Vergeltungswaffe „V2“

Auch die „V2“ heißt eigentlich anders – nämlich „Aggregat 4“ oder kurz „A4“. Es handelt sich ebenfalls um eine technische Revolution – in acht Jahren Entwicklungsarbeit zur Serienreife gebracht von einer Reihe deutscher Wissenschaftler und Ingenieure unter Leitung des technischen Direktors der Heeresversuchsanstalt in Peenemünde, Wernher von Braun. Die „V2“ ist die erste ballistische Langstreckenrakete der Weltgeschichte und zudem das erste von Menschenhand erbaute fliegende Objekt, welches die Grenze von der Erdatmosphäre in den Weltraum durchstößt.

Die Rakete ist 14 Meter hoch und wiegt leer vier Tonnen, betankt immerhin 13 Tonnen! Sie ist aus Streben konstruiert, die mit einer Außenhaut aus Leichtmetall ummantelt sind. Das Herzstück des Geschosses ist sein Raketenantrieb. Er verwendet als Treibstoff den so genannten A-Stoff, er ist flüssiger Sauerstoff und ungeheure -183 °C kalt! Zusammen mit dem B-Stoff (75 % Alkohol und 25 % Wasser) ergibt sich im Heizbehälter (Raketenmotor) unter 15 bar Druck durch die Verbrennungsgase ein gigantischer Schub. Die beiden Treibmittel werden durch Kreiselpumpen mit Dampfturbinenantrieb gegen den Überdruck in die Brennkammer gepresst, die Schubgase strömen dann durch Hunderte Düsen hinaus. Nach nur einer Minute Brenndauer sind die 8.700 Liter Brennstoff verbraucht. Das „A4“ erzielt jetzt die enorme Geschwindigkeit von 5.400 km/h. Eine Rakete kostet 240.000 Reichsmark in der Herstellung – da ist die „V1“-Flugbombe mit 3.500 Reichsmark Produktionskosten fast „preiswert“.

Will man die Rakete zuverlässig in das vorgesehene Ziel bringen, muss ihr Flugweg kursstabil sein. Um dies zu gewährleisten, werden in der Achse des Flugkörpers zwei Gyroskope eingebaut. Eines der Kreiselinstrumente ist für die Lagestabilität der Querruder-Achse, das andere für Seitenruder und Höhenruder zuständig. Die Ruder werden von kleinen Servomotoren bewegt, welche nach Registrieren von Kursabweichungen die nötigen Lenkausschläge einleiten. Die Rakete besitzt vier Strahlruder im Abgasstrom aus Graphit, um der Hitze des Gasstromes die nötige thermische Resistenz entgegensetzen zu können, und vier Luftruder am Flossenrand. Das „Innenschaltgerät“, welches durch Kreiselmessung die Geschwindigkeit erfasst, oder ein Funksignal sorgt für den zeitlich so exakt justierten Abbruch der Brenndauer, dass die „V2“ im präzisen Flugbogen auf das Ziel ihre Spitze in Richtung Erde neigt.

Jene 1.000 kg-Spitze, die 750 kg-Amatol-Sprengstoff in sich trägt. Genug, um einen Krater von 36 Metern Durchmesser und 13 Metern Tiefe dort entstehen zu lassen, wo nach deutschem Willen aller Grund zur Vergeltung gegeben ist:

in London ...

Die britische Hauptstadt wird bei einer Flughöhe von maximal 80 Kilometern am Scheitelpunkt der Flugbahn in der Rekordzeit von nur fünf Minuten Flug erreicht. Es sind immerhin 250 bis 300 Kilometer Distanz, die in dieser kurzen Zeit überwunden werden. Danach gibt es eine plötzliche, unerklärliche „Gasexplosion“. Aus „heiterem Himmel“ ...

Gegen diese Bedrohung besteht keinerlei Abwehrchance! Man hört sie nicht, man sieht sie nicht. Bis zu einem fürchterlichen Donnerschlag.

Der erste erfolgreiche Start der Rakete glückt am 3. Oktober des Jahres 1942. Insgesamt werden immerhin 3.315 dieser technisch hochstehenden „Hightech“-Waffen abgefeuert. Über 1.000 davon nehmen aus der Gegend von Den Haag ihren mörderischen Weg in Richtung London auf.

Die erste „V2“ detoniert in der britischen Hauptstadt am 8. September 1944 – im Londoner Vorort Chiswick. Sechs Wohnhäuser werden schlagartig zerstört. Erst am 8. November 1944 erklärt der deutsche Reichspropagandaminister Joseph Goebbels öffentlich, dass eine neue Waffe gegen England eingesetzt werde. Zwei Tage später kommt auch der britische Premier Winston Churchill nicht mehr darum herum, die Natur jener „Gasexplosionen“ aufzuklären. Was letztlich mit dem unangenehmen Eingeständnis verbunden ist, dass Großbritannien gegen diese Art der Vergeltung hilflos ist.

Bis dahin hatten bereits über 100 der Geschosse London getroffen. 1.321 „V2“-Raketen detonieren in London, noch stärker wird später Antwerpen heimgesucht – das Hafen-Ende jenes blutig eroberten Wasserweges zur Sicherung des enormen alliierten Nachschubbedarfes. 1.778 „V2“ explodieren hier.

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„V2“ auf einem konzeptionell hochmodernen Abschusswagen („FR-Wagen“), der die Mobilität und damit den unkalkulierbaren Standortwechsel der „V2“-Raketen-„Basen“ sicherstellt.

Weitere Ziele dieser Waffe sind in England nach London auch Norwich/Ipswich, in Frankreich Lille, Paris, Tourcoing, Arras, Cambrai, in Belgien neben Antwerpen auch Lüttich, Hasselt, Tournai, Charleroi, Mons, Diest, und in Holland Maastricht. Doch diese Städte werden im einstelligen, Norwich (44), Lille (27), Paris (20), Tourcoing (15), Lüttich (28), Hasselt (15) und Maastricht (19) im zweistelligen Mengenbereich beschossen. Den absoluten Löwenanteil haben London und Antwerpen zu verkraften.

Selbst Deutschland selbst bleibt als Zielgebiet nicht verschont. Der Versuch, die nach einem missglückten deutschen Sprengversuch im Handstreich von US-Truppen eroberte Rheinbrücke von Remagen mit Raketenhilfe zu zerstören, führt zum ersten taktisch-militärischen Einsatz einer größeren ballistischen Rakete in der Kriegsgeschichte. Elf „V2“ sollen die Brücke zum Einsturz bringen.

Etwa 8.000 Menschen finden durch den Einschlag dieser Raketen insgesamt den Tod – die meisten von ihnen sind Zivilpersonen. Am 25. November 1944 schlägt eine „Vergeltungswaffe 2“ im „Woolworth“-Geschäftshaus des Londoner Stadtteils Deptford ein. 160 Briten sterben bei der Explosion, 77 werden schwer, 122 leicht verwundet. Unter den Opfern sind viele Hausfrauen und Schulkinder. Zwei Tage später verwandelt eine weitere Rakete eine verkehrsreiche Kreuzung in Antwerpen in ein Blutbad. 128 Passanten werden mitten aus dem Leben gerissen, 209 schwer verletzt. Am 16. Dezember 1944 trifft eine „V2“ in Antwerpen ein voll besetztes Kino, das „Rex“. Sie tötet 567 Opfer, darunter allerdings etwa 300 alliierte Soldaten, 291 der Passanten in der Umgebung werden schwer verletzt.

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Ballistische Rakete Aggregat 4 „V2“ beim Abschuss.

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Ein (eher ausnahmsweise) militärisches Opfer in Antwerpen – der amerikanische Soldat stirbt beim Einschlag einer „V2“. Gemäß einer Abhandlung des Imperial War Museum werden durch V-Waffen zusätzlich zu den Zivilisten alleine auf britischer Seite 2.917 Soldaten getötet, 1.939 weitere werden schwer verwundet.

Weit mehr Tote, als der Einsatz dieser Waffe fordert, kostet ihre Herstellung. In einem unterirdischen Montagekomplex bei Nordhausen („Dora-Mittelbau“) werden die Waffen unter geradezu unmenschlichen Bedingungen von Häftlingen eines hier eigens errichteten Konzentrationslagers zusammengebaut. Um Sabotageakte zu verhindern, werden nach missglückten Starts willkürlich Zwangsarbeiter umgebracht – Exempel statuiert. Auch an anderen Orten werden Teile der Rakete mit Hilfe von Gefangenen hergestellt. Etwa 12.000 dieser erbarmungswürdigen Menschen kommen dabei ums Leben.

Die einzige Möglichkeit der Alliierten, den Einsatz dieser Raketen zu verhindern, sind zunächst Luftangriffe auf deren Entwicklungsstätte – das streng geheime Versuchsgebiet Peenemünde auf der Ostseeinsel Usedom. Die Briten waren lange über die Bedeutung dieser Waffenschmiede in Unklaren gewesen. Als sie schließlich dahinter kommen, welche Gefahr hier für sie entsteht, versuchen sie, sowohl die technischen Anlagen als auch gezielt die Wissenschaftler selbst durch einen schweren Luftangriff auf die Versuchsanstalt „auszuschalten“.

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9. März 1945: Farringdon Road, London. Am Tag nach dem Einschlag einer „V2“, die an 476 Menschen „Vergeltung“ übt für Tausende ebenso unschuldiger Bombenopfer in Deutschland. 110 Briten sterben, 366 werden verwundet. Grausames und sinnloses Morden ist das eine wie das andere!

Am 17. August 1943 herrscht Vollmond. Zwei Wellen an britischen Bombern greifen augenscheinlich Berlin an. Mehrfach hatte man bewusst den Flugweg kleinerer Flugzeuggruppen so gelegt, dass diese Usedom überfliegen, um Berlin zu erreichen. Dies geschieht in der Absicht, die deutsche Luftwaffe irrezuführen. 597 Bomber umfasst nun heute die eine Streitmacht, 571 Maschinen die zweite. Fast das gesamte Bomber Command ist in der Luft! Die Täuschung mit der „zufällig“ über die Ostsee gelegten Anflugroute jener Formation von 571 Bombern scheinbar auf Berlin gelingt. Denn nur die erste Streitmacht greift tatsächlich Berlin an – als Ablenkungsmanöver. Die zweite Gruppe aber nimmt sich Peenemünde vor – eine böse Überraschung für die auf ihre strenge Geheimhaltung vertrauenden Deutschen.

200 deutsche Nachtjäger erwarten die Briten – 150 davon warten über Berlin! Die Versuchsanlage auf Usedom wird schwer zerstört, 123 Angehörige der Entwicklungsstätte finden im Bombenhagel den Tod – darunter der Raketentriebwerksspezialist Dr. Walter Thiel. Auch 612 Zwangsarbeiter kommen um. Doch die Versuche am „Aggregat 4“ werden trotz allem lediglich um vier Wochen unterbrochen.

Dafür holen etwa 30 herbeieilende deutsche Nachtjäger schließlich doch noch 42 britische Bomber der „Peenemünde-Formation“ auf dem Rückflug herunter.

Nach dieser Erfahrung wird die Produktion der schließlich serienreifen „V2“ bombensicher unter die Erde verlegt – vor allem in die Stollen von „Dora-Mittelbau“. Auch ein britischer Luftangriff auf die Abschussrampen der Raketen bei Den Haag am 3. März 1945 führt nicht zu einer Beseitigung der Bedrohung – wenn auch 510 Opfer zu beklagen sind. Die Deutschen nutzen für den Abschussvorgang geschickt mobile Startwagen, deren Standort innerhalb kurzer Zeit verlegt werden kann.

Auch dies ist eine militärisch raffinierte „Erfindung“, die bis heute ihre Gültigkeit behalten hat.

Die Briten haben nur eine Möglichkeit. Sie müssen Deutschland erobern, Meter für Meter.

Koste es – wieder einmal – was es wolle ...

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