Die Umrüstung des ersten mit der Arado 234 B-2 ausgerüsteten Kampfgeschwaders beginnt bereits im Juni 1944 in Alt-Lönnewitz, einem Fliegerhorst 16 Kilometer östlich von Torgau an der Elbe. Der Flugplatz ist in gutem Zustand. Das bisher in Belgien, in Südfrankreich und Italien eingesetzte Kampfgeschwader 76 gibt ihre Mittelstreckenbomber des Typs Junkers Ju 88 A-4, A-5 und A-14 sowie einige Ju 188 E-1 ab. Mit diesen Flugzeugen kann sich das Geschwader gegen die immer zahlreicher auftretenden britischen und amerikanischen Jäger am Tage inzwischen nicht mehr behaupten.
Die Bordschützen, Funker, Beobachter beziehungsweise Bombenschützen werden nun allerdings nicht mehr benötigt, denn die Arado 234 B-2 hat nur noch den Piloten an Bord. Sie werden anderen Kampfgeschwadern übergeben, die sich über den kampferfahrenen Nachschub freuen – selten genug in diesen Tagen. Wer nicht hierfür benötigt wird, landet bei den Landsern im Erdkampfeinsatz.
Oberstleutnant Robert Kowalewski, der zuvor Kommodore des ZG 76 und dann des NJG 2 gewesen war, soll das neue Jet-Bombergeschwader führen. Er gilt als fähig und erfahren.
Die Ausbildung der Besatzungen verzögert sich aber erheblich. Es steht zwar eine Heinkel He 111 H-20 zum Training an der Lotfe-7K-Bombenzielanlage zur Verfügung, doch dieser fehlt es an B4-Treibstoff. Die früheren Bomberpiloten wiederum haben wenig Erfahrung mit Bombenzielgeräten – dafür gab es ja bisher den Bombenschützen an Bord! Auch der Bombenabwurf im Bahnneigungsflug (flachen Sturzflug) kann nicht geübt werden – denn noch fehlen den meisten verfügbaren Arados die hierfür nötigen BZA-Geräte.
Schließlich wird von Göring persönlich beschlossen, wenigstens die 9. Staffel als eine „E-Staffel“ (Einsatzerprobungsstaffel) in den Kampfeinsatz zu werfen – ausreichend ausgebildet oder nicht. Die restlichen Erfahrungen müssen eben an der Front gewonnen werden. Die deutschen Soldaten am Boden benötigen endlich Schützenhilfe von oben! Dringend sogar! Die Gegenseite hat sie – und wie!
Mitte Dezember 1944 wird die Einsatzstaffel nach Handorf (bei Münster) verlegt. Am 18. Dezember 1944 verfügt die Einheit über zehn Arado 234 B-2, die hinter sorgfältig angelegten Schutzwällen im Wald um den Flugplatz herum vor den Folgen feindlicher Tiefangriffe bewahrt werden sollen. Allerdings haben die Wälle zum Leidwesen des KG 76 kein Splitter-Schutzdach – mühsam werden solche Abdeckungen in den folgenden Wochen vom Bodenpersonal und vom Reichsarbeitsdienst nachgerüstet.
Nach wie vor lässt aber die Zielgenauigkeit der Piloten erheblich zu wünschen übrig. Die hohe Anfluggeschwindigkeit der Jets wird an diesem Punkt zum Problem – es zählen Sekunden. Abweichungen von 100 bis 400 Meter zum Ziel lassen den Angriff auf Punktziele illusorisch erscheinen. Man übt fleißig, so gut es das schlechte Wetter und die dauernden feindlichen Einflüge zulassen.
Es wird Weihnachten. Am 24. Dezember 1944 starten neun Düsenbomber zu ihrem ersten Luftangriff. Um 10.15 Uhr geht es los. Das Ziel sind die Bahnanlagen von Lüttich und Namur. Die Gleisanlagen werden im Gleitflug bombardiert – dabei erzielen die Arados eine Geschwindigkeit zwischen 800 und 900 km/h. Der Pilot braucht also in dieser Flugphase keine Jägerattacken von hinten zu befürchten und kann sich auf sein Angriffsziel konzentrieren. Das muss er auch, wenn er es treffen will.
Die Jets tragen Bomben des Typs SC 500 (gefüllt mit Trialen 105). Hauptmann Lukesch landet einen Volltreffer in einer Lütticher Fabrik. Er fliegt . Auch Feldwebel Hachmann
trifft einen „großen Gebäudekomplex“ in der Innenstadt, dem er militärische Nutzung unterstellt. Oberleutnant Fendrich
und Leutnant Rögele
zerstören voll belegte Gleisanlagen, während die einzige Arado 234 B-2, welche Namur ansteuert, von Fahnenjunker-Feldwebel Stauss geflogen wird. Die Bombe seiner
trifft ebenfalls mitten in die Bahnhofsstruktur.
Der deutsche Verband begegnet Spitfires, die jedoch offensichtlich nicht wissen, was sie von dem ungewohnten Gegner halten sollen, und abdrehen. Auch die alliierten Flugabwehrkanoniere werden von dem unerwarteten Blitzangriff eher überrascht. Der Einsatz ist ein Erfolg, was die Anzahl der Treffer im Ziel betrifft. Wie viel allerdings fünf einzelne 500-kg-Bomben an Schaden anrichten, das sei dahingestellt. Deswegen wird der Angriff noch an demselben Tag wiederholt. Gleichzeitig treffen sechs weitere Maschinen ein, was die Stärke der Einsatzgruppe auf 16 Düsenbomber erhöht.
Am nächsten Tag starten erneut vier Jets – den Triebwerken der anderen scheint es beim Anlassen zu kalt zu sein. Nun ist die aus ihrem Dornröschenschlaf aufgeschreckte alliierte Flak im Bilde, auch Jäger versuchen, die neue Gefahr am Himmel abzuwehren. P-47 „Thunderbolts“ greifen ein, bleiben aber erfolglos. Dagegen kann eine Hawker „Tempest“ der 80 Squadron RAF eine der Arado 234 B-2 mit viel Glück so beschädigen, dass sie notlanden muss. Der Pilot kommt mit dem Schrecken davon.
Weitere Einsätze folgen, auch gegen die in Bastogne eingeschlossenen US-Truppen, um der deutschen Wehrmacht während der Ardennenoffensive Unterstützung zu bieten. Inzwischen versammeln sich ganze Schwärme feindlicher Jäger in den vermuteten und sinnvoll infrage kommenden Zielgebieten. Mustangs, Spitfires, Lightnings und Thunderbolts – bis zu 60 feindliche Jäger werfen sich den Jets in den Flugweg. Keiner von ihnen kommt in eine Abfangposition. „Damned, what the heck is that?“ „Verflucht, was, zum Teufel, ist das denn?“ Diese Deutschen sind so abartig schnell!
Im Angriff ja – bei der Landung nicht. Die Briten sind überall. Über Münster patrouillieren Hawker „Tempests“ der 486 Squadron RNZAF mit in diesem Falle neuseeländischen Piloten. Wie viele es sind, wird bis heute kontrovers diskutiert. Laut Kriegstagebuch der 9./KG 76, die als Einsatzstaffel fungiert, sollen es geschätzte 200 sein – was unwahrscheinlich ist. Axel Urbanke nennt acht ... *5
Die Piloten des deutschen Jagdgeschwaders 54 halten dagegen. Etwa 40 bis 60 Focke-Wulf 190 D-9 „Langnasen“ (je nach Quelle), moderne schnelle Jäger wie ihre Rivalen aus dem Hause Hawker, steigen am 27. Dezember 1944 auf, um die Jets bei der Landung zu beschützen. Allerdings sind in den Reihen dieser Einheit viele Novizen – unerfahrene Jung-Flugzeugführer im allerersten Einsatz. Das Geschwader war jüngst „aufgefrischt“ worden und startet seither heute erstmals wieder.
Der Geschwaderkommodore, Hauptmann Robert „Bazi“ Weiß, ist allerdings kein Neuling. Es ist dem Staffelführer der Höhendeckung fliegenden 10./JG 54, Leutnant Crump, ein Rätsel, warum der alte Hase Hauptmann Weiß mit der Erfahrung von 120 Luftsiegen seine Staffeln den Kurs wechseln lässt, als die Bodenleitstelle ihn warnend per Funk über den Anflug feindlicher Jäger über ihm in Kenntnis setzt. Als Crump realisiert, dass dieses Manöver seiner am weitesten oben fliegenden Staffel die Mittagssonne fatalerweise genau in den Rücken bringt und ihn damit in Richtung auf die wahrscheinlichste Gefährdung blind macht, befiehlt er einen erneuten Halbkreis seiner elf Schützlinge. Doch es ist bereits zu spät. Die acht Tempests stürzen sich mit Vollgas auf die zwölf Focke-Wulf 190 D-9.
Die deutschen Staffeln verteilen sich in unterschiedliche Höhen bis zu 3.000 Metern. Die Geschosse eines der sofort ihren geradezu idealen taktischen Vorteil nützenden Neuseeländer zerstören die etwas zurückhängende (Werknummer 500029) des Feldwebels Karl Dähn – die Langnase verschwindet in einem orange-roten Feuerball. Nur wenig später steigt der vierundzwanzigjährige Oberleutnant Paul Breger mit dem Fallschirm aus seiner böse angeschossenen
(Werknummer 210050). Eine dritte Tempest sitzt hinter einem Schwarmkameraden Leutnant Crumps. Der deutsche Staffelkapitän reißt seine „Dora-9“ in einen scharfen Vollkreis und manövriert sich mit all seinem Können schneller hinter die Tempest, als der Neuseeländer Crumps ausweichenden Kameraden abschießen kann. Sekunden später verlässt der Royal-New-Zealand-Air-Force-Pilot seine lichterloh brennende Hawker.
Es ist Flying Officer B.M. Hall, dessen Jäger mit dem Produktionscode EJ627 die Kennung aufweist. Hall springt noch ab, überlebt jedoch trotzdem nicht.
Die führerlose Tempest kippt als Fackel in die Tiefe – um Gottes Willen! Das abstürzende britische Flugzeug rast mitten in den Fallschirm von Oberleutnant Breger und reißt ihn mit. Zwar kommt der deutsche Jagdflieger noch einmal frei von dem Wrack, doch es nützt ihm nichts. Sein Fallschirm brennt! Paul Breger wird schnell im Fallen schneller ...
Peter Crump ist entsetzt, schockiert – wie alle seine Kameraden. Der Zimmergenosse des Unglücklichen, Leutnant Theo Nibel, hatte Breger nahe an seiner Maschine vorbeistürzen sehen. Wenn er nur etwas hätte tun können!
Leutnant Crump hat keine Zeit zum Sinnieren. Ein weiterer seiner jungen Schützlinge ist in Schwierigkeiten, ruft per Funk um Hilfe. In dem allgemeinen Chaos in den Kopfhörern ist es kaum herauszuhören. Doch Crump sieht es von sich aus. Der deutsche Staffelkapitän hetzt hinter die Tempest, die gerade dabei ist, ihr designiertes Opfer abzuschießen. Crump ist schneller – es ist sein 23. Luftsieg.
Er kann allerdings nicht überall sein. Feldwebel Arnfried Köhler springt mit dem Fallschirm aus seiner , Werknummer 210085, und kommt nur mit Verbrennungen zweiten Grades und Schussverletzungen davon. Unteroffizier Max Mittelstädt kann seine brennende „Langnase“ (
, Werknummer 210066) in einem haarigen Manöver auf dem Flugplatz Münster-Handorf landen – blind durch einen Ölfilm auf der Windschutzscheibe und, als er die Haube öffnet und an der Frontscheibe vorbei nach vorne blicken will, auch auf seiner Fliegerbrille. Prompt zerschellt sein Jäger fast auf der mit Bombenkratern übersäten Landebahn. Hätte ein Nachtjäger-Fliegerkamerad der I./NJG 1 nach einem Motorrad-Spurt den bewusstlosen Mittelstädt nicht aus dem lodernden Wrack gezogen, der deutsche Unteroffizier wäre jämmerlich verbrannt. Erst am 18. März 1945 wird der zum Glück mit eher leichten Brandwunden überlebende Mittelstädt aus dem Lazarett entlassen.
Nachdem die Tempests durch die überrumpelte 10. Staffel des JG 54 hindurchgestürzt sind, finden sie sich weiter unten über und hinter der 12. Staffel wieder. Auch hier sind sie zahlenmäßig im Nachteil, haben aber durch die Überhöhung alle übrigen Trümpfe in der Hand. Prompt findet sich Feldwebel Walfried Huth inmitten einiger Feindjäger wieder – es ist das letzte Mal, dass man ihn lebend sieht. Erst später wird seine Leiche identifiziert, als man das Wrack der (Werknummer 210031) abgestürzt bei Telgte auffindet. Unteroffizier Kurt Hein muss in Hopsten bei Rheine notlanden – was ihm ohne Blessuren gelingt. Dafür holt der jüngste Pilot der Staffel, Unteroffizier Adam Seibert, bei seinem ersten Kampfeinsatz eine der Tempests herunter. Er beschreibt den Luftkampf aus seiner Sicht:*6
„Ja. Bei absolut klarem Wetter heben wir heute erstmals zum Feindflug ab. Das hört sich so einfach an, dass man fast nicht an die Gefahr denkt dabei. Ich weiß nicht, an was ich alles denke beim Flug – mein Gehirn arbeitet fieberhaft. Dann plötzlich geraten wir mit den ersten Jägern von denen da drüben aneinander und ein handfester Luftkampf entbrennt. Ich werde nie mein Entsetzen vergessen, als ich unter mir meinen Widersacher erkenne, der sich offensichtlich mich als Opfer ausgesucht hat. Ich weiß, dass ich blitzartig reagieren muss. Aber der alte Hase dort zögert offensichtlich auch für einen Augenblick, und somit komme ich in eine günstige Schussposition, die ihn in sein Verderben führt. Ich habe gerade noch Zeit, meinen rechten Handschuh abzustreifen, für ein besseres Fingergefühl. Dann jage ich einen Feuerstoß in seine Tragfläche, die sofort in Flammen steht. Der Luftkampf wird über einer Stadt ausgefochten, die böse gelitten hat unter den Terrorangriffen. Wenn man diese Zerstörungen sieht, dann hat man die nötige Wut zum Kämpfen. Bei der ganzen Angelegenheit muss ich meine Maschine in den höchsten Tönen loben, die die Sache für mich fast zum Kinderspiel macht.“
Nun, ganz so lustig ist es nicht. Die Neuseeländer hatten zwar alle Asse im Ärmel – viel Kampferfahrung, die Sonne im Rücken und den Geschwindigkeitsvorteil der Überhöhung, außerdem noch den zum Angriff geradezu einladenden Anflug ausgerechnet von hinten oben. Aber: es sind anfangs acht gegen zwölf, dann sechs gegen wieder etwa zwölf – eine deutsche Staffel eben. Vor diesem Hintergrund sind fünf abgeschossene und eine beschädigte Focke-Wulf 190 D-9 gegen drei unter Zeugen abgeschossene Tempests, von denen noch dazu nur eine von den Briten als Verlust anerkannt wird, ein eindeutiger Erfolg der Royal (New Zealand) Air Force. Die siegreichen Neuseeländer sind Flight Lieutenant E.W. Tanner, Flight Lieutenant Keith Granville Taylor-Cannon, Flying Officer Keith A. Smith, Pilot Officer Sid J. Short sowie Flying Officer B.M. Hall vor seinem eigenen Tod.
Andererseits: war es wirklich nur die 486 Squadron? In den Annalen der 2nd Tactical Air Force findet sich um 12.50 Uhr keine weitere Einheit. Wer aber schoss dann die Arado 234 B-2 der 9./KG 76 an, die einzige, die beim Landeanflug durch Bordwaffeneinwirkung beschädigt wird? Unteroffizier Sickert fliegt als Schlusslicht der Formation und bringt seine noch herunter, doch der Schreck dürfte ihm in den Knochen sitzen, auch wenn er unverletzt bleibt. Kein britischer „claim“ nennt einen Jet.
Der Verfasser hat sich ganz bewusst dazu entschlossen, an dieser eigentlich den Turbinenbombern gewidmeten Stelle auch den in der genannten Quelle beschriebenen Luftkampf Jäger gegen Jäger insgesamt weiterzugeben, da er die Dramatik erkennen lässt, die über den Fliegerhorsten der Düsenmaschinen entsteht.
Jeder Start und jede Landung beinhaltet für die Jetpiloten die größte Lebensgefahr des gesamten Einsatzes. Während die alliierten Besatzungen auf dem Rückflug zur Basis mit jeder Meile mehr aufatmen können, können die Deutschen ihre Nervenanspannung frühestens überwinden, wenn sie in ihrem Quartier angelangt sind. Und selbst dann ist man vor Bombenhagel niemals sicher.
Und es wird von Tag zu Tag schlimmer!
Es ist weder möglich noch sinnvoll, in diesem Kapitel alle weiteren Einsätze des Kampfgeschwaders 76 mit der Arado 234 B-2 zu beschreiben. Interessierte seien auf eine Dokumentation des Autors Manfred Griehl und eine weitere der Autoren J. Richard Smith und Eddie J. Creek *7verwiesen.
Doch soweit: Als die Düsenbomber in der Nacht vom 31. Dezember 1944 auf den 1. Januar 1945 einen ersten Einsatz im Dunkeln fliegen, stellen sie verblüfft fest, dass sowohl der Bahnhof in Brüssel als auch die für den alliierten Nachschub so wichtigen Hafenanlagen in Antwerpen hell erleuchtet sind. Haben die noch nie etwas von Verdunkelung gehört? So wenig fürchten die Alliierten zu dieser Zeit noch deutsche Bombenangriffe!
Am Unternehmen „Bodenplatte“ nehmen dann sechs Arado 234 B-2 teil, ihr Angriff mit AB-500-Abwurfbehältern (gefüllt mit je 24 SD-15-Splitterbomben) richtet sich gegen den Jäger-Flugplatz Gilze-Rijen zwischen Tilburg und Breda. Sie zerstören nur eine einzige Hawker „Typhoon“ des N° 123 Wing und beschädigen einige weitere der 168 Squadron. Ferner werden zehn Briten verwundet. Sonderlich erfolgreich kann man den Einsatz nicht nennen.
Es versteht sich aber von selbst, dass die respektlose alliierte Einladung mit der Festbeleuchtung in Antwerpen von den deutschen Düsenbombern in den Folgenächten gerne angenommen wird ...
Bis zum 23. Januar 1945 fliegt die Einsatzstaffel des KG 76 – die 9./KG 76 – 104 Einsätze mit der Arado 234 B-2. Dabei sind zwei Verwundete zu beklagen, von denen einer letztlich seinen Verletzungen erliegt. Eine Arado ist durch Bruchlandung schwer beschädigt, drei weitere leicht. Alle weiteren Flugzeugverluste sind unfallbedingt und haben nichts mit Feindeinwirkung zu tun. Das ist eine bemerkenswert gute Bilanz – bisher! Doch mit der zunehmend allgegenwärtigen Präsens alliierter Jäger über dem immer überschaubarer zusammenschrumpfenden deutschen Reich steigen auch die Verluste der Strahlbomber-Besatzungen. Am 9. Februar 1945 wird die Einsatzstaffel von Münster–Handorf nach Achmer verlegt und mit der restlichen III. Gruppe des KG 76 vereinigt.
Nach und nach wird das Kampfgeschwader 76 mit Ausnahme der im Juni 1944 aufgelösten I. Gruppe mit den Düsenbombern ausgerüstet – soweit es produktionstechnisch noch möglich ist.
Der Geschwaderstab verfügt ab Oktober 1944 über die erste Arado 234 B-2, fliegt aber erst ab 2. März 1945 erste Einsätze mit dem Düsenbomber.
Die IV. Gruppe des KG 76 erhält zwar endlich im Dezember 1944 acht Arado 234 B-2, wird jedoch bald als III. Gruppe dem Ergänzungskampfgeschwader (EKG) 1 zugeordnet. In Alt-Lönnewitz führt dieses Geschwader Übungs- und Einweisungsflüge durch – von Monat zu Monat mehr behindert durch streunende sowjetische Jagdflugzeuge, die ab März 1945 zu einer gefährlichen Plage werden.
Immerhin gelangen noch einige der fantastischen vierstrahligen C-Modelle des Düsenbombers nach Alt-Lönnewitz. Die Arado 234 C-3 ist der eigentlich geniale „Wurf“ des Flugzeuges. Mit einer Rei- segeschwindigkeit von 900 km/h (!) und einer Flughöhe bis zu 15.000 Metern (!) ist dieser Bomber fliegerisch eine Wucht – schlicht unschlagbar. Für die C-3-Version sind nun auch zwei nach vorne feuernde MG 151/20-Kanonen des Kalibers 20 mm vorgesehen, die seitlich in den Rumpfbug integriert sind.
Doch wie im Jahr 1945 für die Piloten der Luftwaffe schon fast zum Heulen üblich kommt auch dieses beeindruckende Produkt deutscher Ingenieurskunst viel zu spät, um noch im militärischen Sinne seiner Bestimmung eingesetzt werden zu können. Die meisten fallen Tieffliegerangriffen zum Opfer.
Die II. Gruppe/KG 76 hat seit September 1944 zwar 23 Bomberpiloten, aber keine Flugzeuge. Erst im Dezember treffen die ersten Strahlbomber ein, am Jahresende 1944 hat die gesamte Gruppe gerade mal 15 davon in ihrem Bestand – und 29 Piloten. Diese dünne Personaldecke und vor allem die geringe Zahl an zur Verfügung stehenden Einsatzmaschinen führt dazu, dass letztlich nur die 6. Staffel einigermaßen ausgerüstet und in überstürzten Schnellkursen ausgebildet wird. In Anbetracht der immer näher rückenden Roten Armee und ihres enormen Luftschirmes wird dieses Flugtraining auch im Osten des Restreiches zunehmend gefährlicher, zumal die Russen auch noch versuchen, die lernenden Piloten mit fingierten Funksprüchen auf der sowjetischen Seite der Front zur Landung zu verleiten. Man hatte von den revolutionären neuen deutschen Flugzeugen gehört und hätte zu gerne eines davon erbeutet. Doch der Trick klappt nicht – die Deutschen durchschauen ihn schnell.
Vierstrahlige Arado Ar 234 C-3.
Am 22. Februar 1945 verlegen die 16 Arado 234 B-2 der 6. Staffel (II. Gruppe)/KG 76 von Alt-Lönnewitz nach Hesepe und später Hopsten bei Osnabrück und sind von nun an einsatzmäßig der fünf Kilometer entfernt in Achmer liegenden III. Gruppe unterstellt.
Die Sollstärke der III. Gruppe/KG 76 liegt bei 52 Kampfflugzeugen. 38 Arado 234 B-2 stehen am 31. Oktober 1944 zur Verfügung, 29 davon sind einsatzklar.
Schließlich sind am 30. November 1944 immerhin 51 Strahlbomber an die III./KG 76 ausgeliefert worden. Für sie stehen 50 Kampfpiloten mit Einsatzerfahrung bereit. Wie bereits erwähnt wird nun die 9. Staffel auf ausdrücklichen Befehl des Reichsmarschalls Hermann Göring etwas verfrüht zum Kampfeinsatz abgestellt. Die 7. Staffel und 8. Staffel sollen baldmöglichst folgen. Immer noch häufen sich Flugunfälle, die noch zu mehr Gefallenen führen als die Kampfeinsätze der Einsatzstaffel.
Am 23. Januar 1945 verlegt der Gruppenstab und die 8./KG 76 von Burg bei Magdeburg nach Achmer bei Bramsche (13 Kilometer nördlich von Osnabrück). Der Flugplatz besitzt eine zwei Kilometer lange betonierte Startbahn und bietet sich daher als Operationsbasis für Düsenflugzeuge an. Das finden schnell auch die Alliierten heraus.
Sowohl Spitfires Mk. IX der 401 Squadron als auch Tempests der 3 und 56 Squadron sind über dem Münsterland in der Luft, als die Arado 234 B-2 zur Landung ansetzen. Einen deutschen Düsenjet auf der Erfolgsliste präsentieren zu können gilt unter den alliierten Jägerpiloten dieser Zeit als Krönung ihrer Karriere. Die britischen Piloten lassen sich diese Gelegenheit nicht entgehen.
Prompt werden zwei Arados abgeschossen, nur einer der beiden Bomberpiloten kann sich mit dem Fallschirm retten (Unteroffizier Eberhardt Siehnhold). Die beiden erfolgreichen Spitfire-Piloten sind Flying Officer D.F. Church und Flying Officer G.A. Hardy. Zwei weitere Düsenbomber werden bei der Landung beschädigt. Flight Lieutenant W.C. Connell und Pilot Officer M. Thomas teilen sich einen „Abschuss“. Zusätzlich gehen zwei der wertvollen Flugzeuge auf dem Flugfeld durch Tiefangriffe verloren – eines davon explodiert. Mindestens eine Me 262 der 12./KG(J) 51wird im Anflug bei Hopsten 20 Kilometer westlich von Achmer durch Tempests der 56 Squadron vom Himmel geholt, Oberleutnant Hans Holzwarth fällt dabei. Zwei weitere werden von dem Briten Flight Lieutenant Dick Audet (411 Squadron) als „claim“ beansprucht. Der Spitfire-Pilot gibt die Zerstörung eines Düsenjägers auf dem Flugplatz Rheine durch Tiefangriff, eines weiteren im Landeanflug zu Protokoll.
So läuft das also ab jetzt! Es sind schöne Aussichten für die deutschen Düsenflieger. Die üblicherweise zum Schutz aufsteigenden Focke-Wulf Fw 190 D-9 „Langnasen“ beziehungsweise Messerschmitt Bf 109 G-10, G-14/AS und vor allem K-4 können diese Überfälle trotz aller Bemühungen nicht verhindern, ebenso wenig die ihr Allerbestes gebenden und durchaus von den alliierten Piloten gefürchteten deutschen Flugabwehrkanoniere der Platzflak an ihren 2-cm-Schnellfeuerkanonen.
Am 9. Februar 1945 erscheinen die 16 Arado Ar 234 B-2 der 9./KG 76 in Achmer. Und zwei Tage später amerikanische P-51 „Mustangs“, die aus allen Rohren feuernd im Tiefflug den Platz beharken.
Doch auch in der Luft gelingen den alliierten Jagdfliegern zunehmend häufiger Überraschungserfolge gegen die Arado-Bomber – oft nur im haarsträubenden Sturzflug bis an die Grenze der bautechnischen Belastbarkeit ihrer Jagdflugzeuge. Während Oberfeldwebel Drews am 22. Februar 1945 den Republic P-47 „Thunderbolts“ der 366th US Fighter Group mühelos entkommt, erwischt der amerikanische 1st Lieutenant David B. Fox irgendwie die Arado Ar 234 B-2 von Hauptmann Josef Regler, der die folgende Notlandung im Niemandsland unverletzt übersteht und sein Flugzeug in die Luft jagt, um die wertvolle Technik vor geistigem Diebstahl zu bewahren. Der Staffelkapitän der 9./KG 76 schlägt sich heil bis zu den eigenen Linien durch und findet sich zwei Tage später wieder in Achmer ein.
P-51 D „Mustangs“ der 364th US Fighter Group holen am 25. Februar 1945 zwei Strahlbomber der 8./KG 76 vom Himmel – nahe des Fliegerhorstes Achmer, also in der verwundbarsten Phase. Unteroffizier Przetak (, Werknummer 140456) fällt, Oberleutnant Kolm kann unverletzt abspringen.
Auch am 2. März 1945 attackieren alliierte Jäger bei Nimwegen (Weurt?) einen der Jetpiloten und zwingen ihn schließlich zum Aussteigen. Unterlagen der WASt *8 nennen alternativ die Orte Weert/Venlo oder Achmer – das sei nicht klar. Oberleutnant Sätterlein bleibt jedenfalls unversehrt und ist bald wieder bei seiner Staffel. Weniger Glück hat Leutnant Eberhard Rögele aus der 9./KG 76, der bei demselben Einsatz nach Konfrontation mit einer Horde von Feindjägern in seiner (Werknummer 140178) tödlich abgeschossen wird. Es passiert wieder einmal auf dem Weg zu seinem Heimatflugplatz – bei Hammermühle, 17 Kilometer von Achmer entfernt, drei Kilometer westlich von Recke.
Die britischen Piloten behaupten den Abschuss zweier Arado Ar 234 und die Beschädigung zweier weiterer. Den ersten der beiden vernichteten Düsenbomber reklamiert Flight Lieutenant D.J. Reid, der eine Spitfire Mk. XIV der 41 Squadron RAF fliegt. Der Abschuss eines als Aufklärer angegebenen Strahlbombers der 9./KG 76 erfolgt nach den Angaben der 2nd Tactical Air Force RAF um 07.40 Uhr – angeblich bei Enschede. Das liegt ziemlich genau zwischen Nimwegen und Achmer.
Die andere Arado geht um 08.00 Uhr auf das Konto der 222 Squadron RAF, die mit den flinken, agilen Hawker „Tempest“ Mk. V ausgerüstet ist. Dieser Abschuss wird auf acht Kilometer östlich des Ortes Lingen spezifiziert, was immerhin mit Recke in Einklang gebracht werden kann – der Unterschied beträgt nur 25 Kilometer. Flight Lieutenant G.W. Varley feuert nach britischer Darstellung auf eine von zwei Arado-Jets der 9./KG 76 – das deutsche Flugzeug explodiert. Doch dann greifen zwölf Me 109 ein, ein heftiger Luftkampf entbrennt. Die Briten geben vier zerstörte Me 109 und die Beschädigung der zweiten Arado Ar 234, in einem weiteren Einsatz sogar eines dritten Arado-Jets an.
Tatsächlich muss Oberleutnant Artur Stark (9./KG 76) mit seiner (Werknummer 140166) noch eine Notlandung durchführen – aber ohne Feindeinwirkung. Ihm war schlicht das Benzin ausgegangen und eine Turbine ausgefallen. Stark wird nur leicht verletzt, sein Flugzeug hat 40 % Schaden.
Eigene Verluste sind in den Dokumentationen zur 222 Squadron nicht vermerkt.
Es scheint schwierig, die deutschen Gegner dieser britischen Tempest-Formation exakt zu definieren. Auf britischer Seite sind am frühen Morgen immerhin Teile folgender Squadrons über dem Münsterland versammelt: Patrouillen aus der mit den exzellenten Spitfire Mk. XIV (die letzte in nennenswerter Anzahl eingesetzte Version dieses britischen Baumusters) ausgerüsteten 41 Squadron, 130 Squadron, 350 Squadron und der Kommodore des N° 125 Wings, Wing Commander G. Keefer. Dazu kommen die ebenfalls hervorragenden Tempests aus der 222 Squadron, 33 Squadron, 3 Squadron und 80 Squadron, Spitfire Mk. XVI der 416 Squadron RCAF und – um nur die Einsätze am frühen Vormittag zu zählen, Typhoon IB der 198 Squadron (Letztere allerdings weiter entfernt).
Auf deutscher Seite wiederum sind Teile der mit Messerschmitt Bf 109 K-4 ausgerüsteten II./III. und IV. Staffel des Jagdgeschwaders 27 in der Luft sowie 21 Focke-Wulf 190 D-9 der III./JG 26.
Vergleicht man die Gegner, die Orte des Luftkampfes und die angegebenen Uhrzeiten (die im Winter des Jahres 1944 hinsichtlich der Zeitsysteme auf beiden Seiten identisch sein müssten), so kommt als Gegner für die 222 Squadron fast nur die II./JG 27, allenfalls noch die IV./JG 27infrage.
Denn die Piloten der III./JG 27 schlagen sich mit ihren Messerschmitt Bf 109 K-4 eher südwestlich von Achmer bei Saerbeck mit Spitfires herum, während Lingen beziehungsweise Recke eher nordwestlich/westlich gelegen sind.
Der Unterschied ist räumlich nicht groß, Spitfires sind aber kaum als Tempests zu missdeuten. Es sind vermutlich die Mark XIV der 350 Squadron, welche um 08.00 Uhr drei Abschüsse von Messerschmitts und eine Beschädigung melden – ohne eigene Verluste. Die Deutschen geben drei Abschüsse und drei Gefallene an – zwischen 07.43 Uhr und 08.00 Uhr. Gleichzeitig verliert die 130 Squadron an demselben Ort zwei Spitfire Mk. XIV gegen „Focke-Wulf 190“ bei angeblich vier Abschüssen und einer Beschädigung. Wenn deren Gegner tatsächlich Focke-Wulf sind, dann kommt nur die III./JG 26 mit ihren Dora-9 „Langnasen“ aus Plantlünne in Betracht, welche zwar eine Maschine verliert (, Werknummer 400257, 10. Staffel, Unteroffizier Walter Hähnel fällt), aber keine bestätigten Abschüsse meldet – und außerdem erst um 08.20 Uhr startet.
Eher als eine Spitfire ist schon eine Hawker „Typhoon“ mit dem Nachfolgemodell „Tempest“ zu verwechseln. Denn die IV./JG 27 gerät mit ihren Me 109 K-4 angeblich an Typhoon, deren Piloten aber tatsächlich gar keine Abschüsse erzielen – im Gegenteil, der einzige Typhoon-Verlust findet 100 Kilometer entfernt bei Neuss statt, und noch dazu irrtümlich durch amerikanische P-51 Mustangs.
Also sind es doch wohl Tempests, die einen deutschen Maschinenverlust und zwei leichte Beschädigungen (15 % und 30 %) verursachen, wichtiger sind ein gefallener Messerschmitt-Pilot und zwei Verwundete. Dagegen steht ein deutscher Abschusserfolg – angeblich im Bereich Achmer. Eine genaue Uhrzeit des Luftkampfes „am frühen Morgen“ ist in den deutschen Angaben nicht verfügbar. Allerdings könnte das zu den Meldungen der 80 Squadron passen, deren Piloten um 08.50 Uhr eine Messerschmitt Bf 109 abschießen und eine Tempest Mk. V im Gegenzug verlieren – über „Rheine Airfield“.
Das Verhältnis 1 : 1 an Abschüssen würde dann in den Protokollen beider Seiten übereinstimmen. Der Flugplatz Rheine liegt 35 Kilometer entfernt von Achmer. Oder ist es gar Achmer?
Wie dem auch sei, aus allen diesen Puzzle-Details ergibt sich aus der Sicht des Autors die wahrscheinlichste Konfrontation der 222 Squadron mit der II./JG 27, aus welcher dann also vermutlich jene von den Briten erkannten zwölf Messerschmitt (in diesem Falle G-14/AS) stammen. Beide Einheiten melden Luftkampf gegen 08.00 Uhr (auf deutscher Seite erfolgen Abschüsse um 07.51 Uhr und 07.59 Uhr), die Briten zwischen Rheine und Lingen, die Deutschen zwischen Rheine und Osnabrück. Nach den Statuten schießen die deutschen Jagdflieger angeblich zwei Tempests vom Himmel und beklagen einen Gefallenen (Oberleutnant Wolfgang Herkner, , Werknummer 785741), während die Briten – wie erwähnt – vier Messerschmitts heruntergeholt haben wollen ohne eigene Verluste ...
Schon am 21. Februar 1945 entsteht ein Einsatzverband, der den Namen seines Verbandsführers erhält. Der „Gefechtsverband Kowalewski“ wird vom Kommodore des KG 76 geführt und umfasst die 6., 8. und 9. Staffel des Geschwaders sowie die I. und II. Gruppe des mit Messerschmitt Me 262 Jagdbombern ausgerüsteten KG(J) 51.
Der exklusive Düsenjetverband wird schon bald seine Feuertaufe erleben. Dazu gibt es einen konkreten Anlass.
Die verdammte Brücke von Remagen ...