Ihr Regierungschef Risto Ryti steht bereits seit Herbst 1943 mit Stalin in Verhandlungen, hat den Deutschen aber versprochen, keinen Separatfrieden auszuhandeln.
__ Frontlinie 22. Juni 1944
.... Frontlinie 25. Juli 1944
Hinweis (!): das Symbol mit dem blauen Hakenkreuz entspricht dem damaligen finnischen Hoheitskennzeichen!
Dies ist die Situation, in welcher Stalin den Angriff befiehlt. Die Finnen wehren sich in gewohnter Tapferkeit, haben aber alleine gegen die Rote Armee des Jahres 1944 keine Chance. Die Hafenstadt Viipuri (heute Wyborg), welche im Winterkrieg 1939/1940 nach langen, schweren Kämpfen an die Sowjetunion abgetreten werden musste und inzwischen längst wieder in finnischer Hand gewesen war, fällt nun recht schnell an die Rote Armee. Deren Schlagkraft hat sich gewaltig verändert seither.
Als Ryti schriftlich zusagt, sich nicht an Deutschland vorbei mit Stalin zu einigen, kommen deutsche Truppen den hart bedrängten Finnen zu Hilfe. Mit Erfolg – die Lage stabilisiert sich. Am 4. August 1944 wird Ryti durch Marschall Mannerheim als Regierungschef abgelöst. Der fühlt sich an Rytis Zusagen nicht gebunden! Am 19. September 1944 beenden die Finnen den Krieg durch einen Waffenstillstand mit der Sowjetunion und kündigen damit die langjährige freundschaftliche Waffenbrüderschaft mit den Deutschen auf, die sie nun auf Stalins Drängen hin mit gemischten Gefühlen, allerdings teilweise durchaus gewaltsam aus Finnland vertreiben. Dafür nützen fortan sowjetische U-Boote den finnischen Hafen Hangö als Basis für ihre Angriffe auf die späteren deutschen Flüchtlings-Konvois ...
Sowjetische Infanterie greift mit der üblichen Panzerunterstützung an. Es handelt sich um einen T-34/76, der seit Anfang 1944 bereits vom Nachfolgemodell T-34/85 mit einem größeren Turm, einem Mann mehr an Bord und 85-mm-Kanone abgelöst wird – allerdings bis Kriegsende massenhaft im Einsatz bleibt.
Soldaten der Roten Armee springen von ihren Panzern – offenbar setzt Beschuss ein. Der Sturmangriff erfolgt hier mit T-34/85, zumindest im Fall des rechten Panzers.
Hinweis: Dieses Foto ist nachträglich coloriert worden.
Die 20. deutsche Gebirgsarmee zieht sich verbittert aus Finnland nach Norwegen zurück. Inzwischen hat sich die Kriegslage geradezu dramatisch entwickelt.
Während die deutschen Oberbefehlshaber einer geschickten Täuschung der Russen auf den Leim gehen – zumindest in Berlin – und den Hauptangriff dort erwarten, wo die Rote Armee deutlich sichtbar Truppen zusammenzieht (am Frontabschnitt bei Kowelj, Luzk und Lemberg im Bereich der 1. Ukrainischen Front), braut sich die Vernichtung der drastisch geschwächten deutschen Heeresgruppe Mitte zusammen. Der sowjetische Codename für die Operation „Bagration“ leitet sich von dem russischen Feldherrn Pjotr Ivanovitsch Bagration ab, der erfolgreich gegen Napoleon gekämpft hatte und am 24. September 1812 einer Verwundung erlag. Am 22. Juni 1944 setzen massive Erkundungsvorstöße gegen die deutschen Stellungen ein. Dann kommt die Nacht mit ihren schwülen Hitzegewittern.
Iljuschin Il-2M-3 „Stormovik”. Ähnlich, wie in der Normandie in Frankreich die Hawker „Typhoon”- und P-47 „Thunderbolt”-Jagdbomber den deutschen Bodentruppen zusetzen, erfüllt diese Aufgabe an der Ostfront höchst effektiv die Il-2. Sie ist vermutlich das beste Schlachtflugzeug des Zweiten Weltkrieges überhaupt.
Etwa 31.000 sowjetische Feldgeschütze sorgen für einen vernichtend gründlichen Feuerschlag im Morgengrauen des 23. Juni 1944. Die Raketengeschosse der „Stalinorgeln“, auf amerikanischen Lastwagen montiert, tun ein Übriges – ihre Salven von dicht an dicht einschlagenden Projektilen produzieren einen regelrechten Vernichtungsteppich. Als das Inferno aus Feuer und Explosionen abebbt, stoßen etwa 4.500 bis 5.200 Panzer und Sturmgeschütze durch die deutschen Schützengräben, alles und jeden niederwalzend, der sich in den Weg stellt. 140 sowjetische Infanteriedivisionen folgen den 43 Panzerbrigaden, es sind je nach Quelle und Definition des Frontabschnittes zwischen 1,7 und 2,5 Millionen sowjetische Infanteristen! Sie stürmen die Befestigungen der Heeresgruppe Mitte, unterstützt von circa 5.000 russischen Flugzeugen. Die deutschen Soldaten krallen sich verzweifelt an jeden Quadratmeter Boden ihrer 1.100 Kilometer langen Front, doch die gerade mal 500.000 Mann (35 Divisionen) und knapp 650 Panzer sehen sich einer losgetretenen menschlichen Lawine gegenüber. Zum ersten Mal wird der gigantische Großangriff zudem von einer flächendeckenden, tief ins Hinterland reichenden Luftvorbereitung begleitet, welche strategisch organisiert ist. Eine böse Überraschung! Berichte beschreiben Hunderte und Aberhunderte an Schlachtflugzeugen, die sich auf alles stürzen, was sich am feindlichen Teil des Bodens bewegt. Dem haben die Deutschen in der Luft fast nichts entgegenzusetzen. Am Boden besteht eine zahlenmäßige deutsche Unterlegenheit an Panzern und Sturmgeschützen von mindestens 1 : 7, an Soldaten je nach Definition der Stärken von zwischen 1 : 4 und 1 : 5.
Die Verhältnisse einer absoluten Luftherrschaft des Gegners, wie sie im Westen in der Normandie zum Fluch der deutschen Wehrmacht und Panzertruppen geworden sind, manifestieren sich nun auch an der Ostfront zu Gunsten der Sowjetunion. Die Situation der deutschen Soldaten ist fast chancenlos.
Adolf Hitler ist in seiner Aufmerksamkeit im Westen beschäftigt und widmet die „Intuition“ seines „Feldherrngenies“ der alliierten Invasion an der französischen Atlantikküste. Hitlers selbstgerechte „strategische Weitsicht“ ist allerdings einer situationsgerecht-professionellen Kriegsführung nur noch hinderlich, sie ist in jeder Hinsicht fatal – sowohl in der Normandie als auch an der „Ostfront“. Der verbohrte Oberbefehlshaber der deutschen Streitkräfte verrennt sich borniert in früher einmal wirksame, damals am Jahresende 1941 vor Moskau vermutlich sogar sinnvolle, inzwischen jedoch längst überholte starre Konzepte und duldet keinen Widerspruch.
„Halten um jeden Preis“ ist oft die einzige Idee, deren Sinnhaftigkeit angesichts eines Gegners, der den deutschen Widersacher nun mit seinen eigenen Methoden schlägt, höchst zweifelhaft erscheinen muss. Spätestens seit dem Untergang der 6. Armee in Stalingrad, deren Vernichtung auch nur eine sowjetische Kopie der riesigen deutschen Kesselschlachten des Jahres 1941 gewesen war, muss jedem klar sein, dass das Halten befestigter Positionen inmitten der Flut eines höchst mobilen Großangriffes mit der Umzingelung enden muss. Ein „Durchhalten“ bis zum „Entsatz“, bis zur Befreiung aus der Umklammerung macht nur einen Sinn, wenn genügend Kräfte für einen befreienden Gegenangriff zur Verfügung stehen. Wo aber sollen diese im Jahr 1944 im Osten noch her kommen?
Adolf Hitler hat für die tatsächlichen Kräfteverhältnisse kein Gespür mehr. Obwohl er andererseits wenige Wochen später, am 25. August 1944, in einem Gespräch mit dem erfolgreichsten Jagdflieger Erich Hartmann diesem zugibt, er wisse, dass der Krieg militärisch verloren sei. *1 Es fehle die Zeit für eine Wende! Doch er klammert sich andererseits an die Idee, die politischen Gegensätze der Alliierten im Westen und im Osten seien derartig unvereinbar, dass man nur abwarten und durchhalten müsse.
„Abwarten und durchhalten“. Im Bereich der Heeresgruppe Mitte bedeutet dies, dass Hitler keine Errichtung gestaffelter Verteidigungslinien erlaubt, sondern stattdessen „feste Plätze“ zu „Wellenbrechern“ erklärt, die um jeden Preis zu halten seien – wie vor Moskau im Winter des Jahres 1941(als dies noch erfolgreich war). Eine dieser „Festungen“ ist Witebsk – es wird von General Georg-Hans Reinhardts 3. deutscher Panzerarmee verteidigt. Eine Panzerarmee, die keine ist. In Wahrheit liegen neun Infanteriedivisionen in Stellung, zwei bilden eine Eingreifreserve.
Witebsk wird bereits im ersten Ansturm eingeschlossen – zusammen mit fünf Divisionen der 3. Panzerarmee. General Reinhardt bittet den Oberbefehlshaber der Heeresgruppe Mitte, Generalfeldmarschall Busch, unverzüglich um die Erlaubnis zum Ausbruch aus dem Kessel, solange sich dieser noch nicht stabilisiert habe. Busch ist ein Mann, der absoluten Gehorsam für die höchste Pflicht eines Offiziers hält – nicht zufällig hatte der längst zutiefst misstrauische Hitler gerade ihm den Oberbefehl über die Heeresgruppe Mitte übertragen. Busch ersucht folgerichtig Hitler um die Erlaubnis – und wenig überraschend lehnt dieser ab. Witebsk sei bis zur letzten Patrone zu verteidigen!
Erst am 25. Juni 1944 gestattet Hitler wenigstens zwei Divisionen den Ausbruch. Doch Erlaubnisse, Befehle und Zuwiderhandlungen spielen in Witebsk zu diesem Zeitpunkt keine Rolle mehr. Hitlers Misstrauen ist nicht ganz unberechtigt – die Neigung seiner Kommandeure, gar zu selbstmörderisch irrwitzige Befehle zu befolgen, wird immer geringer. Und vernünftige, ungehorsame Eigeninitiative entsteht immer häufiger. Den Truppen in Witebsk nützt beides nichts mehr. Die Einheiten, welche ausbrechen, werden niedergewalzt, zusammengeschossen und aus der Luft vernichtet, die anderen, welche sich verzweifelt vor Ort ihrer Haut wehren, werden in Witebsk überrannt. Der Rest der 3. Panzerarmee versucht, sich durch unwegsame Waldgebiete nach Westen durchzuschlagen, Wälder, die Deckung bieten gegen den Spießrutenlauf durch sowjetische Il-2 „Stormovik“-Schlachtflugzeuge, Pe-2 „Peschka“-Sturzkampfbomber oder Douglas „Boston“-Mittelstreckenbomber amerikanischer Produktion. Vor allem die Stormoviks werden zur tödlichen Geisel der deutschen Soldaten. Welche in den Wäldern zusätzlich erbarmungslosen Attacken der Partisanen ausgesetzt sind – ohne Gnade.
Weiter südlich bei Bobruisk (140 Kilometer nordwestlich von Gomel) steht die deutsche 9. Armee. Niemand kann ernsthaft in diesem ausgedehnten Moorgebiet der Pripjat-Sümpfe eine Offensive erwarten. Doch die sowjetischen Infanteriekolonnen hier gleichen einem wandernden Stangenwald. Sie sind derartig mit Bohlen, Planken, Knüppelholz und Holzschwellen beladen, dass sie in der Lage sind, ganze Holzstraßen quer durch die Sümpfe zu bauen. In einer einzigen Nacht. Auf denen sogar Panzer rollen ...
Zwei schwere sowjetische Angriffe werden von den entschlossen kämpfenden Soldaten der deutschen 9. Armee abgewehrt. Der dritte bricht aus den Sümpfen hervor in die deutschen Stellungen. Bald ist der größte Teil der 9. Armee eingekesselt.
Diejenigen Einheiten der Heeresgruppe Mitte, die noch Bewegungsfreiraum haben, versuchen, sich geordnet zurückzuziehen. Busch will vernünftigerweise die 4. Armee, welche zwischen Bobruisk und Witebsk dem sowjetischen Ansturm noch standhalten kann, nicht auch noch der Einkesselung preisgeben. Doch er macht einen verhängnisvollen Fehler.
Er fragt den Oberbefehlshaber der Wehrmacht um Erlaubnis, die Truppen zurücknehmen zu dürfen. Das hätte er sich sparen können. Und den Soldaten der 4. Armee ersparen, die nun die „festen Plätze“ Orscha und Mogilew (Mogiljow) wieder einmal bis zum letzten Mann zu verteidigen haben – gemäß Führerbefehl. Zwei weitere deutsche Divisionen sind zur sinnlosen Vernichtung verurteilt.
Der Rest der Heeresgruppe Mitte flutet nach Minsk zurück – verfolgt und schließlich überholt von den schnellen motorisierten Einheiten der Roten Armee und ihren riesigen Panzermassen, die nun genau das nachmachen, was ihnen die deutsche Wehrmacht drei Jahre zuvor so überaus erfolgreich vorexerziert hatte. Der deutsche Rückzug wird unter den pausenlosen Angriffen der Schwärme von zu Hunderten operierenden sowjetischen Schlachtflugzeugen zum Desaster, welches Tausende von Todesopfern fordert. Dazwischen rollen die sowjetischen Panzerkeile, die nun tief ins völlig ungeschützte Hinterland der deutschen Front vorstoßen. Stoßkeile, die erheblich schneller vorrücken, als ihre Gegner sich im Rückzug stabilisieren können. Wie damals im Jahr 1941 – nur mit vertauschten Rollen!
Wenig später steht das Gros der Heeresgruppe Mitte bei Minsk kurz vor der Einkesselung. Es ist eine Katastrophe gigantischen Ausmaßes.
Generalfeldmarschall Busch ist verzweifelt und ratlos – er wird am 28. Juni 1944 durch Generalfeldmarschall Walter Model abgelöst, den Oberbefehlshaber der Heeresgruppe Nordukraine – jener Heeresgruppe etwas weiter südlich bei Kowelj und Lemberg, welche den russischen Hauptschlag erwartet hatte. Model handelt rasch – und schert sich einen Teufel um des Führers Befehle!
Model zieht sofort die 5. Panzerdivision von seiner anderen Heeresgruppe ab, deren Oberbefehl er erst einen Monat später abgeben wird, zusammen mit zwei weiteren Panzerdivisionen. Die 5. Panzerdivision stellt die russischen Angriffsspitzen auf der Rollbahn von Moskau und zerschlägt deren vorderste Einheiten, dann wenden sich die deutschen Panzer in Richtung Minsk. Doch um hier noch eine grundlegende Wende zu erreichen, sind sie zu schwach – und kommen zu spät.
Zerstörte deutsche Artilleriestellung an der Straße nach Minsk.
Gleichzeitig versuchen 100 Kilometer weiter östlich von Minsk bei Beresino die letzten Truppen der 4. Armee immer noch, über die einzige verbliebene Feldbrücke den Fluss Beresina nach Westen zu überqueren. Längst hält sich auch General von Tippelskirch, Befehlshaber der 4. Armee, nur noch an seinen gesunden Menschenverstand und nicht mehr an hirnrissige Führerbefehle. Pausenlos wird die Brücke von der sowjetischen Luftwaffe angegriffen, die schwere Verluste durch die deutsche Flak erleidet, aber noch schwerere verursacht. Alleine drei Generale fallen beim Übergang direkt auf der Brücke. Immer wieder bauen die deutschen Pioniere die beschädigte Brücke im Bombenhagel wieder auf.
Nach dem Übergang über den Fluss kämpfen sich die Reste der 4. Armee in Richtung Westen. Nicht ahnend, dass sie inzwischen eingeschlossen sind. Am 3. Juli 1944 nehmen die Russen Minsk ein. Jetzt ist die Situation offensichtlich. Die eingekreiste 4. Armee wird völlig vernichtet. Nur wenigen Einheiten gelingt es, sich durch endlose Waldgebiete an den sowjetischen Truppen vorbei durch Partisanengebiet hindurch zu ringen und irgendwo wieder Anschluss an deutsche Armeeteile zu gewinnen.
Allmählich geht nun auch den sowjetischen Panzerspitzen die Stoßkraft aus. Auch sie leiden unter den katastrophalen russischen Verkehrswegen. Model organisiert den deutschen Widerstand mit all seinem Geschick und seiner Erfahrung. Er kann den völligen Zusammenbruch gerade noch verhindern – eine militärische Leistung auch seiner Soldaten, die enorm ist. Allerdings sieht er sich nun einem Kräfteverhältnis von 1 : 10 gegenüber. Baranowitschi fällt am 8. Juli 1944 in sowjetische Hand.
Die Rote Armee hat inzwischen etwa 180.000 Soldaten verloren, aber 200.000 Deutsche getötet und weitere 150.000 gefangen genommen – 350.000 Kämpfer büßt die Wehrmacht insgesamt ein. Die Hälfte der Gefangenen überlebt ihre Haftbedingungen nicht. Innerhalb von nur zwei Wochen sind 28 deutsche Divisionen vernichtet worden.
Und: die sowjetische Rote Armee ist inzwischen stolze 500 Kilometer vorgerückt – sie hat nun ihr Staatsgebiet vollständig vom Feind befreit. Ein gigantischer Sieg, den sich die sowjetischen Generäle in dieser Geschwindigkeit nie hätten träumen lassen. Am 13. Juli 1944 fällt Wilna (Vilnius), wo Hitler noch einmal sieben deutsche Bataillone verheizt – sie halten die Stadt „bis zum letzten Atemzug“ ...
Die Heeresgruppe Mitte ist praktisch zerschlagen und wird nur noch durch Verlagerungen aus der südlich angrenzenden Heeresgruppe Nordukraine in die Lage versetzt, sich einigermaßen zu stabilisieren. Verlegungen, „Feuerwehr“-Aktionen, welche die Heeresgruppe Nordukraine bei Kowelj und Lemberg sowie westlich von Luzk beträchtlich schwächen.
Das ist der Moment, auf den der Oberbefehlshaber der 1. Ukrainischen Front, Marshal Ivan Stepanovich Konew, gewartet hatte. Auch er hat eine gewaltige Streitmacht versammelt. Bei Luzk sowie östlich von Kowelj und Lemberg. Es ist die stärkste Heeresgruppe der Roten Armee.
Eine Million Soldaten der 1. Ukrainischen Front, 1.600 Panzer, 14.000 Geschütze und 2.800 Flugzeuge warten auf seinen Befehl zum Losschlagen. Im Süden stehen zusätzlich die Verbände der 4. Ukrainischen Front bereit.
Zusammen verfügen die beiden „Fronten“, wie die Sowjets ihre Heeresgruppen nennen, über etwa 70 Infanteriedivisionen und 3.000 Panzer. Ihnen hat Model und später sein Nachfolger Generaloberst Harpe 31 Infanteriedivisionen sowie 5 Panzerdivisionen mit 600 Panzern entgegenzustellen.
Am 13. Juli 1944 erteilt Konew den Angriffsbefehl.
Die Deutschen sollen nicht zur Ruhe kommen. Kaum, dass im Abschnitt der geschlagenen Heeresgruppe Mitte die russische Stoßkraft erlahmt, bricht die Flut an den Flanken los. Der russischen „Dampfwalze“ ist kein Einhalt zu gebieten.
An diesem Frontabschnitt war die sowjetische Sommeroffensive erwartet worden. Die deutschen Verbände liegen gut vorbereitet hinter Minenfeldern in Stellung. Ihre Eingreifreserven allerdings kämpfen nun im Bereich der Heeresgruppe Mitte, um das Allerschlimmste zu verhindern – den direkten Durchmarsch der Roten Armee ins Herz des Deutschen Reiches.
Konews Truppen treffen auf hartnäckigen, entschlossenen deutschen Widerstand. Drei Tage lang beißen sie sich an dem wütenden Abwehrfeuer der Deutschen die Zähne aus. Erst am 16. und 17. Juli 1944 wird nach Verstärkung der sowjetischen Angriffskeile durch zwei weitere russische Panzerarmeen aus den Reserveverbänden endlich ein örtlicher Durchbruch erzielt. Drei Divisionen der 1. deutschen Panzerarmee werden bei Brody eingekesselt. Etwa 40.000 Mann sitzen in der Falle.
Dies sind die Situationen, in denen Eingreifreserven benötigt werden, um mit entschlossenen Gegenangriffen die Eingeschlossenen wieder freizukämpfen. Doch das Gros dieser Eingreifreserven stemmt sich inzwischen weiter nördlich mit den Resten der Heeresgruppe Mitte dem russischen Vormarsch entgegen. So greift nur das III. deutsche Panzerkorps an, um die eigenen Kameraden bei Brody herauszuhauen. Mehr verbleibt der Heeresgruppe Nordukraine nicht mehr für eine solche Aufgabe.
Eine der beiden Divisionen des III. Panzerkorps wird prompt unter großen Verlusten zurückgeschlagen, die andere aus der Luft zusammengeschossen und zerbombt. Stormoviks – wieder einmal.
General Lange und General Lasch entschließen sich daraufhin zum Ausbruch aus dem Kessel. 5.000 deutsche Soldaten kämpfen sich den Weg frei. General Lindemann jedoch resigniert. Die vernichtenden Niederlagen hinterlassen allmählich selbst bei den so standhaften Deutschen ihre Wirkung. Lindemann schätzt die Erfolgschancen eines Ausbruchversuches nicht allzu hoch ein. Er kapituliert mit dem Rest der im Kessel verbliebenen Truppen – und wird in Abwesenheit hierfür vom „Führer“ zum Tode verurteilt.
Von da an ist der sowjetische Vormarsch auch an diesem Frontabschnitt nicht mehr aufzuhalten. Am 30. Juli 1944 überqueren die Truppen Konews die Weichsel. Eine erbitterte Schlacht entsteht. Sowohl die deutschen Einheiten als auch die Stoßkeile der 1. Ukrainische Front sind vorübergehend gespalten, weil sich jeweils feindliche Verbände zwischen den eigenen Truppenteilen befinden.
Nach einem russischen Vorstoß von 210 Kilometern in nur 17 Tagen bringen die Deutschen Konews Angriff zum Stehen. Doch die sowjetischen Truppen haben sich nun westlich der Weichsel festgesetzt.
Zehn Tage zuvor, am 20. Juli 1944 explodiert in Adolf Hitlers Führerhauptquartier in Ostpreußen, der so genannten „Wolfsschanze“, mitten während einer Lagebesprechung eine Bombe. Es ist kaum mit menschlicher Logik zu erklären, warum der deutsche Diktator, der sich in unmittelbarer Nähe des Sprengkörpers über den schweren Kartentisch gebeugt hatte, nur leicht verletzt wird.
Das Schicksal meint es nicht gut mit den Verschwörern der deutschen Widerstandsgruppe unter General Friedrich Olbricht, Generalmajor Henning von Tresckow und Oberst Claus Schenk Graf von Stauffenberg, der die beiden Bomben in einer Aktentasche in den Besprechungsraum geschmuggelt hatte, zuvor jedoch nur eine davon scharf machen konnte, da er gestört worden war.
Hitler übt grausame Rache. Alle, die etwas mit dem von ihm so bezeichneten „Komplott“ zu tun haben oder auch nur verdächtigt werden, fallen der Vergeltung zum Opfer. Die Glücklicheren werden erschossen. Andere brutal gefoltert – so Oberstleutnant von Hofacker, der unter den Torturen auch einen Nationalhelden belastet.
Es ist Erwin Rommel, der Wüstenfuchs, dem zwar lediglich Mitwisserschaft unterstellt werden kann – doch das genügt. Vor die Wahl gestellt, entweder Selbstmord zu begehen oder vor dem Volksgerichtshof abgeurteilt zu werden – mit der Folge der „Sippenhaft“ für seine Familie – entscheidet sich Erwin Rommel für die Giftkapsel. Man stellt seinen Tod als Folge eines Tieffliegerangriffes dar ...
Von nun an ist die Irrationalität Hitlers unkalkulierbar. Seine Tobsuchtsanfälle sind gefürchtet und berüchtigt. Mit allen Konsequenzen für das deutsche Volk. Kaum jemand in seiner Umgebung wagt es noch, dem „Führer“ zu widersprechen oder die ungeschminkte Wahrheit zu sagen. Wer es doch tut, wird zumindest seines Postens enthoben – im günstigsten Fall. So Generaloberst Lindemann (ein Namensvetter des oben genannten Generals), Oberbefehlshaber der Heeresgruppe Nord. Der nicht müde wird, den Rückzug seiner Heeresgruppe zu fordern.
Die Rote Armee steht fast vor Riga! Erreichen die Sowjets die Ostsee, ist ein Teil seiner Heeresgruppe abgeschnitten! Er muss, er muss zurück! Alles andere ist Wahnsinn!
Hitler will das nicht hören. Und ersetzt Lindemann durch General Johannes Frießner. Dies findet bereits am 4. Juli 1944 statt – noch vor dem gescheiterten Attentat. Frießner arbeitet sich in die Lage ein – und wiederholt die Forderung seines Vorgängers, noch dringlicher, als es Lindemann bereits getan hatte.
Hitler befördert Frießner zum Generaloberst – und versetzt den unbequemen Mahner nach Rumänien. Die Heeresgruppe Nord führt ab sofort (ab 23. Juli 1944) Generalfeldmarschall Ferdinand Schörner.
Es sind derartige Aktionen, die das Vertrauen der deutschen Soldaten in ihre Führung quer durch alle Ränge enorm belasten. Dennoch kämpfen die Männer unbeirrt mit größter Tapferkeit weiter.
Am 31. Juli 1944 fällt Tukums bei Riga. Es kommt, wie es kommen muss. Die Heeresgruppe Nord ist abgeschnitten.
Am 21. August 1944 stellt ein Gegenangriff der deutschen 5. und 14. Panzerdivision die Verbindung zwischen den Heeresgruppen Nord und Mitte wieder her. Es ist die letzte Chance, die Heeresgruppe Nord voll zu evakuieren – mit allen schweren Waffen.
Hitler lehnt dies empört ab. Das Ergebnis sind 26 in der Halbinsel Kurland bis zum Kriegsende sinnlos eingeschlossene deutsche Divisionen, die Reste der stolzen Heeresgruppe Nord.
Inzwischen stehen die Spitzen der Roten Armee vor Warschau. Stalin hat in Lublin bereits eine provisorische polnische Regierung errichtet – eine kommunistische, versteht sich. Diese steht in Konkurrenz zur so genannten polnischen Heimatarmee unter General Tadeusz Bor Komorowski, einer von Großbritannien unterstützten, westlich orientierten Untergrundbewegung.
Komorowskis Untergrundkämpfer wollen am 1. August 1944 kurz vor der Eroberung der Stadt durch die bereits am Stadtrand stehenden Rotarmisten selber ihren Anteil an der Befreiung der Stadt leisten, um dadurch die Legitimität der Regierungsbildung zu erreichen. Für den sowjetischen Diktator Stalin, der vor wenigen Jahren mit seinem damaligen Kumpan Hitler das polnische Volk infam verraten hatte – aus polnischer Sicht –, hegt man wenig Sympathien. Was diesem klar ist.
Die Polen sollten es besser wissen. Stalin hat nicht das geringste Interesse daran, eine westlich demokratisch orientierte Widerstandsbewegung in Polen zu unterstützen. Statt seine Truppen in Warschau einmarschieren zu lassen, sieht er genüsslich zu, wie der polnische Aufstand zwar große Teile des Stadtgebietes unter Komorowskis Kontrolle bringt – jedoch keine einzige strategisch wichtige Position. Und dann in aller Ruhe, ungestört von irgendwelchen Angriffshandlungen der Roten Armee, von der deutschen SS mit brutaler Härte niedergeschlagen wird. Nicht einmal amerikanischen und britischen Hilfsflugzeugen, die Waffen und Medikamente über den befreiten Stadtvierteln von Warschau abwerfen, werden Landerechte auf russischen Flugplätzen – namentlich Poltawa – zugestanden. Wohlgemerkt Flugzeugen von jenen Verbündeten, die ihn, Stalin, enorm mit Hilfslieferungen unterstützt hatten und es noch tun. Bei „Shuttle“-Bombenangriffen auf Deutschland ist die Landung der amerikanischen Langstrecken-Bomber in Poltawa dagegen erlaubt. Nicht ein einziges russisches Flugzeug kommt den Polen zu Hilfe, obwohl deren Flugplätze nur wenige Kilometer entfernt liegen, während die Briten 1.500 Kilometer über Feindesland zu überfliegen haben – doppelt, einmal hin, dann wieder zurück. Der britische Premier Churchill ist empört und macht dies dem sowjetischen Machthaber gegenüber auch unmissverständlich klar. Roosevelt, der amerikanische Präsident, verhält sich dagegen eher zögerlich. Er will das „gute Verhältnis zu Stalin“ nicht gefährden. Der allerdings agiert völlig unbeeindruckt von jedweder öffentlichen Meinung. Selbst polnische Partisaneneinheiten, die dem Aufstand entlastend von der bereits sowjetisch besetzten Umgebung Warschaus aus zu Hilfe eilen wollen, werden von Stalins Armee kurzerhand entwaffnet. Deutlicher geht es nicht!
Generalfeldmarschall Model auf deutscher Seite weigert sich, seine Truppen zur Niederschlagung des Aufstandes zur Verfügung zu stellen. „Diejenigen, die durch Korruption und falsche Behandlung der polnischen Bevölkerung diesen Aufstand verursacht haben, sollen ihn auch bereinigen!“Seine Soldaten seien ihm dafür zu schade. Es gehört Courage dazu, einen derartigen Standpunkt zu vertreten.
Dafür werden nun russische SS-Truppen (auch das gibt es) wie die SS-Sturmbrigade „Rona“ unter Kaminski oder das SS-Polizeiregiment Dirlewanger, welches aus freigelassenen Kriminellen besteht, auf die Stadt losgelassen. Sie wüten fürchterlich – Vergewaltigung und Mord eingeschlossen.
Bis die Getreuen Komorowskis von der SS „erledigt“ sind. 16.000 polnische Kämpfer und etwa 166.000 Zivilisten verlieren bis zum 2. Oktober 1944 ihr Leben.
Der sowjetische Diktator befindet sich derzeit in einer höchst erfreulichen Lage. Auch die Rumänen, Deutschlands südliche Verbündete, verhandeln insgeheim bereits seit Mai 1944 mit ihm. Der rumänische Diktator Marshall Ion Antonesçu versucht, einigermaßen mit heiler Haut aus der Sache herauszukommen. Er ist ein Mann, dem Hitler absolut vertraut.
Gleichzeitig verlangt Antonesçu von den Deutschen in seinem Land – in weiser Voraussicht – einen gleichberechtigten Oberbefehl über die Gesamtstreitmacht der Heeresgruppe Südukraine, welche nun von Generaloberst Johannes Frießner befehligt wird. Sie besteht aus zwei rumänischen und zwei deutschen Armeen – unter anderem der nach ihrer Vernichtung in Stalingrad inzwischen neu gegründeten 6. deutschen Armee. Die beiden deutschen Armeen sind leidlich kampffähig ausgerüstet – verglichen mit den Rumänen, denen es an vielem fehlt. Vor allem an Kampfgeist. Das war nicht immer so gewesen. Auf der Krim hatten rumänische Truppen teilweise wenig Standhaftigkeit bewiesen, teilweise aber auch tapfer durchgehalten. Wenn sie gut geführt wurden – was nicht die Regel war und ist.
Frießner stimmt der geteilte Oberbefehl äußerst misstrauisch. Er ist sich der korrupten Strukturen in Rumänien vollauf bewusst. Wieder wendet er sich sorgenvoll an Adolf Hitler. Und wieder schlägt dieser alle Warnungen und Sicherheitserwägungen in den Wind! Hitler gesteht den Rumänen den Oberbefehl über eine der beiden Armeegruppen zu und verweigert sich den rumänischen Forderungen nicht. Dies hätte den offenen Bruch riskiert. Aber auch klare Verhältnisse geschaffen!
So wird die Armeegruppe Moldau, bestehend aus der 8. deutschen und 4. rumänischen Armee, dem Befehl des deutschen Generals Wöhler unterstellt, die andere Armeegruppe mit Namen „Bessarabien“ dagegen dem rumänischen Generaloberst Dimitrescu. Sie besteht aus der 3. rumänischen Armee - und der 6. deutschen Armee.
Antonesçu hatte vorgeschlagen, den Frontbogen von Jassy (Iaşi) - Kischinjow (Chişinaˇu) zu räumen – also sogar eigenes rumänisches Gebiet preiszugeben! Um in sinnvoller Weise die Front zu verkürzen und Reserven freistellen zu können. Adolf Hitler lehnt ab ...
Am 20. August 1944 brechen die Truppen der 2. Ukrainischen Front unter Malinowskij nördlich dieses Frontbogens und der 3. Ukrainischen Front unter Tolbuchin südlich davon aus ihren Stellungen und fallen über die Heeresgruppe Südukraine her. Speziell über die Rumänen.
Doch nirgendwo an den rumänischen Frontabschnitten wird irgendein ernsthafter Widerstand geleistet – im Gegenteil. An zwei Stellen erbringen rumänische Frontoffiziere sogar aktive Hilfe für die Russen. Nie war es der Roten Armee so leicht gemacht worden, einen überwältigenden Sieg zu erringen.
Am 23. August 1944 ist die 6. deutsche Armee, an deren rumänischen Flanken wie damals an der Wolga der Durchbruch erfolgt, umzingelt und eingekesselt. Wieder einmal. Frießner hatte in katastrophal dramatischem Umfang Recht behalten. An demselben Tag wird Marshall Ion Antonesçu zum jungen und bisher eher machtlosen rumänischen König befohlen und im königlichen Palast verhaftet.
Unter pausenlosem Feuer vom Boden aus und aus der Luft versuchen sich die Männer der 6. Armee freizukämpfen, auszubrechen, Anschluss an die übrigen deutschen Truppen zu erringen. Neun Tage später sind 200.000 von ihnen gefangen oder tot, gefallen in einem zweiten Stalingrad.
Als der deutsche General Gerstenberg, Mitglied der „deutschen Wehrmachtsmission“ in Rumänien, an Hitler meldet, die Verschwörung sei das Werk einer kleinen rumänischen Clique, die sich „vor Angst in die Hosen mache“, vermutet Hitler, diese Gruppe mit einer Machtdemonstration zum Einknicken bringen zu können. Zudem sinnt er auf Rache.
Am 25. August 1944 bombardieren deutsche Kampfflugzeuge Bukarest, die rumänische Hauptstadt. Die materiellen Schäden dieses Angriffs sind gering, die psychologischen aber verheerend.
Sollten unter den ehemaligen Verbündeten noch irgendwelche Skrupel aus alten Kampfbrüderschaften mit den Deutschen bestanden haben – schließlich kennt man sich auf unterer Führungsebene bisweilen auch persönlich gut – so hat Hitler mit diesem Angriff den abtrünnigen Rumänen den moralischen „Persilschein“ erteilt. Jetzt ist der Vorwand gefunden, hochoffiziell die Fronten zu wechseln. Rumänien erklärt „postwendend“ Deutschland den Krieg – und seinen Truppen den Befehl, auf die Deutschen zu schießen.
Dies führt endgültig zu chaotischen Verhältnissen an der südlichen Front. Die restlichen deutschen Truppen müssen sich fast fluchtartig aus Rumänien zurückziehen. Inzwischen landen sowjetische Streitkräfte von See her am 29. August 1944 im Donaudelta. Die für Hitler so wichtigen rumänischen Erdölfelder bei Ploeşti fallen am selben Tag. Bukarest wird am 31. August 1944 erobert. Am 5. September 1944 verbrüdern sich sowjetische Truppen mit den jugoslawischen Partisanen Titos. Bulgarien, das versucht hatte, sich neutral zu erklären, scheitert mit diesem Bemühen. Stalin erklärt den Bulgaren den Krieg und lässt seine Truppen einmarschieren.
Daraufhin übernimmt in Bulgarien die „Vaterländische Front aus Bauern und Kommunisten“ die Macht.
Wenig später erklärt Bulgarien Deutschland den Krieg. 500.000 bulgarische Soldaten marschieren Seite an Seite mit der Roten Armee im deutsch besetzten Jugoslawien ein. Hitler ist gezwungen, seine Truppen jetzt auch aus Griechenland zurückzuziehen. Die Gefahr, dort isoliert und abgeschnitten zu werden, ist zu groß. Währenddessen rücken die Russen und ihre neuen rumänischen Verbündeten nun nach Ungarn vor. Und treffen hier schließlich wieder auf reorganisierten entschlossenen Widerstand. Die Ungarn stehen zu den Deutschen. Wenn auch nicht ganz ohne „Nachhilfe“ Hitlers, der den ungarischen Reichsverweser Miklós Horthy massiv unter Druck setzt. Der „bittet“ darauf hin Deutschland um militärische Unterstützung. Die ungarischen Truppen kämpfen loyal. Und die Deutschen greifen an. Schließlich können zwei Panzerdivisionen drei sowjetische Korps abschneiden und vernichten.
Schwere, neue „Josef Stalin“ JS-2-Panzer mit 122-mm-Kanone, die in Rumänien von den Panther-Panzern der Panzergrenadier-Elitedivision „Großdeutschland“ abgeschossen werden.
Ein abgeschossenes sowjetisches Sturmgeschütz SU-100 – der Nachfolger des SU-85, welches die Antwort auf die überaus effizienten deutschen Sturmgeschütze darstellt. Ab Januar 1945 kommt der Typ SU-100 zum Einsatz.
Das deutsche Gegenstück der sowjetischen SU-Modelle: ein Jagdpanzer IV, mit der 7,5-cm Pak-39 L/48 seit dem Jahr 1943, in dieser Version mit der 7,5-cm-Kanone 42 L/70 ab Herbst 1944 an allen Fronten. Offenbar fiel dieser Jagdpanzer IV einem sowjetischen T-34/85 zum Opfer.
Hinweis: Dieses Foto ist nachträglich coloriert worden.
Die schwer gebeutelte deutsche Wehrmacht ist noch nicht geschlagen. Ihre Fähigkeit, sich immer wieder neu zu formieren, ist beachtenswert.
In Anbetracht der Kräfteverhältnisse ist die Lage dennoch auf die Dauer aussichtslos geworden. Adolf Hitler sieht die Ursachen hierfür auf seine Weise.
„Was sollen Sie letzten Endes von einer gesamten Front erwarten in ihrer oberen Führung, wenn – wie man jetzt sieht – rückwärts die wichtigsten Stellen mit absoluten Destrukteuren besetzt waren – nicht Defätisten, sondern Destrukteuren ...“
So spricht der wahre Destrukteur persönlich (am 31.Juli 1944).
Für die Fähigkeit der sowjetischen Luftwaffe zur Erdkampfunterstützung ist eines der weltweit erfolgreichsten Schlachtflugzeuge, die Iljuschin Il-2 „Stormovik“, von überragender Bedeutung. Das Flugzeug ist schwer bewaffnet. Es hat eine Feuerkraft von zwei 7,62-mm-Maschinengewehren und zwei 2,3-cm-Kanonen und kann eine Bombenlast von 400 kg tragen plus vier seit dem Jahr 1940 eingesetzte RS-82- (82 mm, 0,36-kg-Sprengkopf) oder RS-132- (132 mm, 0,9-kg-Sprengkopf) Luft-Boden-Raketen.
Diese Raketen sind zwar nicht sehr treffgenau, können aber in Salven abgefeuert auf Fahrzeugkolonnen sehr zerstörerisch sein. Um gepanzerte Fahrzeuge außer Gefecht zu setzen, ist ein direkter Treffer nötig – ab einem mittleren Panzer ist die Wirkung selbst dann eher gering. Dennoch beeinflussen diese Raketen die Entwicklung der wesentlich explosivstärkeren britischen (27-kg-Sprengkopf) RP-3-Luft-Boden-Raketen. Mit den ebenfalls erheblich stärkeren, aus den RS-132 entwickelten M-13-Raketen verbessert sich die Kampfkraft der Il-2 weiter. Die M-13 besitzt einen 4,9 kg schweren Sprengkopf.
Die Iljuschin Il-2 ist außerdem stark gepanzert. In den Vorderbug eingearbeitete bis zu 13 mm starke Panzerplatten schützen das Flugzeug und seine Besatzung zuverlässig gegen Maschinengewehr-Abwehrfeuer vom Boden aus. Die ersten Versionen sind Einsitzer, doch nach hohen Verlusten durch Jäger bekämpft seit dem Jahr 1942 ein zusätzlicher Heckschütze mit einem 12,7-mm-MG die – gegenüber der eigenen Geschwindigkeit von 425 km/h – viel schnelleren Feindjäger. 36.163 Il-2 werden gebaut, mehr als von jedem anderen Flugzeug des Zweiten Weltkrieges. Es gibt Monate, da verlassen mehr als 1.000 Exemplare die Fabrikhallen – ebenso viele gehen zur selben Zeit im Kampf verloren.
Trotz der robusten Konstruktion gibt es verwundbare Stellen am Flugzeug. Der hintere Rumpfanteil ist aus Holz, und – wie sehr bald vom deutschen Ass Erich Hartmann ausgenützt – es genügt ein Treffer im Ölkühler, um jede Stormovik schnell und zuverlässig vom Himmel zu holen.
Einer der erfolgreichsten sowjetischen Stormovik-Piloten ist der zweimalige „Held der Sowjetunion“ Georgii Mikhailovich Parshin.
Parshin erhält seine Ausbildung zum Piloten in der Osoaviakhim-Organisation und tritt im Jahr 1941 anlässlich der deutschen Invasion in die sowjetische Luftwaffe VVS ein. Im Jahr 1943 wird er an die Kaukasus-Front versetzt und leitet dort im Rang eines Kapitan als Staffelkapitän eine „Eskadrilya“ (Staffel). Nach einem Aufbaulehrgang wird er zum 943. ShAP in den Raum Leningrad versetzt.
Im Juni 1944 erhält er dankend ein neues Flugzeug mit der weißen Nummer und der Aufschrift „Barinov’s Rache“ bzw. „Für Leningrad“ (je nach Rumpfseite). Dieses Flugzeug ist aus den Ersparnissen der beiden Frauen Praska Vasilevna Barina und ihrer Tochter Yevgenie Petrovna Barina finanziert worden. Er ist seit März 1944 zum Mayor befördert und nimmt an den Schlachten um Estland, Lettland und Königsberg teil. Er kämpft dort, wo ein deutscher Jägerpilot reihenweise sowjetische „Stormoviks“ vom Himmel schießt – Otto Kittel.
Im Frühjahr 1945 wird Parshins Iljuschin schließlich auch von deutschen Jägern abgeschossen. Parshin wird bei dem Angriff verwundet, schafft es jedoch, rechtzeitig mit dem Fallschirm abzuspringen, bevor seine Maschine zerschellt. Das Gebiet ist von den Deutschen besetzt. Glücklicherweise findet er seinen Bordfunker am Boden wieder. Gemeinsam verbergen sie sich und versuchen, sich irgendwie zu den eigenen Linien durchzuschlagen.
Auf dem Weg zur Front gelangen sie an eine Straße – auf welcher soeben ein glückloser deutscher Soldat mit dem Krad vorbeikommt, nichts ahnend von der Gefahr.
Die Russen erschießen ihn.
Später verstecken sie sich hinter einer Stelle, an welcher drei deutsche Pioniere Stellungen ausheben. Auch die Pioniere erwischt es völlig unvorbereitet – da sie alleine sind, bleibt den drei überraschten Deutschen nichts anderes übrig, als die Hände zu heben. Parshin und sein Kamerad nehmen sie gefangen und schaffen es unversehrt bis zu den Linien der Roten Armee.
Otto Kittel kommt zur 2. Staffel des berühmten „Grünherz“-Geschwaders JG 54 am 12. Februar des Jahres 1941. Er fliegt über Jugoslawien eine Messerschmitt Bf 109 E. Kittel benötigt viele Monate für seine ersten Luftsiege. Die ersten gelingen ihm schließlich auf einer Messerschmitt Bf 109 F-2. Es sind ein Yak-1-Jäger und ein SB-2-Bomber am 22. Juni 1941, gefolgt von zwei Il-2 „Stormoviks“ (noch als Einsitzer) am 30. Juni 1941.
Nach elf Abschüssen wird ihm das Eiserne Kreuz verliehen.
Feierliche Übergabe der gestifteten Il-2M-3 „Barinov’s Rache“/„Für Leningrad“ durch Praska Vasilevna Barina und Yevgenie Petrovna Barina an Mayor Parshin und seinen Heckschützen.
Im Juli 1942 heiratet er – per „Ferntrauung“ mit Hilfe von Feldpostdokumenten in Krasnogwardeisk (Gatchina). Der 4.000. Abschuss des Jagdgeschwaders 54 gelingt keinem anderen als Otto Kittel. Es ist der 19. Februar 1943. Wenige Tage zuvor hatte ihn der Schütze des 2.000sten Abschusses noch ermutigt. Kittel, unzufrieden mit sich und seiner Bilanz, wird von Oberfeldwebel Rudolf Klemm getröstet. Warte es ab, vielleicht ist der 4.000ste Abschuss des Geschwaders Deiner?
Der rechte Motor des sowjetischen Bombers explodiert, dann montiert die Tragfläche ab. Das Flugzeug bohrt sich fast senkrecht in den Boden. Sekunden später rettet der Warnruf eines Kameraden den deutschen Jagdflieger. Blitzartig zieht Kittel steil nach oben – und entgeht den Garben eines sowjetischen Jägers um Haaresbreite. Sekunden später fressen sich Kittels Geschosse in einen sowjetischen Jäger. Doch niemand kann dessen Absturz beobachten, auch Kittel sieht nur eine Rauchfahne. Also – kein sicherer, anrechenbarer Abschuss. Der Bomber allerdings zählt! Kittels 39. Luftsieg.
Il-2M „Stormoviks“ im Jahr 1945 über dem zerstörten Berlin.
Als Otto Kittel nach seiner Landung in das Geschwader-Hauptquartier zitiert wird, erschrickt er zutiefst. Was hat er bloß angestellt? Der Beifahrersitz im Motorrad (Krad) wartet schon auf ihn. Kittel salutiert wenig später befehlsgemäß und zutiefst angespannt vor seinem Kommodore, Oberstleutnant Trautloft. „Danke – sie dürfen sich rühren, Kittel!“ Das heißt: aus der militärisch strammen Haltung heraus bequem stehen. Kittel sieht sich sorgenvoll um. Was, um aller Welt, soll er hier?
Da fällt sein Blick auf die Flasche Champagner – und das stolze Gesicht seines Chefs ...
Kittels Abschusszahlen nehmen sprunghaft zu, als seine Einheit im März 1943 auf die Focke-Wulf 190 umgerüstet wird. Und, was zum gleichen Zeitpunkt geschieht, als Kittel aus der wenig erfolgsträchtigen Position des „Katschmareks“ (Deckungs-Flügelmannes) heraus endlich zum Rottenführer „befördert“ wird. Die Führungsposition vorne im Zweier-Verband ermöglicht erheblich mehr Chancen zum Angriff und Abschuss als die schützende Rolle des Rottenfliegers.
Sein persönliches 47. Opfer ereilt das Schicksal am 15. März 1943 – doch auch das Schicksal Otto Kittels hängt am seidenen Faden. Kittel ist Teil eines Schwarmes von vier Focke-Wulf 190 A-4 auf freier Jagd. Plötzlich haben sie es mit einer Gruppe sowjetischer Jäger zu tun – die Feindformation war nicht gemeldet worden, insofern kommt die Begegnung überraschend. Die Russen sind in der Überzahl, wie immer – etwa 20 Gegner. Es sind LaGG-3 aus russischer Produktion und ein neuer Typ von Feindjägern: P-39 „Airacobras“, die die Amerikaner den Sowjets geliefert hatten.
Während sich Oberleutnant Hans Götz und Oberfeldwebel Herbert Brönnle mit den LaGGs herumschlagen und jeweils eine von ihnen abschießen, sucht sich Kittel eine „Kobra“ heraus. Kein leichter Gegner, wie sich schnell herausstellt. Nach einigen wilden Kreismanövern greift der deutsche Jagdflieger in seine Trickkiste. Mit Hilfe einer „geslippten“ Acht landet er gekonnt am Heck seines Gegners – und feuert. Eine Focke-Wulf 190 ist schwer bewaffnet! Wenige Geschosse im Ziel genügen meistens für einen Abschuss!
Kittel trifft, Fetzen fliegen vom Heck der Airacobra. Der Russe weicht ruckartig aus – was Kittel unverhofft dazu bringt, an ihm vorbeizujagen. Prompt landet er kurz in der Schusslinie des sowjetischen Piloten. Im Gegensatz zu den russischen Eigenkonstruktionen kann die Bewaffnung einer Airacobra mit der einer Focke-Wulf konkurrieren! Kittels Jagdflugzeug wird getroffen – wenn auch nicht allzu sehr beschädigt, wie es scheint. Wenig später ist Kittel wieder in der Position, sich zu revanchieren. Seine Leuchtspurgarben irrlichtern in das Cockpit der Jagdmaschine amerikanischen Ursprungs. Vermutlich ist deren Pilot bereits tot, als sich die „Kobra“ in die russische Erde bohrt und explodiert.
Schön, jetzt aber nichts wie nach Hause! Oberleutnant Götz hat den Aufprall der P-39 gesehen – ein weiterer zählbarer Erfolg also. Doch was ist das denn? Der Motor spuckt, fängt an zu stottern. Mist, verfluchter. Sie sind noch über Feindgebiet hier! Hat der Russe doch besser gezielt als gedacht! Schließlich setzt der Motor des Jagdflugzeuges aus. Oberfeldwebel Brönnle fliegt direkt neben Kittel, gibt ihm Anweisungen per Funk, wie Kittel sich am besten verhalten möge.
Er weiß, wovon er redet – schließlich war er selber Ende 1941 bei Leningrad etwa 20 Kilometer tief hinter den feindlichen Linien abgeschossen worden und hatte sich zu den eigenen Leuten durchgeschlagen. Doch das hier sind immerhin 60 Kilometer hinter der Front. Luftlinie! Zu Fuß eher 80 Kilometer!
So ein Mist!
Kittel sieht unter sich ein freies, schneebedecktes Feld, in der Ferne ein paar Häuser. „Versteck’ Dich sofort und halte Dich per Kompass immer in 255°, dann triffst Du bei Staraja Russa wieder auf unsere vorderste Linie!“ ermahnt ihn Götz. Kittel muss notlanden – unverzüglich. „Ich muss runter! Flieg heim, ich komme schon durch!“ Die Focke-Wulf steht bereits nach 150 Metern Rutschpartie. Kittel steigt aus dem Cockpit und rennt sofort in Richtung Waldrand. Dort angekommen, sieht er sich um. Einige Frauen nähern sich von den Häusern her seinem havarierten Jagdflugzeug, zusammen mit einer Horde Kinder. Kittel sieht keine Männer oder Soldaten.
Was die wohl in seiner Maschine brauchen können? Ach Herrje! Die Notration! Kittel hat sie in der Focke-Wulf vergessen. Himmel noch mal! Außer dem Kompass, einer Pistole und einigen Rippchen Schokolade hat Kittel nur sein nacktes Leben gerettet. Noch!
Gut, es ist nicht mehr zu ändern jetzt. Also stapft der deutsche Jagdflieger los. Quer durch den verschneiten Wald. Der Schnee ist nass, klebt an seinen Stiefeln und beschwert jeden Schritt mit dem Gewicht wie von Blei. Kittel wird müder und müder. Weiter geht es – weiter, weiter. Hier in Russland sagt man wohl „Dawai, dawai!“
Kittel ist in Krondorf im Sudetenland geboren, vor dem deutschen Einmarsch also in der ehemaligen tschechischen Republik. Folglich kann er die tschechische Sprache, die dem Russischen sehr verwandt ist. Zudem hat er einiges an russischen Ausdrücken gelernt hier, seit dem deutschen Einmarsch in Russland.
Irgendwann mal macht er Pause, lehnt sich an einen Baum und schläft ein. Es hätte gut und gerne ein sehr tiefer, endgültiger Schlaf werden können, wäre sein Kopf nicht nach vorne gefallen. Das rettet Kittel vor dem Erfrieren. Er rafft sich auf.
„Dawai, dawai ...!“
Es ist längst dunkel, als Kittel immer noch verbissen durch den tiefen russischen Forst tappt. Im fahlen Licht der Morgendämmerung kommt er an einen Waldrand. Da hinten stehen Häuser.
Der Hunger nagt fürchterlich. Kittel riskiert es, ruft in Russisch, ob jemand da sei? Keine Antwort! Also schleppt er sich an das nächste Haus und tritt ein. Es ist niemand drin!
Etwas zu essen! Ich brauche ’was zu essen! Doch es findet sich nichts. Allerdings kann der Deutsche eine abgetragene Pelzmütze auftreiben, einen Wanderstock, eine mottenzerfressene Schaf-Felljacke. Das wärmt immerhin. So ausstaffiert sieht Kittel aus wie ein Muzhik, ein russischer Kleinbauer.
Der Sonnenaufgang sieht einen alten, zerlumpten Wanderer mit Gehstock und Fellmütze müde in Richtung auf das nächste Waldgebiet traben. Dann ist Kittel erneut außer Sicht. Und läuft, schleppt sich mühsam voran. Den gesamten, langen Tag. Schließlich versteckt er sich unter einem schneebedeckten Brombeergestrüpp und schläft ein.
Die Kälte weckt ihn gegen Mitternacht. Weiter, immer weiter! Der Morgen kommt. Weiter. Nach endlosen Stunden wird es erneut dunkel. Kittel kann nicht mehr!
Schließlich sieht der völlig erschöpfte, halb verhungerte Deutsche Lichter. Er arbeitet sich vorsichtig heran. Es ist ein Camp, ein Baracken-Quartier für – sowjetische Flieger! Kollegen, sozusagen!
Otto Kittel empfindet keine Freude beim Anblick seiner Fliegerkameraden mit der „anderen Feldpostnummer“. Er empfindet nur eines: Hunger!
Soll ich es riskieren? Der leere Magen treibt Kittel voran. Weit kommt er nicht mehr, ohne etwas zu essen. Also läuft Kittel weiter, direkt durch den breiten Eingang in das Lager – mühsam auf seinen Stock gestützt. Der sowjetische Wachtposten nimmt kaum Notiz von ihm, ruft ihm irgendetwas zu. Kittel antwortet auf Tschechisch. Das stellt den Soldaten zufrieden.
Der deutsche Jagdflieger trabt seelenruhig durch das Camp – doch etwas Essbares findet er nicht. Es bleibt ihm nichts anderes übrig, als auf der anderen Seite des Lagers wieder hinauszulaufen.
Der Wachtposten hier ist nun schon etwas sorgfältiger und stellt dem scheinbaren Muzhik, schmutzverdreckten Lumpen-Kittel einige Fragen. Der Deutsche antwortet in einem tschechisch-russischen Kauderwelsch. Nun ist auch dieser Sowjetsoldat beruhigt.
Einige hundert Meter weiter rasten russische Straßenarbeiter. Sie sitzen um ein Feuer herum, über welchem sich ein Bratspieß dreht. Der Duft gerösteten Fleisches ist fast unwiderstehlich.
Dennoch beherrscht sich Kittel, als ihn die Männer dazu einladen, sich zu ihnen zu setzen, und lehnt ab. Ein alter Mann geht auf ihn zu. Der Arbeiter sieht Kittel in die Augen – und verändert plötzlich erkennend seinen Gesichtsausdruck. Dann gibt er dem scheinbar alten Muzhik mit den merkwürdig jungen Augen ein Stück Brot, mit irgendeinem Fett belegt, und bekreuzigt sich verstohlen.
Kittel bedankt sich herzlich und trottet weiter – jederzeit gewahr, nun verraten zu sein. Doch nichts rührt sich. Als das Brot verzehrt ist, fühlt der junge Deutsche neue Lebenskraft in sich. Und eine Zuversicht, die nicht alleine mit der Mahlzeit zu tun haben kann. Er kommt durch, ganz sicher!
Wieder wandert Otto Kittel eine ganze Nacht hindurch, nun schon die dritte. In der Morgendämmerung erreicht er den westlichen Waldrand. Vor ihm liegt eine offene Ebene, durch die ein Fluss fließt – einer der vielen Abflüsse des Ilmensees. In der Ferne patrouilliert eine sowjetische Streife.
Es ist außer Frage, dass es Selbstmord wäre, bei Tage hier aus der Deckung des Waldes zu treten. Also duckt sich Kittel unter das Buschwerk des Waldrandes und wartet ab. Wartet und wartet.
Es ist Mittag, als eine weitere sowjetische Patrouille das Flussufer entlang marschiert. Plötzlich ertönt ein Fauchen in der Luft – gefolgt von bösartigem Krachen! Deutsche Artillerie belegt das Gebiet mit Granatfeuer!
Die sowjetischen Soldaten stieben in alle Richtungen auseinander. Leider in alle! Einer der Rotarmisten rennt knapp an ihm vorbei, ein zweiter wirft sich in die Büsche am Waldrand – gerade fünf Meter von Kittel entfernt! Dem bleibt fast das Herz stehen. Der Gestank des verschwitzen Russen, der offenbar seit Längerem keine Waschgelegenheit mehr hatte wahrnehmen können, nötigt Kittels Nase unbändig dazu zu niesen.
Mit all seiner Willenskraft kann er das verräterische Geräusch des Niesens gerade noch unterdrücken.
Dann ebbt das deutsche Feuer ab – die beiden Russen erheben sich und trotten wieder zu den anderen zurück.
Ufff! Das war knapp gewesen – sehr knapp!
Endlich wird es dunkel. Kittel schleicht sich an das Flussufer. Schließlich folgt er einem ausgetretenen Fußpfad. Er leitet ihn zu einer Furt.
Das Wasser ist eiskalt! Jetzt nur nicht stehen bleiben, nur nicht stolpern! Vorsichtig arbeitet sich Kittel voran – bald steht im das Wasser bis zur Brust. Endlich ist es geschafft. Das andere Ufer ist erklommen.
Kittel ist nass wie ein Hund – ein gefährlicher Zustand in dieser Kälte. Weiter – was bleibt ihm übrig?
Nach 200 Metern ertönt ein scharfer Ruf!
„Halt, wer da? Gib Dich zu erkennen!“ Ein Klick signalisiert Kittel, dass eine nun entsicherte Waffe auf ihn gerichtet ist.
„Deutscher Jagdflieger! Ich bin hinter den russischen Linien abgeschossen worden vor drei Tagen und bis hierher gelaufen!“
„Erzähl’ keine Geschichten! Parole! Welches Kennwort?“
„Du Arschloch!“ denkt sich Kittel. Doch er verkneift es sich, das laut zu sagen. Stattdessen antwortet er sachlich: „Ich war drei Tage lang in russischem Gebiet! Wie soll ich die Parole kennen? Ich bin Otto Kittel von der 2. Staffel des Jagdgeschwaders 54!“
„Dann komm’ her! Aber langsam, keine Pistole oder sonstige Dummheiten! Wir haben von Kittel gehört!“
Otto Kittel – inzwischen wohl wieder rasiert, „zivilisiert“ – und gewaschen.
Kittel öffnet die Lammfelljacke und zeigt dem Posten seine Auszeichnungen auf der Fliegerkombination. Das überzeugt den deutschen Infanteriesoldaten, der sich nun umdreht und ruft:
„Er ist es, Herr Leutnant!“
Der deutsche Leutnant steckt seine Pistole zurück ins Halfter.
„Schön, dann herzlich Willkommen zu Hause, Kittel!“
Mein Gott, schmeckt der heiße Kaffee gut. Und das Brot mit Dosenwurst. Eine Stunde später rumpelt ein Kübelwagen des Geschwaderstabes in die Infanteriestellung, und ein überglücklicher Oberleutnant Götz drückt seinen Freund Otto ans Herz.
Dann allerdings stutzt er und zieht die Nase hoch.
„Bist Du sicher, dass Du das bist? Das riecht verdammt nach Iwan hier ...!“
Am 4. August 1943 fällt Oberleutnant Hans Götz nach 82 Luftsiegen beim Angriff auf Il-2 „Stormoviks“ in seiner Focke-Wulf Fw 190 A-6 (Werknummer 1119).
Es ist die Zeit nach der Operation „Zitadelle“, der letzten deutschen Großoffensive im Osten. Das Jagdgeschwader 54 kämpft während dieser Schlacht bei Orel am nördlichen Stoßkeil und versucht verzweifelt, doch letztlich vergeblich, den deutschen Bodentruppen die Schwärme von Stormoviks vom Leibe zu halten. Dieser Flugzeugtyp wird zum Intimfeind Otto Kittels, dessen bemerkenswerte Erfolgsserie sich im Sommer 1943 endgültig abzeichnet. Anders als die des erfolgreichsten alliierten Jagdflieger-Asses, Ivan Kozhedub, dessen (roter) Stern in einer La-5 erst noch zu leuchten beginnt. Obwohl auch sein Karriere-Start wenig hoffnungsvoll gewesen war. Im Juni 1943 wird Kozhedub zum stellvertretenden Regimentskommandeur befördert – ohne einen einzigen Abschuss bisher. Doch die Verluste seines Regimentes gegen die deutsche Luftwaffe sind derartig gewaltig hoch, dass dennoch praktisch jeder andere Pilot des Regimentes weniger Flug- und Einsatzerfahrung aufweist als Kozhedub! Trotz dessen bisher fehlendem zählbaren Erfolg! Erst ab 6. Juli 1943 sollte sich das ändern, als Kozhedub endlich eine Ju 87 vom Himmel schießt – und, wie es so vielen widerfährt, fasziniert seinem Opfer einen Tick zu lange hinterhersieht. Wäre da nicht sein Staffelkamerad Vasilii Mukhin, der ihn im letzten Moment vor den Garben einer Me 109 rettet, die sich sofort zur Vergeltung hinter den erfolgreichen La-5-Schützen gesetzt hatte.
Jene 62 Luftsiege, die der siegreichste Jagdflieger der Alliierten (einschließlich der Royal Air Force, RAAF, RCAF, RNZAF, SAAF, Armée de l‘Air, US-Army Air Force usw.) insgesamt am Ende seiner militärischen Karriere im Zweiten Weltkrieg ansammelt, hat der inzwischen seit 18. März 1943 zum Oberfeldwebel beförderte Otto Kittel zu diesem Zeitpunkt bereits auf seinem „Konto“. Ab 7. Juli 1943 um 11.10 Uhr genau. Es ist eine P-40 „ Kittyhawk“ amerikanischer Produktion, bereits die dritte an diesem Tag, welche den Geschossen Kittels in zwei verschiedenen Einsätzen erliegt.
Die Kämpfe über den Schlachtfeldern bei Kursk und anlässlich der sowjetischen Gegenoffensive bei Orel im Anschluss sind ungeheuer intensiv. Die Luftwaffe erzielt nach eigenen Angaben während der Operation „Zitadelle“ 1.854 Abschüsse bei einem Verlust von 487 eigenen Flugzeugen. Zu Beginn der sowjetischen Gegenoffensive stehen trotz dieses Aderlasses der russischen VVS immer noch etwa 3.300 sowjetische Flugzeuge zur Unterstützung des Gegenangriffes im Norden zur Verfügung. Gegen circa 1.100 deutsche. Von denen bis Ende August 1943weitere 785 vom Himmel geholt werden. Trotz enormer sowjetischer Opfer im Gegenzug wird die VVS Stalins immer stärker. Ihre Fähigkeit, Verluste an Menschen und Material ausgleichen und überkompensieren zu können, übersteigt die deutschen Möglichkeiten diesbezüglich bei weitem. Auch die Siegesserie Otto Kittels ändert daran nichts.
Der ist nun nicht mehr zu bremsen. Trotz einem inzwischen mehr und mehr strategisch denkenden Gegner, der auch immer häufiger Angriffe auf deutsche Flugplätze in sein Repertoire aufnimmt. Ende Oktober 1943 erhält Otto Kittel endlich das Ritterkreuz – für 123 Abschüsse! Die alle mehrfach bestätigt sind – also von mehreren Zeugen gleichzeitig gesehen worden waren.
Das Jahr 1944 bricht an. Nach einem kurzen Abstecher nach Biarritz in Frankreich als Ausbilder kommt Otto Kittel wieder an die Front zurück. Der frisch gebackene Leutnant übernimmt nun als Staffelkapitän ab Anfang März 1944 die 3./JG 54. Am 4. April 1944 benötigt er zum Abschuss eines Feindjägers gerade noch sechs Geschosse aus jedem Kanonen-Lauf. Eine unglaubliche Ziel-Präzision. Ein Einsatzflug mit „Feindberührung“, ohne dass Kittel beim Landeanflug siegreich mit den Tragflächen wackelt, kommt nicht vor!
Nach 152 Erfolgen wird ihm am 11. April 1944 das Eichenlaub zum Ritterkreuz verliehen.
Dann kommt der Tag der sowjetischen Großoffensive im Bereich der Heeresgruppe Mitte im Sommer des Jahres 1944. Trotz aller Erfolge wird der Flächenbrand im Osten immer größer. Auch noch so aufopfernde „Feuerwehreinsätze“ können diese Feuersbrunst aus der Luft nicht einmal mehr schwächen. Obwohl Piloten wie Otto Kittel ganze Formationen von Il-2-„Schlächtern“ persönlich vernichten.
Die dritte Gruppe des JG 54 ist seit Februar 1944 nach Frankreich und dann über Oldenburg in Deutschland nach Holland verlegt worden – zur Reichsverteidigung gegen die amerikanischen Bomberströme von Deelen aus. Die vierte Gruppe wird zur Umrüstung von Messerschmitt Bf 109 G-6 auf Focke-Wulf 190 über Rumänien nach Deutschland verlegt und schließlich ab 27. Juni 1944 im Bereich der Heeresgruppe Mitte in Baranowitschi stationiert (130 Kilometer südwestlich von Minsk) – vorübergehend! Denn Ende Juli 1944 verlassen die Maschinen bereits nach etappenweisen Rückverlegungen den Flugplatz Deblin-Irena viel weiter westlich an der Weichsel in Polen – 90 Kilometer südlich von Warschau – und ziehen sich noch weiter in Richtung Reichsgebiet nach Piastow zurück.
Bleiben zur Unterstützung der Heeresgruppe Nord die zweite und die erste Gruppe. Mit Otto Kittel ...
Im Juli/August 1944 kämpft er in Estland/Lettland mit seiner Focke-Wulf Fw 190 A-6 und kommt oft genug den hart bedrängten deutschen Landsern zu Hilfe – gegen Welle um Welle angreifender sowjetischer Schlachtflugzeuge des Typs Il-2 „Stormovik“. Doch obwohl er eine nach der anderen abschießt – es scheint, für jedes zerstörte Flugzeug erscheinen zwei neue Tag für Tag.
Am 10. Juli 1944 macht eine Geschichte die Runde, die sich in Kittels alter 2. Staffel abspielt. Die Einheit ist auf dem Flugplatz Polotsk bei Dünaburg (heute Daugavpils) etwa 185 Kilometer südöstlich von Riga stationiert, 75 Kilometer östlich von Svédasai. Nicht weit vom Kommandobunker steht dort ein kleines quadratisches Häuschen. Es hat eine charakteristische herzförmige Lüftungsöffnung in der Türe ...!
Dort drin hält gerade Feldwebel Helmut Claus eine dringende Sitzung, als der Lärm von Flugzeugmotoren anschwillt. Mehrere sowjetische Jagdflieger nehmen sich aus heiterem Himmel heraus das Flugfeld vor und „beharken“ es mit ihren Bordwaffen. Alle Männer am Boden hechten in die Splittergräben. Rette sich, wer kann!
Feldwebel Claus, dummerweise, kann gerade nicht ...
Zu allem Überfluss missversteht einer der sowjetischen Jägerpiloten auch noch die Bedeutung des stillen Örtchens. Was immer er dort an Bekämpfenswertem vermutet – die Kameraden des unglücklichen Feldwebels sehen mit blankem Entsetzen die Einschläge der Maschinenwaffen in gerader Linie direkt auf das Klo-Häuschen zurasen.
Ein gewaltiger Schlag erschüttert die Umgebung, Staubwolken verteilen sich, als die Balken der Latrine auseinander bersten.
Als sich der Qualm verzieht, sitzt inmitten eines in alle vier Himmelsrichtungen zerlegten diskreten Örtchens ein völlig konsternierter Feldwebel vor den Augen aller mit heruntergelassener Hose und versteht die Welt nicht mehr. In das erleichtert aufbrausende schallende Gelächter ruft er indigniert: „He, habt Ihr denn noch nie einen von der Luftwaffe scheißen gesehen ...?“
Frontverlauf im Bereich der Heeresgruppe Nord am 29. Juli 1944:
Hinweis (!): das Symbol mit dem blauen Hakenkreuz entspricht dem damaligen finnischen Hoheitskennzeichen!
Das Lachen vergeht den deutschen Piloten schnell. Sekunden später wird das Geräusch der Kolbenmotoren wieder lauter. „Diese blöden Russen kommen zurück! Schweinebande, verdammte!“
Jetzt aber nichts wie weg hier. Der Feldwebel zieht die Hose hoch und spurtet zum nächst gelegenen Splittergraben. Dort springt er kopfüber in Deckung, als die Geschosse erneut einschlagen.
„Himmelherrgott noch mal, die Russen haben nicht einmal genug Anstand, einen in Ruhe sein Geschäft machen zu lassen!“ „Sei froh, dass Dein Hinterteil noch an einem Stück ist! Das hätte anders ausgehen können!“
Am 29. Juli 1944 fallen bei Svédasai zwei „Stormoviks“ den Geschossen der gelben 5 () zum Opfer. Es sind die Abschüsse Nummer 188 und 189 eines bescheidenen, ruhigen und kameradschaftlichen deutschen Jagdfliegers aus Krondorf (heute Kyselka) im Sudetenland.
In demselben Frontgebiet kämpfen auch die Iljuschin-Besatzungen des 943. ShAP.
Otto Kittel erreicht 230 Abschüsse am 7. Oktober 1944, er wird daraufhin am 25. November 1944 mit den „Schwertern“ ausgezeichnet und zum Oberleutnant befördert.
29. Juli 1944
Flugzeugtyp: |
Focke-Wulf 190 A-6 |
Nationalität: |
Luftwaffe |
Einheit: |
3. Staffel (I. Gruppe)/JG 54 |
Pilot: |
Leutnant Otto Kittel |
Stationierung: |
Riga-Skulte/Lettland/29. Juli 1944 |
Flugzeugtyp: |
Iljuschin Il-2M-3 „Stormovik“ |
Nationalität: |
VVS (Sowjetische Luftwaffe) |
Einheit: |
943. ShAP |
Besatzung: |
Mayor Georgii Mikhailovich Parshin und sein Heckschütze |
Stationierung: |
Lettland/29. Juli 1944 |
Hinweis: die Karte zeigt im Gegensatz zu den Frontverlaufskarten den Nachkriegsgrenzverlauf, da hier die Lokalisation des Ortes aus heutiger Sicht im Vordergrund steht.
Iljuschin Il-2M-3 „Stormovik“, 943. ShAP, Mayor Georgii Mikhailovich Parshin, Lettland, 29. Juli 1944.
Focke-Wulf 190 A-6, 3./ JG 54, Leutnant Otto Kittel, Svédasai/Lettland, 29. Juli 1944.
Zweieinhalb Monate sind vergangen – Monate voller Kämpfe mit dem Rücken an der Wand. Es ist der 14. Februar 1945. Die deutschen Verbände in Kurland sind eingekesselt, überlegene sowjetische Truppen stürmen ihre Stellungen ohne Unterlass. Es ist 12.13 Uhr, als vier Focke-Wulf 190 von der Seite zu einem Verband von 14 Il-2 „Stormoviks“ aufschließen, welche in 150 Meter Höhe fliegend deutsche Bodenziele angreifen. Der Schwarm wird von Otto Kittel geführt. Seine Focke-Wulf A-8 (, Werknummer 960282) ist in Schussposition, abermals trifft er eine Il-2. Sie verschwindet brennend über den russischen Linien. Doch plötzlich sieht sein Rottenflieger ein Aufblitzen in der Kanzel von Otto Kittels Focke-Wulf. Ist es russischer Flak-Beschuss oder das Abwehrfeuer des Heckschützen einer der angegriffenen Stormoviks, dieser Geisel so vieler deutscher Soldaten am Boden und in der Luft? Keiner weiß es.
Otto Kittels Flugzeug kippt in einer flachen Kurve ab und berührt den Erdboden mit der rechten Tragfläche zuerst. Die Maschine steht sofort in Flammen. Das Flugzeug schlittert bis zu einem Waldrand bei Džūkste (55 Kilometer westlich von Riga) und brennt dort aus. Es ist kein Lebenszeichen aus der Luft zu sehen, als seine Kameraden die Absturzstelle im Tiefflug umkreisen.
Otto Kittel erzielt 228 seiner 267 Abschüsse in der Focke-Wulf 190 und ist damit der erfolgreichste Focke-Wulf-Pilot überhaupt. Mit 94 Il-2s ist er zudem ein Stormovik-Killer. Er ist das viertplatzierte Jagdflieger-Ass aller Länder. In Kurland ist sein Name bekannt bis in die vordersten Schützengräben.
Aus der Sicht eines Il-2-Heckschützen.
Ein Staffelkamerad sagt zu seinem Tod: „Als Otto Kittel fiel, überkam uns Dunkelheit im Kurland-Kessel“. Ein anderer widerspricht. „Soldaten wie Otto Kittel sterben nicht. Sie gehen bloß von uns ...!“
Otto Kittel
Quellen:
Internetdokumentation http://math.fce.vutbr.cz/safarik/ACES/luftwaffe.wartime.aerial.victory.credits.html
Sämtliche deutsche Abschussmeldungen zusammengetragen von Jan Josef Safarik, Institute of Mathematics and Descriptive Geometry, Faculty of Civil Engineering, Brno University of Technology.
WASt – Deutsche Dienststelle für die Benachrichtigung der nächsten Angehörigen von Gefallenen der ehemaligen deutschen Wehrmacht, Berlin. Verluste der deutschen Luftwaffe via Recherche Salonen.
Hinweis: deutsche Flugzeuge, welche zwar vom Gegner abgeschossen wurden, ohne jedoch den Piloten dabei „außer Gefecht zu setzen“, sind in der Spalte „Gesamt“ miterfasst (/Flugzeug = Anzahl verlorener Flugzeuge). Hinweise finden sich im Feld „Bemerkungen“. Dagegen werden ähnlich zur amerikanischen USAAF und britischen RAF wahrscheinlich auch in der sowjetischen VVS die auf eigenem Gebiet notgelandeten Maschinen oft nicht mitgezählt. Zudem finden sich die von der deutschen Flak (Flugabwehrkanonen) vernichteten russischen Flugzeuge nicht in dieser Aufstellung. Daher muss es zwangsläufig zu Differenzen zwischen Abschussmeldungen und den tatsächlichen Verlusten kommen!
Verluste durch Tiefangriffe oder Bomben am Boden, durch „technische Mängel“ oder durch Unfälle werden nicht „gezählt“, da die gegenseitigen Erfolge im Luftkampf gegenübergestellt werden sollen. Unversehrt gebliebene Piloten saßen oft wenige Stunden später in einer neuen Maschine, deren materialtechnischer Nachschub fast bis zum Kriegsende gesichert war. Bei einem Abschuss mit unverletztem Fallschirmabsprung entsteht in der Spalte „Gesamt“ ein Materialverlust (/Flugzeug), jedoch nicht ein personeller „Verlust“ (Pilot/), wodurch sich die Aufteilung der Spalte (z.B. 5/7) erklärt.
*1vergleiche Quelle: „Holt Hartmann vom Himmel“/Motorbuch Verlag, 1970/Raymond F. Toliver und Trevor J. Constable, Seite 159 und 163.