23. Januar 1945
Die Alliierten beherrschen inzwischen den Himmel über Deutschland. Nun werden auch Kleinstädte in Schutt und Asche gelegt. Die Vernichtungsmaschinerie läuft. Solange Deutschland immer noch grimmigen Widerstand leistet, ist es den Bodentruppen nicht zuzumuten, die Tausende von Bombern untätig auf den Startbahnen stehen zu lassen. Die Bomben sind produziert, der Krieg ist nicht zu Ende, also müssen sie fallen – die Bomben. Und die Deutschen. Welche, das ist eigentlich egal. Also werden, vor allem im Stab des britischen Chefs der Bomberflotte, Arthur Harris, und seines Mentors Winston Churchill weiter Ziele auserkoren, wo eigentlich schon keine mehr sind. Zumindest keine militärischen, die sich auffinden ließen.
Supermarine „Spitfire“ Mk. XIV. Die allerletzten Varianten dieses legendären britischen Jagdflugzeuges erhalten noch eine komplett auf den Rumpf aufgesetzte tropfenförmige Haube, wie sie die Hawker „Tempest” Mk. V, P-51 D „Mustang” oder auch die deutsche Focke-Wulf 190 und Messerschmitt Me 262 besitzen. Diese Cockpitform hat perfekte Sichtverhältnisse nach hinten. Das Foto zeigt die traditionelle Kanzelhaube.
Kleinstädte lassen sich auffinden. Bomben auf deutsche Großstädte zu werfen, das lohnt sich bereits kaum mehr. Zertrümmerte Trümmer zu zertrümmern macht schließlich wenig Sinn. Doch da gibt es noch unzerstörte Häuser, teilweise unersetzliche Kulturgüter! Und Menschen, die noch leben. Deren Widerstandswillen es endlich zu brechen gilt. Harris will beweisen, dass er Recht hat!
Die Bomberströme werden von Hunderten Begleitjäger eskortiert. Zwischen den Angriffen fliegen Schwärme britischer und amerikanischer Jäger und Jagdbomber Patrouille und schießen am Boden auf praktisch alles, was sich dort bewegt. Auf Soldaten natürlich, doch ebenso auf Fahrradfahrer, Bauern, Frauen und Kinder. *1
Die britische 2nd Tactical Air Force versucht fast täglich, mit ihren Jägern des Typs Hawker „Tempest” und Supermarine „Spitfire“ die letzten Reste der deutschen Luftwaffe zum Luftkampf zu provozieren und unter Ausnützung ihrer zahlenmäßigen Überlegenheit abzuschießen. Inzwischen wurden einige britische Squadrons mit der letzten und technisch besten Variante der berühmten „Spitfire“ ausgerüstet, welche noch nennenswert zum Einsatz kommt, der Mark XIV (14).
Das technische Ungleichgewicht zwischen den herkömmlichen deutschen Jagdflugzeugtypen und den alliierten Mustern zu Gunsten der Alliierten, welches seit Frühjahr 1944 bestanden hatte, ist seit der Einführung der Focke-Wulf 190 D-9 „Langnase“ und der Weiterentwicklung der Messerschmitt Bf 109 zur K-Serie wieder größtenteils ausgeglichen. Der Messerschmitt-Jäger bleibt im Kurvenradius einer Mustang, Tempest oder Spitfire Mk. IX/Mk. XIV (und ebenso einer sowjetischen Yak-9/Yak-3 oder La-5/La-7) nach wie vor klar unterlegen, ist aber nun mindestens ebenso schnell – und im Steigflug geradezu phänomenal leistungsfähig. Eine „Kurfürst“ kann jede alliierte Maschine im Hochsteigen hinter sich lassen. Ein versierter Messerschmitt-Pilot, der die Stärken und Schwächen seines Hochleistungsjägers kennt, wird sich also nie auf einen Kurvenkampf einlassen, wenn es irgendwie vermeidbar ist. Dafür aber die exzellenten Fähigkeiten seiner Me 109 K-4 in der vertikalen Dimension – Stürzen und Steigen – geschickt einsetzen. So geflogen ist die letzte Variante des Messerschmitt-Jägers allen alliierten Konstruktionen gewachsen und ein tödlicher Gegner. Doch die Betonung liegt im Jahre 1945 auf der Formulierung „so geflogen“. Wie viele lebende „alte Hasen“ gibt es noch, welche die Vorzüge der fliegerisch anspruchsvollen Me 109 K-4 in dieser virtuosen Art beherrschen?
Die Focke-Wulf 190 D-9 erweist sich in der Hand erfahrener deutscher Piloten dagegen in allen Belangen als ein ebenbürtiger Widersacher selbst für die schnellen und äußerst manövrierfähigen amerikanischen P-51-D „Mustangs“ sowie die britischen Tempests oder Spitfire. Im Gegensatz zur Me 109 K-4 fehlen einzelne überlegene Flugeigenschaften, dafür leistet sich die „Langnase“ aber auch keinerlei heiklen Schwächen in anderen Belangen – und sie ist erheblich gutmütiger im „Handling“. Doch erfahrene deutsche Jägerpiloten gibt es immer weniger in diesen Tagen. Der junge Nachwuchs wird überstürzt ausgebildet vor allem auf Grund von Spritmangel. Die systematische Zerstörung der deutschen Treibstoffindustrie, Transportwege und Bahnanlagen zeigt Wirkung.
Die hoch motivierten Neulinge kämpfen ohne Frage tapfer und leisten den alliierten Luftstreitkräften erbitterten Widerstand buchstäblich bis zum Ende. Doch gegen ihre gut ausgebildeten und meistens in überwältigender Überzahl angreifenden Gegner haben sie letztlich keinerlei Chance. Es gibt Einsätze, in welchen bis zu einem Drittel der zu einem Einsatz gestarteten deutschen Piloten nicht zurückkehrt – vor allem die Anfänger. Der „Ersatz“ ist so besessen davon, sich zu bewähren, dass viele der Jungen nicht einmal die traurigen Blicke der Quartiermeister wahrnehmen, welche bereits seelische Probleme haben, dem Neuzugang einen Schlafplatz zuzuweisen. Für wie viele Nächte wohl noch?
Die verbliebenen „Alten“ tun ihr Bestes, um das Schlimmste zu verhindern – und sind unvermeidlicherweise dennoch nicht imstande, ihre jungen Nachwuchspiloten ausreichend zu beschützen. Einer der in dieser Hinsicht herausragenden deutschen Piloten ist Oberleutnant Hans Dortenmann, Kapitän der 12. Staffel des JG 54. Berichten zufolge hat das zu diesem Zeitpunkt noch ganz in gelb gehaltene Heckleitwerk seiner Focke-Wulf Fw 190 D-9 den Sinn, den jungen Neulingen der Einheit das rettende orientierende Auffinden seiner Führungsmaschine während des Durcheinanders eines Luftkampfes zu erleichtern. Natürlich ist er sich bewusst, dass die auffällige Maschine dadurch auch eine interessante Beute für seine Gegner darstellt! Doch das nimmt er in Kauf.
Am Morgen des 23. Januar 1945 liegt der schneebedeckte Flugplatz Varrelbusch in schönstem Sonnenlicht. Jeder weiß, was dies für den heutigen Tag bedeuten wird. Zahlreiche Feindjäger und Jagdbomber sind bereits über dem Münsterland gemeldet. Jeder horcht auf das Klingeln des Telefonhörers. Wann wird es kommen, was wird es bringen? Wer ist noch da heute Abend? Vor allem die, welche bereits kennen, was sie erwartet, stellen sich solche Fragen. Fragen, die man nicht ausspricht ...
Es läutet – jetzt ist es soweit! Einsatzbefehl! Die Köpfe der Piloten recken in die Höhe – dann geht es in die Jagdflugzeuge. Anschnallen, Fliegerhaube – und los.
Die jungen Piloten sind auch dieses Mal begierig darauf, es dem Feinde „zu zeigen“. Die wissenden Älteren sehen es mit gemischten Gefühlen. Sie haben erlebt, was ein Luftkampf bedeuten – und wie grausam er enden kann. Auch Oberleutnant Dortenmann trägt schwer an seiner Verantwortung.
Focke-Wulf 190 D-9 „Langnase“ der 6./JG 26. Diese Maschine mit der Werknummer 210972 wird von Feldwebel Gerhard Müller-Berneck bei Kriegsende geflogen. Die im Original leider sehr unscharfe Aufnahme entsteht am 5. Mai 1945 auf dem Flugplatz Lister in Norwegen. Am 6. Mai 1945 fliegt Müller-Berneck mit ihr nach Bayern zurück und ergibt sich nahe Bayreuth den US-Truppen.
Wieder einmal sollen Jagdbomber in der Gegend von Münster bekämpft werden. Um 09.07 Uhr sind alle Jäger in der Luft. Die Formation wird von Dortenmann geleitet und nimmt Kurs auf die befohlene Gegend. Die Jagdflugzeuge steigen auf eine Höhe von 6.000 bis 7.000 Metern. Gegen 09.40 Uhr machen sie zwischen Gütersloh und Warendorf eine Gruppe von 20 Spitfire Mk. XIV der 41 Squadron der Royal Air Force aus. Teile der 10ten und 12ten Staffel stürzen sich auf die neuen, schnellen und gefährlichen britischen Jäger. Zahlenmäßig sind die Deutschen zwar zunächst um fünf bis sechs Maschinen leicht im Vorteil, was die Briten durch ihre Erfahrung allerdings mehr als ausgleichen. Unteroffizier Hermann Rathje, Angehöriger der 12./JG 54, schildert den Luftkampf in seiner Focke-Wulf 190 D-9 mit der Kennung: *2
Über der Gegend von Bielefeld schnarrt eine Stimme in meinen Kopfhörern: ‚Indianer, 12 Uhr unter uns!‘ Sie fliegen in schönster Formation. ‚Pauke, Pauke!‘ [d.h.: ‚Angriff!‘]. Wir stürzen mehr als 1.000 Meter nach unten und schließen schnell auf. Jeder wählt einen Gegner als Ziel aus. Wie üblich gibt es genug davon! Der Erste wendet, ich sehe die britischen Kokarden bedrohlich näher kommen. Es sind Spitfire. Ich bekomme eine vor mein Visier und drücke auf den Waffenknopf. Alle vier Maschinenwaffen donnern los. Sie kippt über eine Tragfläche weg und stürzt ab.
Plötzlich im Kopfhörer: ‚Aufpassen! Es ist eine hinter Dir!‘ Ich weiß nicht, ob das mir gilt, aber im selben Moment schießen Leuchtspurgarben über meine Haube. Alles weitere ist Reflex: Knüppel nach links und Abschwung! Ich stürze durch eine dünne Wolkendecke und fange die Maschine erst kurz über dem Boden ab.
Er ist immer noch hinter mir! Ich stelle auf Notleistung und überfliege die Kommandozentrale der 3. Jagddivision, wie man mir später erzählt. Ich bleibe so tief wie irgend möglich, hüpfe über Hecken und Bäume, fliege unter Hochspannungsleitungen durch.
23. Januar 1945
Flugzeugtyp: |
Focke-Wulf Fw 190 D-9 „Langnase“ |
Nationalität: |
Luftwaffe |
Einheit: |
12. Staffel (III. Gruppe)/JG 54 |
Pilot: |
Unteroffizier Hermann Rathje |
Stationierung: |
Varrelbusch/Deutschland |
Flugzeugtyp: |
Supermarine „Spitfire“ Mk. XIV |
Nationalität: |
Royal Air Force (RAF)/2nd Tactical Air Force |
Einheit: |
41 Squadron |
Pilot: |
Squadron Leader Douglas I. Benham |
Stationierung: |
Ophoven, Belgien |
Supermarine „Spitfire” Mark XIV der 41 Squadron RAF, Squadron Leader D.I. Benham. Profil nach Datenlage.
Focke-Wulf Fw 190 D-9, 12./JG 54, Oberleutnant Hans Dortenmann.
Focke-Wulf Fw 190 D-9, 12./JG 54, Unteroffizier Hermann Rathje. Profil nach Datenlage (Kennung /Werknummer 210052).
Plötzlich ein Knall, Leuchtspurgeschosse rechts, das Querruder klemmt. Was jetzt? Ich muss blitzartig entscheiden: Knüppel nach hinten, senkrecht hochziehen, Kabinenhaube weg, Gurte los und raus! Ich warte, bis mein Körper sich stabilisiert hat und ziehe am Fallschirmhebel. Der Fallschirm öffnet sich – Gott sei Dank! Ich sehe mich um. Er ist mir gefolgt!
Doch was ist das? Er fliegt direkt auf mich zu! Will der mich etwa am Fallschirm abschießen? Ich ziehe zwei der Leinen etwas zusammen, um meine Sinkgeschwindigkeit zu erhöhen. Er umkreist mich aus nächster Nähe, dann hebt er die Hand. Langsam falle ich in Richtung Boden. Eine gute Landung, alles am Stück.
Ich versuche, mich zu orientieren. Eine Gruppe Männer nähert sich mir langsam. Sie sind mit Mistgabeln und Knüppeln bewaffnet. Das hat mir gerade noch gefehlt! Als sie auf Rufweite herankommen, gelingt es mir zu erklären, wer ich bin. Da werden sie plötzlich sehr eifrig, mir zu helfen. Ihr Anführer, ich denke, es ist ein Dorf-Bürgermeister, fährt mich in seinem VW „Käfer“ zu der Stelle, wo meine „rote 9“ abgestürzt ist. Ich sehe einen riesigen Krater, aus dem lediglich noch das Heck meiner Maschine herausragt.
Ich bin erschüttert. Ich nehme den Zug nach Hause. Meine Nerven sind immer noch in Ordnung. Ich fliege den nächsten Einsatz schon in einer neuen Maschine.“
Trotz der Hektik des Luftkampfes kann Unteroffizier Hein den Abschuss seines Staffelkameraden Unteroffizier Rathje durch die Spitfire beobachten einschließlich seiner sicheren Landung mit dem Fallschirm. Wenig später kann er den Abschuss einer Spitfire durch Feldwebel Hegener (12. Staffel/JG 54) westlich Gütersloh bestätigen. Der Pilot der Spitfire (RM765, Code unbekannt) ist vermutlich Flight Lieutenant Balasse (41 Squadron), ein gebürtiger Belgier in britischen Diensten. Er überlebt den Absturz nicht.
Gemäß britischen Quellen ist dies allerdings die einzige Spitfire, die um diese Uhrzeit vernichtend getroffen wird. Doch auch die Maschine von Squadron Leader Douglas Benham, welcher seine beschädigte Spitfire mit der N° RM791 und dem Code noch unverletzt bis zum eigenen Flugplatz zurückfliegen kann, wird getroffen, wenn auch nicht entscheidend. Benham schießt einen der Angreifer ab – es könnte sich um Feldwebel Köhler handeln – und findet sich dann selbst unter Beschuss wieder. Die Focke-Wulf hinter ihm trifft seine rechte Tragfläche. Benham reißt seine Maschine scharf aus der Schusslinie und verursacht angeblich dadurch den Absturz seines Gegners, welcher ins Trudeln gerate und auf dem Boden aufschlage.
Benham beansprucht prompt einen weiteren Abschuss. Möglicherweise ist Benham der Pilot, dessen Spitfire von Rathje getroffen wird und wegkippt, jedoch entgegen Rathjes Eindruck – der nun plötzlich andere Sorgen hat, als sein Opfer bis zum Aufschlag zu beobachten – nicht abstürzt. Dagegen spricht, dass die von Rathje angegriffene Spitfire nach dessen Schilderung vorher keine Gelegenheit zu einem Abschusserfolg hatte. Andererseits könnte die Schilderung Benhams über seinen zweiten „Abschuss“ ebenfalls auf einer Fehlinterpretation beruhen. Wenn der Pilot, dessen Geschosse Benhams Spitfire-Tragfläche durchlöchert haben, nun doch Rathje heißt, dann stürzt dieser nicht durch das Ausweichmanöver seines Opfers in einem unkontrollierten Trudeln ab, sondern versucht, im bewussten Sturzflug einer weiteren Spitfire zu entkommen. Gegebenfalls derjenigen von Flying Officer F. M. Hegarty, der den „dritten“ Abschuss für sich in Anspruch nimmt – dieses Mal völlig zu Recht. Die Flight Lieutenants Stowe, Henry und (noch vor dem eigenen Abschuss) Balasse geben je eine Beschädigung der gegnerischen Focke-Wulf-Jäger durch, zusätzlich zu den genannten drei „claims“.
Feldwebel Arnfried Köhler (, Werknummer vermutlich 210101) muss zum zweiten Male innerhalb von drei Wochen auf die Seide seines Fallschirmes vertrauen. Das Tuch lässt ihn nicht im Stich, er überlebt – nur leicht verwundet. Wenn er nicht das Opfer Benheims sein sollte, wird er von den Hawker Tempest der 274 Squadron bezwungen, die ebenfalls um 09.40 Uhr im Gebiet um Gütersloh den Abschuss zweier Focke-Wulf und einer Me 109 melden. Und mit ihrem Erscheinen in dem fraglichen Luftraum der lokalen zahlenmäßigen Überlegenheit der Deutschen ein jähes Ende bereiten.
Die britischen Spitfire-Piloten setzen sich mit Nachdruck zur Wehr, als sie ihre Überraschung überwunden haben. Und selbstbewusst – schließlich fliegen sie den modernsten Jäger britischer Produktion. Es ist der erste schwere Luftkampf, den Spitfire des Typs Mark XIV zu bestehen haben. Die Qualitäten dieses Flugzeuges sind daher für Dortenmanns Piloten neu, wenngleich ihre „Dora-9“ durchaus mithalten können. Dennoch wird der Angriff auf die Spitfire-Formation für einen von ihnen fatal enden. Während Feldwebel Ungar und Oberfeldwebel Zech von den Spitfires vergeblich verfolgt werden, fühlt sich Oberfeldwebel Johann Spickers schon fast in Sicherheit. Die Hälfte des Rückfluges ist schon heil überstanden, als ihn plötzlich eine ganze Anzahl von Feindjägern in die Zange nehmen. Er hat keine Chance! Seine (Werknummer 210064) reißt ihn in den Tod.
Unteroffizier Rolf Sundermeyer hätte sich davonschleichen können, wenn er nicht – wie die meisten seiner Kameraden – pflichtbewusst und ehrgeizig genug wäre, trotz der damit verbundenen Gefahr jede Möglichkeit eines Abschusses zu nutzen. Er ist in der Gegend aufgewachsen und kennt sich aus. Dies erleichtert ihm das Entkommen im Tiefflug. Schon ist er über Minden, als er drei Typhoon-Jagdbomber bemerkt, die einen Bahnhof angreifen. Wütendes Flak-Feuer schlägt den Hawker-Maschinen entgegen, doch dies hält die Piloten nicht von ihrem Zerstörungswerk ab. Sundermeyer ist in einer guten Angriffsposition – und die Briten haben ihn noch nicht bemerkt. Er ist unerfahren – gut, aber die Gelegenheit ist zu günstig! Also greift er an. Die Briten sind immer noch ahnungslos – bis die deutschen Flak-Kanoniere unvermittelt das Feuer einstellen, um den von ihnen erkannten anfliegenden eigenen Jäger nicht zu treffen. Die erfahrenen Engländer wissen diese abrupte Feuereinstellung sofort zu werten, und sehen sich nun um. Ein bisschen zu früh für Sundermeyer, dessen verlockender Überraschungsvorteil damit zunichte gemacht wird. Innerhalb von Sekunden wendet sich das Blatt, nun steht es 1 : 3 auf gleichem taktischen Niveau, jedoch unterschiedlichem Erfahrungsstand. Sundermeyer wird sofort selber angegriffen und befindet sich nun in der Defensive. Die Typhoons hetzen ihn – zum Glück erfolglos. Doch sein Jagdflugzeug (, Werknummer unbekannt) fliegt nun mit dem letzten Tropfen Treibstoff, alle Reserven sind durch die Flucht verbraucht. Der junge Pilot hat keine andere Wahl, als notzulanden. Das macht er eigentlich gut, allerdings praktischerweise so, dass er sich ungewollt am Ende seiner Rutschbahn einen zugeschneiten Teich heraussucht. Die Bremswirkung des Eises strebt gegen Null. Sundermeyer hat das Glück des Tapferen, dass er sich bei dem Aufprall nur eine blutige Nase holt – im wörtlichen Sinne!
Zum selben Zeitpunkt, als sich Oberleutnant Dortenmann, Staffelkapitän der 12. Staffel des JG 54, zum Angriff auf die Spitfire-Formation entscheidet, entdeckt der Staffelführer der 10. Staffel, Leutnant Peter Crump, eine Gruppe von etwa zehn Royal Air Force Tempest-Jagdflugzeugen. Höchstwahrscheinlich gehörten sie zur 274 Squadron. Crump meldet die Tempest-Formation per Funk an Dortenmann und geht unverzüglich in den Sturzflug über zum Angriff – gefolgt vom Rest seiner Staffel und Dortenmanns Jägern, wie er annimmt. Doch fatalerweise stürzen die sich gerade auf die Spitfires! Crump und sein Rottenflieger, Oberfeldwebel Goos, finden sich daher urplötzlich alleine wieder, hoffnungslos zahlenmäßig deklassiert inmitten eines Wespennestes. Die Tempest-Piloten erholen sich bald von ihrer Überraschung darüber, von nur zweien, offenbar lebensmüden deutschen Luftakrobaten überrumpelt zu werden, und reagieren schnell. Crump versucht, mit Hilfe eines steilen Steigfluges zu entkommen, doch die hervorragenden Flugleistungen einer Hawker Tempest sind auf diese Weise nicht zu übertreffen. Vielleicht in einer Me 109 K-4 mit Wasser-Methanol-Zusatzleistung, jedoch nicht in einer Dora-9, die [nach den Werten von Green, der Autor] fast ebenbürtig, aber nicht schneller steigt als die britischen Verfolger! Die Tempests folgen den zwei Deutschen bedrohlich auf dem Fuß. Also bleibt nur eine Alternative: Crump beschließt, seine Focke-Wulf 190 D-9 in ein gewagtes Manöver als letzten Ausweg zu steuern, reißt den Steuerknüppel abrupt herum und zwingt sein Flugzeug in ein unkontrolliertes Abtrudeln. Das ist ein gefährlicher Akt, denn es ist nicht so einfach, das Flugzeug schließlich abzufangen und wieder unter Kontrolle zu bringen. Hierfür muss man alles loslassen, die Ruder in Neutralposition stabilisieren und dann Vollgas geben – ein Flugzeug muss schon sehr gut durchkonstruiert sein, um das wegzustecken. Aber die Focke-Wulf 190 D-9 ist so ein Flugzeug. Die Feindjäger sind normalerweise nicht in der Lage, einem solchen trudelnden Sturzflug zu folgen, und selbst wenn sie es versuchen würden, würde ein sich die ganze Zeit völlig unkalkulierbar bewegendes Ziel kaum zu treffen sein. Zudem glauben die gegnerischen Piloten in den meisten Fällen, dass das abtrudelnde Flugzeug bereits abgeschossen sei. So auch dieses Mal.
Es klappt. Leutnant Crump entkommt unverletzt. Oberfeldwebel Goos nicht (, Werknummer 210115). Man findet seine Maschine zusammen mit seinen Überresten erst im Jahr 1950 nahe Herzebrok (zehn Kilometer westlich von Gütersloh), nachdem zunächst nur ein wassergefüllter Krater die Absturzstelle markiert hat. Flight Lieutenant A. Seager (
, EJ740, 80 Squadron) gibt um 09.28 Uhr den Abschuss einer Focke-Wulf 190 (D-9) südwestlich von Gütersloh zu Protokoll sowie eine Beschädigung. Ebenso erfolgreich sind um 09.40 Uhr in derselben Gegend die Tempest-Piloten der 274 Squadron Flight Lieutenant G. Mann (
, EJ762, Flight Lieutenant L. A. Wood (EJ814) und Flying Officer C. G. Scriven (EJ771), welche zwei Me 109 (Mann) und je eine Fw 190 (Wood und Scriven) als bezwungen und vernichtet angeben. Wer auch immer da „abgeschossen“ wird, Goos hat nur ein Leben zu geben!
Flight Sergeant L. B. Crook (, EJ713, 80 Squadron) meldet um 09.28 Uhr je eine Me 109 und Focke-Wulf 190 etwa 30 Kilometer nordöstlich von Osnabrück als abgeschossen. Diese Angabe passt zum Absturzort von Oberfeldwebel Johann Spickers bei Rahden. Andererseits kann diese Einheit nicht an zwei Stellen zugleich gewesen sein – es sei denn, sie hätte sich aufgeteilt oder der von Seager angegebene Ort des Luftsieges trifft nicht zu. Außer den Tempests der 80 Squadron kommen als die Gegner von Spickers noch die oben bereits genannten Tempests der 274 Squadron (09.40 Uhr) in Betracht, deren Abschüsse allerdings im Bereich von Gütersloh erfolgen, dem ursprünglichen Kampfraum, welcher von Rahden 60 Kilometer entfernt liegt. Auch eine Spitfire der 411 Squadron RCAF (Flight Lieutenant R. M. Cook) meldet gegen 10.00 Uhr eine Focke-Wulf als vernichtet, doch der angegebene Ort zehn (nautische) Meilen ( = 18,5 Kilometer) nordöstlich von Münster ist ebenso weit weg von Rahden.
Es ist noch nicht vorbei für heute. Die I./JG 26 und III./JG 54 werden zunächst dazu eingeteilt, den Start von Düsenbombern des Typs Arado 234 B-2 der 9./KG 76 in Münster-Handorf zu decken, doch der Einsatz der Strahlbomber wird im letzten Moment abgesagt, als die deutschen Jäger bereits über dem Platz Deckung bieten. Der Befehl lautet nun „freie Jagd“. Die Gruppe wird erneut geleitet von Oberleutnant Dortenmann, der sich sofort zum Steigflug auf 5.000 Meter Höhe in Richtung Osnabrück entscheidet. Auf dem Weg dorthin weicht Dortenmann einer Gruppe von Spitfires aus, die sich in der gefährlichen Überhöhung befinden. Sie sehen ihre Gegner nicht. Als die angestrebte Flughöhe erreicht ist, wird Kurs auf Nordhorn/Enschede genommen. Wieder Spitfires! 2.000 Meter tiefer. Angriff!
Die britischen Jäger erkennen die Gefahr und geben Vollgas. Trotz des Geschwindigkeitsvorteils der Überhöhung gelingt es den Deutschen in ihren Fw 190 D-9 nicht, die Engländer einzuholen. Aber sie haben ihren Höhenvorteil im Angriffs-Sturzflug aufgegeben – zwangsläufig. Dafür haben sie nun unverhofft eine Horde Tempests über sich. Es sind die Jagdflugzeuge der 56 (RAF) und 486 Squadron (RNZAF). Der Luftkampf entbrennt in etwa 3.000 Meter Höhe und endet im Baumwipfelbereich. Für Unteroffizier Günther Langer der III./JG 54 einige entscheidende Meter tiefer. Eine der Tempests schießt seine Focke-Wulf 190 D-9 (, Werknummer 210121) mitsamt dem unglücklichen Piloten in den Boden. Mehr Glück hat Leutnant Lauer von der I./JG 26. Er kommt verletzt mit dem Fallschirm aus seiner Maschine heraus. Auf der anderen Seite kann Unteroffizier Renatus Spitz (10./JG 54,
) sich revanchieren und eine Tempest vom Himmel schießen. Sein Erfolg wird von den britischen Verlustlisten der 2nd Tactical Air Force allerdings nicht gestützt.
Oberleutnant Heinz Seiffert, Staffelkapitän der 11. Staffel/JG 54, und Oberleutnant Willi Heilmann, der die 9. Staffel des JG 54 führt, finden sich nach dem Luftkampf getrennt vom Rest der Gruppe wieder. Als sich weitere Jäger auf sie stürzen, haben sie keine andere Wahl, als noch einmal den Kampf aufzunehmen. Es ist kein Wölkchen am Himmel, das ihnen Schutz bieten könnte.
Dem Vernehmen nach handelt es sich bei den neuerlichen Gegnern nun um Spitfires, doch wiederum harmoniert das nicht mit den Abschussdokumentationen der 2nd Tactical Air Force, welche zu diesem Zeitpunkt nur Erfolge der beiden genannten Tempest-Squadrons verzeichnen. Immerhin zusammen fünf, eine Zahl, die durch die beiden abgeschossenen Maschinen von Langer und Lauer noch nicht erreicht wird. Für Oberleutnant Seiffert (, Werknummer 210091) spielt es allerdings keine Rolle, ob ihn die Geschosse von Spitfires oder Tempests treffen. Vier Feindmaschinen nehmen ihn aufs Korn und lassen ihm keinen Reaktionsspielraum. Der abgeschossene Oberleutnant versucht noch, den Fallschirm zu Hilfe zu nehmen, doch bei einer Höhe von 100 Metern ist dies hoffnungslos. Das Tuch hat keine Zeit mehr, sich zu entfalten und den Fall effektiv abzubremsen. Der Aufschlag ist hart und letztlich tödlich. Er stirbt beim Transport ins Krankenhaus.
Oberleutnant Heilmann (vermutlich ) kämpft mit allen seinen Tricks. Doch auch seine „Langnase“ erhält Treffer. Immerhin schafft es der Staffelkapitän erstaunlicherweise doch noch, seinen Gegnern zu entkommen. Eine Notlandung bei Lingen rettet ihm – nur leicht verletzt – sein Leben.
Oberleutnant Dortenmann wird die verzweifelten Hilfeschreie eines seiner jungen Piloten über den Äther nie vergessen. Wer auch immer es war, die Ernüchterung über die Wirklichkeit des Krieges endet für ihn tragisch.
Die Bilanz des Tages – soweit es die III. Gruppe des Jagdgeschwaders (JG) 54 betrifft – umfasst den Verlust von vier gefallenen deutschen Piloten. Es sind dies Oberfeldwebel Ludwig Goos (10. Staffel), Oberleutnant Heinz Seiffert (11.), Oberfeldwebel Johann Spickers (10.) und Unteroffizier Günther Langer (9.). Feldwebel Köhler (10.) wird leicht verwundet. Acht Flugzeuge gehen zu Bruch. Auf britischer Seite stehen dem drei Abschussmeldungen der deutschen Piloten gegenüber, von denen aber nur einer (Flight Lieutenant Balasse, welcher fällt) zweifelsfrei besteht, da er von britischer Seite anerkannt wird.
Hermann Rathje.
Quelle:WASt – Deutsche Dienststelle für die Benachrichtigung der nächsten Angehörigen von Gefallenen der ehemaligen deutschen Wehrmacht, Berlin. Verluste der deutschen Luftwaffe via Recherche
Salonen.
Quelle:„Jagdgeschwader 3” Chronik einer Jagdgruppe – Band 1 - 4/Struve Druck Eutin/Jochen Prien und z.T. Gerhard Stemmer.
Quelle:„Messerschmitt Bf 109 im Einsatz bei der (I./II./III./IV.- 3 Bände) Jagdgeschwader 27/Struve Druck Eutin/Jochen Prien, Peter Rodeike und Gerhard Stemmer.
Quelle:„PIK-AS“ Geschichte des Jagdgeschwaders 53 Teil 1 – Teil 3/Struve Druck Eutin/Jochen Prien.
Quelle:„Green Hearts“ – First in combat with the Dora 9/Eagle Editions Ltd. 1998/Axel Urbanke.
Quelle:„Jagdgeschwader 301/302“ „Wilde Sau“/Schiffer Military History 2005/Willi Reschke.
Verlustmeldungen der Westalliierten im Detail:
8th USAAF: *3 |
||
B-17 „Flying Fortress”: |
1 |
(+ 3 Kategorie „E” |
P-51 „Mustang”: |
- |
(+ 1 Kategorie „E” |
Hinweis: 95 weitere B-17 kehren mit reparablen Beschussschäden zurück – von 181, die das Ziel erreichen, werden somit 99 (durch deutsche Flak-Kanoniere) getroffen, das sind 55 % der Bomber!
9th USAAF: *4 |
|
A-26 „Invader”: |
4 |
B-26 „Marauder”: |
1 |
P-47 „Thunderbolt”: |
3 |
P-38 „Lightning”: |
3 |
2nd Tactical Air Force der Royal Air Force:*5 |
||
Hawker „Typhoon”: |
4 |
|
Spitfire Mk. IX: |
1 |
(plus 1 Unfall Kategorie E |
Spitfire Mk. XVI: |
(1 Notlandung in Feindgebiet durch Zusatztankprobleme und ein deutscher Flaktreffer, aber nur Kategorie AC) |
|
Spitfire Mk. XIV: |
4 |
(plus 1 Notlandung bei Liege, |
Vickers „Wellington“: |
1 |
Royal Air Force Bomber Command:*6
keine Einsätze bei Tage
*1Dem Autor sitzt der Schreck noch in den Knochen, als ein Bekannter im reifen Alter von 72 Jahren beim Ansehen einer recht eindrucksvoll gedrehten Spielfilmszene mit Supermarine „Spitfires“ Mk. Vb plötzlich einen Nervenzusammenbruch erlitt. Als er sich schließlich wieder „gefangen hatte“, erklärte er, er sei im Alter von zwölf Jahren zusammen mit seiner Mutter mit dem Klang jener Rolls-Royce-Merlin-Motoren im Genick um sein Leben gerannt! Die hinter ihnen hätten es nicht mehr geschafft ...
*2Quelle: „Green Hearts“ – First in combat with the Dora 9/Eagle Editions Ltd. 1998/Axel Urbanke.
*3Quelle: „Mighty Eighth War Diary”/Jane’s Publishing Company 1981/Roger A. Freeman.
Quelle: „USAAF Chronology“/USAF Airways and Air Communications Service/Jack McKillop
(identische Zahlen).
*4Quelle: USAAF Missing Air Crew Reports (MACR).
*5Quelle: „2nd Tactical Air Force” Volume 1 - 3/Classic Publications/2005/Chris Shores und Chris Thomas.
*6Quelle: Royal Air Force Bomber Command 60th Anniversary - Campaign Diary, December 1944.