Der „Fall Gelb“

Hitlers Vorhaben, Frankreich anzugreifen, ist im deutschen Generalstab nicht unumstritten. So sicher wie er, der sich selbst zum Oberbefehlshaber der deutschen Wehrmacht erhoben und sich diese Position nach dem Tode des Reichspräsidenten Hindenburg aus der Sicht vieler alter Offiziere erschlichen hatte, ist man sich im Offizierskorps nicht, dass Frankreich zu schlagen sei. Zumal mit England an seiner Seite – wieder einmal. Zu gut ist das Grauen des Ersten Weltkrieges im Gedächtnis. Es gärt im deutschen Oberkommando der Wehrmacht. Wer ist dieser ehemalige Meldegänger, der es niemals über den Rang eines Gefreiten hinaus gebracht hatte, dass er sich anmaßt, über altgediente traditionsreiche preußische Offiziersfamilien hinweg sich zum Feldherrn aufzuspielen (er wird sich später sogar „Größter Feldherr aller Zeiten“ nennen)? Woher will der wissen, wie man einen Krieg zu führen hat? Niemand wagt, das laut zu sagen. Zumal sich Adolf Hitler bemerkenswerte Detailkenntnisse angeeignet hat. Nach einer langen Rede des deutschen Oberkommandierenden Hitler vor den Generälen von Heer und Luftwaffe am 23. November 1939reicht der Oberbefehlshaber des Heeres, Generaloberst Walther von Brauchitsch, spontan seinen Rücktritt ein. Hitler lehnt ab. „Ob wohl die Soldaten an der Front angesichts ihrer Aufgabe auch so einfach demissionieren könnten?“ – Ist die Antwort.

Doch Adolf Hitler hat zu diesem Zeitpunkt etwas, was den „altgedienten“ Offizieren teilweise abhanden gekommen war – Intuition für Schwächen des Gegners. Oft einen durchaus militärisch treffsicheren Instinkt! Noch wird er zutreffend informiert, noch ist seine Urteilskraft ungetrübt. Beides sollte sich nach ungezählten und für die Betroffenen durchaus in ihren Konsequenzen potentiell gefährlichen Tobsuchtsanfällen in den späteren Jahren ändern, als immer weniger seiner „Untergebenen“ es wagen, ihm die militärische Lage ungeschminkt und abweichend von des „Führers“ eigener Einschätzung darzulegen. „Führer befiel, wir folgen“ ist ein Propagandaslogan in den Jahren der deutschen Erfolge. „Führer befiel, wir tragen die Folgen“ wird es im Volksmund verbittert unter der Hand einmal abgewandelt werden. Und „Größter Feldherr aller Zeiten“heißt dann abgekürzt „Gröfaz“. Anklänge an den despektierlichen Begriff „Fatzke“ (berlinerisch für „Aufschneider“) sind rein zufällig, versteht sich ...

Im Jahr 1940 ist diese Entwicklung noch nicht vorhersehbar. Hitler schmeckt der gar zu logische, einfallslose Plan nicht, den die Generäle vorlegen. Zu sehr ähnelt er jenem des Generalfeldmarschalls Alfred Graf von Schlieffen aus dem Jahr 1905, der bereits 1914 gescheitert war. Es liegt nahe, dass Deutschlands Gegner sich auf dieses Vorgehen einstellen. Doch eine bessere Idee hat Hitler auch nicht. Diesen fehlenden Geniestreich entwickelt ein Generalleutnant mit dem Namen Fritz-Erich von Lewinski, der sich jedoch lieber nach seinem Adoptivvater nennt. Es ist Erich von Manstein, der aus einer preußischen Soldatenfamilie stammt. Er ist der leibliche Sohn eines ehemaligen Artilleriegenerals. Auch sein Onkel und Stiefvater bekleidet diesen Rang.

Von Mansteins Idee stößt bei General der Artillerie Franz Halder, Chef des Generalstabes im Oberkommando des Heeres, auf Ablehnung. Selbst als sich der Panzergeneral Heinz Guderian, einer der fähigsten Strategen des Bewegungskrieges, ein Vorstoßen seiner Panzer durch die hügeligen Ardennen nach den Erfahrungen in Polen durchaus vorstellen kann, ändert dies Halders Ansicht nicht. Im Gegenteil. Der unbequeme von Manstein wird nach Stettin abkommandiert – abgeschoben, muss man sagen. Nach dem vierten Entwurf seines Angriffsplanes hat Halder genug. Panzer durch die Ardennen? Absurd!

Genau so sehen das die englischen und vor allem französischen Generale auch, welche die von engen Tälern und vielen kleinen Flüssen durchzogene Hügelkette an der Grenze zu Luxemburg für ein unüberwindliches Hindernis halten – was motorisierte Einheiten betrifft. Daher wird dieser Frontabschnitt auch nur von wenigen Einheiten der Belgier gehalten – sieben Bataillone „Chasseurs Ardennais“ – auf die sich die Franzosen verlassen. Hinter der Grenze in Frankreich steht General Huntzigers 2. französische Armee, weiter nördlich – bereits in der Tiefebene – Coraps schlecht ausgerüstete 9. französische Armee. Nach Süden schließt sich an die Ardennen die „Maginot“-Befestigungslinie an. Sie hat hier ihr nördliches Ende erreicht.

Inzwischen wird der von Hitler sehnsüchtig erwartete Angriff ein um’s andere Mal verschoben. Das schlechte Herbstwetter spielt nicht mit – fatal für die geplanten Luftlandeaktionen und Luftoperationen. Diese erfordern eine gute Sicht. Hitler ahnt, dass seine Gegner von Woche zu Woche stärker werden. Alleine die Flugzeugproduktion beider Feindnationen läuft auf Hochtouren. Er drängt. Schließlich verspricht der Wetterbericht eine Wetterbesserung. Der Angriff wird auf den 17. Januar 1940 festgelegt. In der herkömmlichen, altbekannten Variante – ein Stoß mit allen Kräften durch das eigentlich neutrale Belgien unter Beachtung der holländischen Neutralität weiter nördlich. Genau darauf sind die Westalliierten bestens vorbereitet. Man würde den Deutschen einen gebührenden Empfang bereiten!

Am 10. Januar 1940 findet in Köln eine Stabsbesprechung statt, zu welcher Major Hellmuth Reinberger als Fallschirmjäger-Offizier dazubeordert ist. Der Major beschließt, eine Feier unter Freunden am Vorabend vorzeitig gegen 21.00 Uhr zu verlassen, um den Nachtzug nach Köln nicht zu verpassen. Der Fliegerhorstkommandant – Major Erich Hönmanns – überredet ihn jedoch, den netten Abend doch nicht so angebrochen abzubrechen. Schließlich fehlen ihm noch ein paar Pflicht-Flugstunden zu seinem Militärflugschein. Er bietet Reinberger an, ihn am nächsten Morgen hinzufliegen.

Gesagt – Getan. Daran, dass ein Mitführen geheimer Unterlagen in einem Flugzeug vom Oberbefehlshaber der deutschen Luftwaffe, Hermann Göring, aus Sicherheitsgründen strikt untersagt worden war, hatte man in der feuchtfröhlichen Laune gestern abend gar nicht gedacht. Reinberger wird es Angst und Bange, als eine Nebelwand aufzieht. Der starke Ostwind schiebt die Wolken zusammen. Seine gelbe Aktentasche enthält einen Teil des geplanten Überfalls in detaillierten Plänen. Nicht auszudenken, wenn die in feindliche Hände geraten sollten! „Wo sind wir jetzt?“

Der Pilot der deutschen Messerschmitt Bf 108 „Taifun“, ein unbewaffnetes Kurierflugzeug, weiß es nicht. Hönmanns hat sich hoffnungslos „verfranzt“. Endlich sieht er unter sich durch eine Wolkenlücke einen Fluss. Aber der Rhein kann das nicht sein! Wo in aller Welt sind wir?

Es kommt, wie es kommen muss. Prompt vereisen die Tragflächen und der Vergaser. Der Motor setzt aus. Hönmanns muss runter – eine andere Wahl hat er nicht. Der Pilot sieht im letzten Moment ein kleines Feld. Das Flugzeug verfehlt nur knapp eine Hochspannungsleitung und kracht in einige Pappeln, die seine Tragflächenspitzen abtrennen, rumpelt auf den Acker und schliddert endlich gegen eine Hecke. Dann steht die Maschine.

Ein alter Bauer läuft auf das Wrack zu, aus dem die beiden deutschen Offiziere leicht verschrammt herausklettern. Reinberger fragt sofort, wo sie seien. Der Bauer versteht nicht, dann schließlich gibt er Antwort. Auf Französisch! „In Mechelen, Belgien!“

Reinberger steht wie vom Blitz getroffen da. Die Papiere! Um Gottes Willen! „Hönmanns, haben sie Streichhölzer?“ Doch beide Deutschen sind Nichtraucher! Hönmanns hat keine Zündhölzer.

Der belgische Bauer hilft aus – widerstrebend gibt er dem Deutschen sein Feuerzeug. Der Wind ist so stark. Reinberger gibt sein Bestes. Endlich fangen die Papiere an zu brennen. In diesem Moment tauchen belgische Gendarmen auf. Der Polizeihauptmann erfasst sofort die Lage und stellt die nur leicht angesengten Papiere sicher. Dann werden die beiden Deutschen in die Hauptwache abgeführt.

Dort brennt in einem Ofen ein wärmendes Feuer. Reinberger sieht seine Chance, reißt die Pläne an sich und schiebt sie blitzartig in den Ofen. Doch so schnell, wie die Papiere drinnen sind, sind sie auch wieder draußen. Der belgische Hauptmann holt sie sofort wieder aus der Glut heraus – auch Verbrennungen an den Händen hindern ihn nicht daran. Genauso wenig hindert ihn Reinberger daran, der nun versucht, sich der Pistole des Belgiers zu bemächtigen. Dem wird es jetzt zu bunt! Er stößt den Deutschen wieder auf den Stuhl zurück und verbittet sich jede weitere Bewegung! Reinberger fleht ihn an, er wolle die Waffe, um sich zu erschießen! In Deutschland werde er ohnehin an die Wand gestellt!

Genau das befielt Hitler, als er von dem Vorfall erfährt! Er schäumt vor Wut. Auch Göring ist außer sich. Wie soll man nun 60 Divisionen stoppen, die bereits in ihre Aufmarschräume dirigiert werden? Wie hatte das passieren können? Ob den Belgiern die Pläne wohl in die Hände gefallen sind?

Sie sind es! Angekohlt, aber lesbar! Ob das eine Finte ist? Aber die Papiere erscheinen glaubwürdig, das Verhalten des deutschen Offiziers dürfte auch kaum ein Schauspiel gewesen sein. Dessen Verzweiflung war offensichtlich echt gewesen.

Der deutsche Angriffsplan muss nun völlig abgeändert werden – sicherheitshalber. Aber welche Alternative gibt es denn? Es gibt eine! Hitler kennt sie zu diesem Zeitpunkt nicht, wohl jedoch Hitlers Chefadjutant Oberst Rudolf Schmundt, dem Erich von Manstein kurz vor seiner Versetzung in die „Etappe“ nach Stettin die Grundzüge seiner Ideen erklärt hatte. Schmundt erinnert sich nun daran und informiert Hitler. Der bittet prompt Generalleutnant von Manstein zu sich. Es ist der 17. Februar 1940. Hitler ist begeistert. Auf genau so einen kühnen Plan hatte er die ganze Zeit gewartet! Das ist es!

Es wird nicht der einzige Zufall gewesen sein (so es denn Zufälle gibt ...), der den Krieg entscheidend beeinflusst hat. Denn nach dem „alten“ Plan wäre eine langwierige Materialschlacht mit festgefahrenen Frontlinien wahrscheinlicher gewesen als jedes andere Ergebnis. Mit ungewissem Ausgang.

Nun wird auch Holland in den deutschen Angriff einbezogen. Und der möglicherweise in alliierte Hände geratene alte Angriffsplan genutzt. Sollen die den doch ruhig glauben. Umso besser nun ...

Der Aufmarsch der Wehrmacht in ihre neue Ausgangsposition beginnt. 136 deutschen Divisionen stehen 137 alliierte Divisionen gegenüber. Es sind neun holländische, 22 belgische, zwölf britische (fast die vollständige in England stationierte Streitmacht des britischen Imperiums steht nun auf dem Kontinent) und 94 französische. Doch von diesen wird ein Viertel in einem gigantischen Fuchsbau unter der Erde gebunden.

Die Alliierten haben 3.000 Panzer aufzubieten (ohne die etwa 300 belgischen und holländischen Kampfwagen mitzuzählen). Es sind teilweise schwerbewaffnete Kolosse, deren Kanonen den deutschen Kampffahrzeugen je nach Typ oft weit überlegen sind. Der französische Renault „Char de Bataille B1“ beispielsweise hat eine 4,7-cm-Kanone im Drehturm und ein mächtiges nach vorne feuerndes, aber nur minimal schwenkbares 7,5-cm-Geschütz. Mit 6 cm Dicke besitzt der Koloss eine derart starke Panzerung, dass das deutsche Standard-Panzerabwehrgeschütz, die 3,7-cm-Pak, seine Außenhaut nicht durchschlagen kann. Selbst der zweitstärkste Panzer der Deutschen, der Panzer III mit einer 3-cm-Panzerung, ist nur mit einer Kanone dieses Kalibers 3,7 cm bewaffnet, ähnlich wie die tschechischen Modelle in deutschen Diensten, deren Panzerung 2,5 cm beträgt. Bis auf den 3 cm dick geschützten Panzer IV mit seiner 7,5-cm-Kanone ist kein deutscher Panzer mit einer Waffe ausgerüstet, die dem Char B1 gefährlich wäre. Der allerdings hat einen sehr kleinen Tank und ist deshalb auf höchst verwundbare Tankfahrzeuge angewiesen. Und auf eine gute Organisation – die in Hinsicht auf die Anforderungen schneller Truppenbewegungen nicht gegeben ist. Außerdem muss der französische Panzerkommandant gleichzeitig auch noch die Funktion des Lade- und des Richtschützen übernehmen, mit drastischen Auswirkungen auf Übersicht und Feuergeschwindigkeit. Der Char B1 wird vom britischen Mark II „Matilda“ an Panzerung sogar noch überboten – dessen Schutzwand ist 8 cm dick. Er besitzt eine 4-cm-Kanone. Die anderen Kampffahrzeuge der Alliierten variieren in ihrer Panzerung von 1,4 bis 5,5 cm und einer Feuerkraft im Kaliber 3,7–4,7 cm. Nicht alle sind mit Funkgeräten ausgestattet. Der mit 900 Exemplaren häufigste französische Panzer – der Renault R 35 – führt in der Regel keines mit sich! Wenn ausnahmsweise doch, dann bedient auch das der Kommandant. Gegen Infanterie besitzen die meisten Panzer aller Seiten zusätzlich zu den Kanonen Maschinengewehre an Bord, welche parallel zur Hauptwaffe gerichtet oder in separaten Luken schwenkbar sind.

Die deutschen Panzer sind mit Ausnahme des Panzer IV an Bewaffnung unterlegen, dafür aber mobiler und wesentlich moderner. Hier kann sich der Kommandant auf die umsichtige Führung seines Kampfwagens konzentrieren – die Zielerfassung, das Richten, Feuern und Nachladen des Geschützes erledigen gemäß seinem Kommando seine Leute. Ganz erheblich schneller, als das bei den Franzosen mit Ein-Mann-Turm der Fall ist. 2.580 Panzer kann die Wehrmacht aufbieten – deutlich weniger als die Gegenseite. Zudem sind von diesen nur 349 vom Typ des Panzers III und 278 in der kampfstärksten Version: ein Panzer IV. Die meisten Kampffahrzeuge sind leichte Panzer I (ein Aufklärungspanzer mit nur einem MG) und II (der Kampfwagen besitzt eine 2-cm-Kanone) oder tschechische Panzer 35(t) und 38(t). Doch die Panzertruppen sind hervorragend organisiert. Während die Infanterie auf beiden Seiten immer noch zu Fuß marschiert, allenfalls teilmotorisiert ist und in der französischen Armee den reinen Panzerbataillonen generell nur hinterherlaufen kann, fahren deutsche Panzergrenadiere in gepanzerten Halbkettenfahrzeugen mit den Panzern mit. Reine Panzereinheiten, die ganz für sich alleine operieren, können von mutigen Infanteriesoldaten gestoppt werden – die Finnen hatten es mit ihren Molotow-Cocktails vorgemacht. Im Westen besitzt man wirksamere Mittel, Minen, gebündelte Handgranaten, leichte Pak-Geschütze. Sind jedoch Panzergrenadiere mit Maschinengewehren bei den Panzern, wird es unmöglich, sich das eingeschränkte Sichtfeld der Kampfwagen-Besatzung zu Nutze zu machen, sich in Deckung überrollen zu lassen und sich den Panzer dann von hinten vorzunehmen. Ein solches Vorgehen bricht im MG-Feuer der Panzergrenadiere zusammen.

Das britische Expeditionskorps BEF (British Expedition Force) ist in weit höherem Maße beweglich und besteht aus zehn voll motorisierten Infanteriedivisionen und einer Panzerdivision (anfangs Panzerbrigade). Eine weitere britische Division ist zur Deckung der Maginot-Linie abkommandiert.

In der Luft sind die Gegner der holländischen, belgischen, französischen und britischen Flieger in den deutschen Luftflotten 2 und 3 zusammengefasst. Es sind 1.120 Bomber der Typen Do 17, He 111 und Ju 88, 342 Sturzkampfbomber des Typs Ju 87, 42 Schlachtflugzeuge (Hs 123) und 1.016 moderne Jagdflugzeuge – Me 109. Hinzu kommen noch 248 „Zerstörer“ des Typs Me 110, sodass die Luftwaffe 1.868 Kampfmaschinen in die Schlacht wirft. Zählt man Aufklärer und Transporter mit, so addiert sich die Stärke auf 3.534 Flugzeuge, denen die Alliierten ihrerseits mit 2.513 Flugzeugen aller Art Paroli bieten. Es könnten mehr sein, hätten die Franzosen alle ihre Reserven mobilisiert. Doch in Frankreich rechnet man mit einem langen Krieg.

Am 8. Mai 1940 entbrennen heftige Debatten im französischen Parlament. Maurice Gamelin, Generalsstabschef der französischen Streitkräfte, gerät ins Kreuzfeuer der Kritik. Warum hatte man – von ein paar zaghaften Einfällen ins Saarland abgesehen – die Chance eines Angriffs auf Deutschland nicht genutzt, als zwei Drittel der deutschen Wehrmacht in Polen gebunden waren? Wie konnte es zu dem sich abzuzeichnen beginnenden Debakel in Norwegen kommen? Dieselben Fragen stellt man sich im britischen Unterhaus. Obwohl nicht wegzudiskutieren ist, dass die eigentlich überlegene britische Flotte die deutsche Besetzung Norwegens nicht hatte verhindern können und teilweise von der deutschen Kriegsmarine vorgeführt worden war, gibt es zu ihrem Oberkommandierenden, dem ersten Lord der Admiralität, keine Alternative. Der britische Premierminister Neville Chamberlain hatte Winston Churchill bei Kriegsausbruch auf diesen Posten berufen. Nun muss er zusehen, wie der als Dickschädel bekannte Politiker seinen Posten einnimmt – trotz des „Versagens“ der von ihm befehligten Royal Navy. Chamberlain, dessen Beschwichtigungspolitik Hitler offensichtlich immer nur noch weiter ermuntert hatte, wird nach einem Misstrauensvotum gestürzt. Und Churchill, dessen hartnäckige Warnungen vor Deutschlands Aggressivität sich nun bestätigt sehen, wird am 10. Mai 1940 sein Nachfolger. Er habe nichts zu bieten als Blut, Mühen, Tränen und Schweiß („blood, toil, tears and sweat“), verkündet er dem Inselreich vor dem „House of Commons“ (Parlament) drei Tage später. Und übernimmt erneut auch das Amt der Kriegsministers, das er schon vor Jahren bekleidet hatte.

Der „drôle de guerre“ hat ein Ende. Aus dem Ulk wird bitterer Ernst.

Der französische Nachrichtendienst kennt den Zeitpunkt. Auch die Holländer sind diesbezüglich im Bilde. Es ändert nichts. Die Schlüsselpositionen für einen erfolgreichen Einmarsch der deutschen Truppen in der Tiefebene von Holland und Belgien sind Brücken und Befestigungsanlagen. Die Holländer besitzen entlang der Flüsse IJssel und Maas Bunkeranlagen, die durch Überflutungen zu Verteidigungsbollwerken abgeriegelt sind. Zwei schwer verteidigte Abwehrlinien. Dahinter befindet sich die Grebbe-Peel-Linie – ebenfalls befestigt. An allen drei Stellungen ist schwer vorbeizukommen – außer im Süden. Stößt man hier durch, kann man anschließend nach Norden schwenken und zumindest zwei dieser drei Befestigungswerke umgehen. Allerdings muss man dann über die Flüsse Maas, Waal und Lek übersetzen. Deren Brücken müssen also unzerstört bleiben.

Außerdem schließen sich im Süden die belgischen Verteidigungsanlagen an. Eine dieser Befestigungen – die mit Abstand stärkste – ist das Fort Eben Emael. Es ist eine ausgedehnte Festungsanlage mit einem flachen Dach als Abdeckung, auf welchem sich drehbare Panzertürme mit Geschützen und Kasematten befinden. Das Fort kontrolliert fünf Straßen und den Albert-Kanal, es beherrscht die Zugänge am Fluss Maas. Die wichtigen Brücken bei Vroenhoven, Veldwezelt und Kanne können von seinen Geschossen unpassierbar gehalten werden. Es ist ein gewaltiges Untergrundlabyrinth. Starr vor Waffen, die jeden Angreifer am Boden vernichten würden. Je Schicht 600 Mann Besatzung haben 42 Geschütze und unzählige MGs zur Verfügung. Sie können alle Annäherungswinkel auf dem Vorfeld des Forts vernichtend bestreichen.

Deutsche Aufklärungsflüge hatten ergeben, dass die Besatzung teilweise auf dem Oberdeck Fußball spielt. Also ist die Plattform nicht vermint. Es ist der 10. Mai des Jahres 1940. Um 04.30 Uhr starten auf zwei Flugplätzen bei Köln elf deutsche Junkers Ju 52-Transportflugzeuge und fliegen in Richtung Westen. Jeder der dreimotorigen Transporter zieht eine merkwürdige Last hinter sich her. Ein ungewöhnliches Gespann, dessen Idee auf Ernst Udets Überlegungen im Jahr 1933 zurückgeht. Eine höchst geheime Idee.

Die Piloten der in Richtung Grenze dröhnenden Transporter orientieren sich an Leuchtfeuern. Unauffällig, doch wirksam. Bei Aachen-Laurensberg ist die Markierungs-Straße zu Ende. Hier müssen die Maschinen in der Dunkelheit genau 2.600 Meter Höhe erreicht haben.

Dann drehen die Transporter um. Würde man jetzt weiterfliegen, würde im ersten Licht des Tages das Dröhnen der Motoren alle Alarmglocken der Belgier schrillen lassen. Und das gehört nicht zum Plan.

Doch die Anhängelast fliegt weiter. Lautlos, unheimlich, nur der Fahrtwind rauscht. Die Piloten der Lastensegler konzentrieren sich auf ihre Aufgabe. Oft hatte man geübt. Jede Einzelheit hatte man sich eingeprägt. Obwohl die DFS 230 in nur 2.200 Meter Höhe ausgeklinkt worden waren, kompensieren die Flugzeugführer den eigentlich nicht mehr optimalen Gleitwinkel. Dann setzen die Flugzeuge auf. Direkt auf dem Fort. Dieses ist, wie die Sagengestalt Siegfried, nur an einer Stelle wehrlos. Oben!

Wenn die belgische Flak nicht wäre – die den Motorenlärm doch gehört hat. Sie feuert – trifft aber nicht. Immerhin ist inzwischen die Fortbesatzung alarmiert. Etwa 600 Mann sind auf ihren Gefechtsstationen. Die eine Hälfte der vierzehntägig im Wechsel abgelösten Besatzung. Sie starren aus den Beobachtungsschlitzen auf den Boden der Umgebung vor ihnen. Viel ist nicht zu sehen. Fehlalarm?

Es nützt ihnen nichts. Handgranaten fliegen durch die Schießscharten, vorbereitete Sprengladungen werden in die Geschützrohre geschoben. Sekunden später sind sie unbrauchbar – zerrissen in der Explosion der künstlichen Rohrkrepierer. Dann kommt eine Geheimwaffe zum Einsatz – 50-kg-Hafthohlladungen. Diese halbkugeligen Höllenmaschinen werden an die „undurchdringlichen“ Geschützkuppeln angebracht und erzeugen eine konzentrierte Stichflamme, die sich durch 25 cm dicken Panzerstahl schweißt. Die Kuppel bekommt Risse. Wenig später sprengen sich die Deutschen in die Kasematten hinein. Dort verteidigen sich die Belgier. Kein Fehlalarm, „merde!“ Schüsse fallen. Doch die belgischen Soldaten haben keinen Überblick mehr über die Lage. Überall erschüttern Explosionen die Anlage. Fliegen wir alle demnächst in die Luft? Wo zum Teufel kommen die her? Wird gerade der Boden unterminiert? Das kennt man ja aus dem letzten Krieg! Dann jagen die uns bald ins Jenseits!

Der Fort-Kommandant Jottrand befielt nun umliegenden Geschützbatterien, das Feuer auf die Oberfläche der Anlage zu eröffnen. Dies zwingt die deutschen Fallschirmjäger in Deckung. Doch inzwischen haben sie Schutz, denn sie sind – zumindest teilweise – bereits im Fort.

Gleichzeitig stürmen andere Fallschirmjäger die Brücken. Auch sie sind mit Lastenseglern abgesetzt worden. Zwei der drei Brücken fallen in deutsche Hand. Den Belgiern gelingt es lediglich, jene Brücke bei Kanne gerade noch rechtzeitig in die Luft zu jagen.

Über die anderen beiden Übergänge rollen einige Zeit später deutsche Fahrzeuge. Gegen 13.15 Uhr am 11. Mai 1940 gibt die Besatzung des Forts ihren sinnlos gewordenen Widerstand auf. General Kurt Student, Kommandant des Luftlandekorps der Luftwaffe, ist zum Idol geworden.

Doch nicht überall sind die Fallschirmjäger so erfolgreich. Die Holländer hatten den Überfall auf Norwegen analysiert und ihre Flughäfen gesichert. In Valkenburg westlich von Leiden springen am 10. Mai 1940 deutsche Fallschirmjäger aus den noch rollenden, im Handstreich auf dem feindlichen Flugplatz gelandeten Ju 52 in den Tod. Sie sollen die Regierungsgebäude in der holländischen Hauptstadt Den Haag besetzen und möglichst Königin Wilhelmina gefangen nehmen. Bald brennen die Transporter im holländischen Abwehrfeuer. Die zweite Welle muss wieder abdrehen. Hier kann sie nicht runter! Beim Angriff auf den Flugplatz Ypenburg nördlich von Delft werden elf der 13 Ju 52 abgeschossen (insgesamt erwischen holländische Fokker D.XXI-Doppeldecker zusammen mit der Flak 37 der fast wehrlosen deutschen Transportflugzeuge an diesem Tag). Auch hier erkennt die zweite Welle, dass sie am vorgesehenen Ort nicht landen kann. Der Platz ist übersät mit brennenden deutschen Wracks. Also versucht man es in der Umgebung – auf Äckern, in den Dünen. Die kleine Kampftruppe ist nun völlig zersplittert. Erst am Abend gelingt es, Funkkontakt mit der Luftflotte 2 aufzunehmen. Graf Sponeck sammelt inzwischen seine Leute. Die Truppe wird gegen Rotterdam dirigiert – das Ziel Den Haag ist vorerst illusorisch. Inzwischen haben andere Fallschirmjägereinheiten allerdings die wichtigsten Brücken im Handstreich erobert und ihre Sprengung vereitelt. Trotz schwerer Gegenangriffe holländischer Truppen halten sie stand. Derweil schalten die deutschen Bomber die holländischen Flugplätze aus, von denen die Fokker-Jäger gestartet waren. Am nächsten Morgen sind noch zwölf niederländische Jagdmaschinen übrig.

Die französischen Flugplatzkommandanten haben ihre Lektion nicht gelernt. Auch nicht ihre Oberkommandierenden – jener exakten Analyse der deutschen Kampftaktik zum Trotz, die von französischen Stabsstellen nach dem deutschen Sieg in Polen für sie erstellt worden war. Ebenso wenig ist die Royal Air Force, deren „Advanced Air Striking Force“ auf französische Flugfelder verteilt ist, auf die Schläge der deutschen Luftwaffe vorbereitet. Man hätte es besser wissen können ...

Am Morgen des 11. Mai 1940 fliegt Oberleutnant Otto Reimers mit neun Bombern des Typs Do 17 über die Grenze des französischen Territoriums. Das Ziel ist der Flugplatz Vaux, einer von vielen Flugfeldern der Alliierten, welche heute in aller Frühe hohen Besuch erhalten werden. Auf Vaux haben die Briten Bristol „Blenheim“-Bomber stationiert. Das Beste, was sie an Kampflugzeugen zur Abwehr der Deutschen in Frankreich zur Verfügung haben. Reimers leitet seine Staffel im Tiefflug zum Ziel, um so spät wie möglich erkannt zu werden. Sie müssen über dem Flugplatz sein, bevor sie dort gemeldet sind!

Da ist das Flugfeld! Reimers fasst es nicht! So ungeschickt kann man doch nicht sein? Da unten stehen die Blenheims – die ganze 114 Squadron der britischen Luftwaffe: ein Bomber neben dem anderen, aufgestellt wie zu einer Parade!

Das ist eine Einladung der besonderen Art. Sekunden später erschüttern die Reihenwürfe der deutschen Dornier-Bomber das französisch-britische Flugfeld. Es kracht in kurzen Abständen hintereinander die gesamte Linie der zweimotorigen Bristol-Bomber entlang. Feuer, Rauch und Explosionen hüllen die abgestellten Maschinen ein. Als sich der Rauch und Qualm verzieht, ist die 114 Squadron bis auf den letzten Blenheim-Bomber vernichtet. 30 Kampfflugzeuge sind glühende Schrotthaufen!

Zwar sind die Attacken nicht überall so erfolgreich, doch am Abend besitzt alleine die Advanced Air Striking Force 63 Bomber weniger – von 135, die am Morgen noch zur Verfügung gestanden hatten.

Inzwischen marschieren die deutschen Truppen in Holland und Belgien ein. Die Fallschirmjäger an den Brücken warten sehnlich auf Entsatz – eine Brücke nach der anderen wird von den vorrückenden Truppen der Heeresgruppe B unter Generaloberst Fedor von Bock erreicht und gesichert. Die Holländer kämpfen erbittert – doch es fehlt ihnen nach jahrelanger Neutralität die Erfahrung. Nicht der Mut! Doch den hat die andere Seite nicht minder! Allerdings mangelt es der Heeresgruppe B an Panzerdivisionen. Sie hat nur eine zur Verfügung. Alle anderen wurden der Heeresgruppe A ausgeliehen.

Die Franzosen und Briten reagieren nun nach Plan. Sie hatten es doch vorausgesehen – die Aufmarschpapiere aus Reinbergers Dokumenten hatten es ja klar dargelegt. Offenbar sind die Pläne echt! Die Deutschen kommen genau da, wo man es annehmen darf. Also wird man die Auffanglinien beziehen – an den Flüssen Dyle und Maas. Dort wird man bei weitem nicht so gut ausgebaute Verteidigungsstellungen vorfinden wie jene, die man in monatelanger Arbeit an Frankreichs Grenzen hatte ausheben und befestigen können. Doch das merken die englischen und französischen Kommandeure erst, als sie an den Flüssen angekommen sind. Hier treffen sie auf die Masse der belgischen Armee, die sich ebenfalls hier verschanzen will. Das Gros der beweglichen alliierten Truppen hat sich an der Maas und Dyle versammelt. Dort wird man die Deutschen empfangen. Wie erwartet.

Wie von den Deutschen erwartet!

Deren Heersgruppe A prescht derweil an einer Stelle vor, an der es nicht erwartet wird. Sie untersteht Generaloberst Gerd von Rundstedt. Fünf Panzerdivisionen und drei motorisierte Divisionen rollen los. 1.612 Panzer bahnen sich ihren Weg durch ein für sie „völlig unpassierbares“ Gelände.

Die Ardennen!

Die belgischen „Chasseurs Ardennais“ werden überrollt. General Heinz Guderian befehligt das deutsche XIX. Panzerkorps. An der Nahtstelle zwischen der französischen 2. und 9. Armee trifft seine Vorhut auf Teile der 2. leichten französischen Kavalleriedivision. Arlon wird erobert. Am 11. Mai 1940 entdecken französische Potez 63-Aufklärer das Ausmaß des Aufmarsches, einige von ihnen entkommen den Schwärmen von Me 109, die den Vorstoß der deutschen Truppen mit einem dichten Luftschirm absichern. Die Besatzungen der Aufklärer melden die Hiobsbotschaft entsetzt den französischen Nachrichtenoffizieren. Die sich weigern, diese Meldung zu glauben ...

Am 12. Mai 1940 steht die 7. deutsche Panzerdivision bei Dinant am Ufer der Maas. Die Ardennen sind erfolgreich durchstoßen – allen schmalen kleinen gewundenen Pass-Sträßchen und engen Ortsdurchfahrten zum Trotz. Und dies innerhalb von unglaublichen zwei Tagen. Der Kommandeur – ein deutscher Panzergeneral – ist noch recht unbekannt. Ein Schwabe namens Erwin Rommel ...

Die 1. und 10. Panzerdivision erobern gemeinsam mit dem Regiment „Großdeutschland“ die symbolträchtige Stadt Sedan. In vier Stunden ist es vollbracht. Die Deutschen bringen Pioniere nach vorne. Jetzt erkennen auch die Franzosen das Undenkbare! Nervosität setzt ein. General Joseph Georges de la Fert im Hauptquartier der französischen Nordostfront setzt die 3. französische Panzerdivision, die 3. motorisierte und die 14. Infanteriedivision in Marsch. Die Stukas warten schon auf sie ...

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Fairey „Battle“.

Einige der stark gepanzerten französischen Panzermodelle sind gegen die Bomben der deutschen Sturzkampfbomber so lange immun, als sie nicht durch Volltreffer zerfetzt werden. Bis die Stukas eigens für sie entwickelte Sprengkörper einsetzen. Die zerstören bei Nahtreffern zumindest die Ketten.

Kradschützen der 7. Panzerdivision gelingt es bei Houx, über die Maas zu kommen. Doch dort gibt es Bunker, deren Besatzungen verteidigen jeden Meter. Ein Übersetzen über die Maas mit Hilfe von Booten scheitert an der französischen Gegenwehr. Die Bunker müssen aus dem Wege geräumt werden! Am 13. Mai 1940 sind deutsche Panzer IV zur Stelle. Eine Stellung nach der anderen wird im Feuer der 7,5-cm-Granaten zum Schweigen gebracht. Danach bauen Pioniere einen Fährbetrieb auf. Wenig später greifen die Franzosen mit Panzern an. Der Angriff bricht im deutschen Abwehrfeuer zusammen.

Bei Dinant haben deutsche Pioniere inzwischen unter schwerem Beschuss eine Brücke errichtet, welche Panzer tragen kann. Sofort werden einige an das andere Ufer gebracht – im Feuer der Franzosen. Die Panzer des XIX. Armeekorps des Generals Heinz Guderian werden zusammengezogen. Sperrfeuer französischer Artillerie haut dazwischen. Noch schießen die französischen Soldaten in ihren Uferstellungen aus allen Rohren. Es ist 16.00 Uhr, als ein infernalisches Kreischen die Luft erfüllt. Dann erschüttern ohrenbetäubende Explosionen den Boden. Als die 200 Stukas abziehen, schwillt der Lärm von weiteren Flugzeugmotoren an. 310 Mittelstreckenbomber decken die andere Seite mit einem Bombenteppich zu. Die deutschen Soldaten am diesseitigen Ufer der Maas beobachten das Schauspiel mit schaudernder Faszination. Die französischen Reservisten gegenüber im Zielgebiet des Infernos bleiben größtenteils als Nervenbündel zurück. Sofern sie noch leben. Als die Do 17 abfliegen, setzen sich die deutschen Panzer in Marsch. Am Abend sind Teile der 2. Panzerdivision auf dem anderen Ufer. Am 14. Mai 1940 hat das Gros des XIX. Panzerkorps Guderians das letzte natürliche Hindernis vor dem Atlantik überquert. Zwei Tage später ist Reinhardts XXXXI. deutsches Panzerkorps über dem Fluss. Es überquert die Maas bei Monthermé. Hoths XV. deutsches Panzerkorps schafft es zwischen Dinant und Namur. Die Franzosen starten verzweifelte Gegenstöße. Zwischen Chéhery und Bulson ist das Schlachtfeld von brennenden Panzern übersät.

Der Ernst der Lage ist nun nicht mehr zu übersehen. Die Alliierten setzen ihre Luftstreitkräfte ein – alles, was noch da ist. Die Übergänge über die Maas müssen zerstört werden, koste es, was es wolle!

14. Mai 1940: Den ersten Einsatz fliegen zehn britische leichte Bomber vom Typ Fairey „Battle“. Der Flugzeugtyp ist – ebenso wie die deutsche Ju 87 – bereits bei Kriegsbeginn veraltet, er ist jedoch bei weitem nicht so robust konstruiert. Die zehn Battle schaffen es sogar, dem dichten deutschen Jägerschirm über der Maas zu entgehen. Auch die inzwischen hier massierte deutsche Flak kann sie nicht vom Angriff auf die Ponton-Brücken abhalten. Dennoch verfehlen die britischen Bomben ihr Ziel.

Als Nächstes werfen die Franzosen alles in die Schlacht, was sie haben – vom modernsten Bombertyp LeO 451 bis zu den hoffnungslos veralteten Amiot 143. Dieses Mal ist die Luftwaffe auf Draht. Die deutschen Me 109 der Jagdgeschwader 2 und 53 vernichten beispielsweise alle Amiots einer Staffel und schießen 47 der kampfstarken Lioré-et-Olivier Bomber vom Himmel. Es ist ein Massaker. Fast die Hälfte der eingesetzten Bomber kommt nicht mehr zurück.

Den nächsten Versuch unternimmt wieder die Royal Air Force. Nun ist es bereits Nachmittag. 63 Fairey „Battle“ und acht Bristol „Blenheim“ stürzen sich auf die deutschen Behelfsübergänge, nun gedeckt von etwa 250 alliierten Jagdflugzeugen. Es sind britische Hurricanes und circa 200 französische Jäger aller Typen. Während die Jäger verzweifelt versuchen, die deutschen Me 109 abzuwehren, kämpfen sich inzwischen mehrere Staffeln von Me 110-Zerstörern durch den alliierten Jagdschutz und nehmen sich die im Tiefangriff gegen die Brücken anfliegenden Bomber vor. Die furchterregende Bugbewaffnung der zweimotorigen deutschen Jagdflugzeuge verfehlt ihre Wirkung nicht. 40 der eingesetzten 71 Bomber werden abgeschossen, eine britische Squadron büßt von elf Maschinen zehn ein.

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Bristol „Blenheim“.

Am Abend versuchen es die Engländer noch einmal. Die letzten 28 Blenheim-Bomber starten, um den Erfolg zu erzwingen. Sieben von ihnen säumen danach die mit Flugzeugtrümmern längst übersäten Ufer der Maas. Das britische Bomber Command besitzt in Frankreich keine einzige einsatzfähige Einheit mehr. Auch die französische Bomberflotte ist zur Bedeutungslosigkeit dezimiert. Doch die deutschen Brücken sind intakt. Und über sie ergießt sich nun eine Flut in Richtung Norden. Unaufhaltsam!

Alles in allem hatten 814 deutsche Jagdflugzeuge und unzählige Flak-Batterien den britischen und französischen Luftstreitkräften eine vernichtende Niederlage zugefügt. 201 alliierte Flugzeuge fehlen nun am Himmel, davon zerschellten 112 im Feuer der deutschen Flugabwehrgeschütze (Flak). Der Rest geht auf das Konto der aggressiven Luftwaffen-Jäger.

In Holland ergeht es den britischen Piloten kaum besser. Obwohl sie Unterstützung aus dem englischen Mutterland erhalten, welches ganze Fighter-Squadrons von ihren Basen in Südengland aus über den Kanal und zurück fliegen lässt, um den hart bedrängten Holländern zu Hilfe zu kommen – und den eigenen Luftstreitkräften auf dem Kontinent. Nun wirken sich die wesentlich moderneren deutschen Luftkampftechniken in aller Deutlichkeit aus.

Während sich die Messerschmitt Bf 109 E-Piloten im überlegenen Selbstbewusstsein ihrer Kampferfahrung in flexiblen Zweier-Rotten auf ihre britischen Gegner stürzen, fühlen sich die britischen Jagdflieger in fast hilflosem Gehorsam an die ihnen eingetrichterten Regeln des Verbandsfluges gebunden. Aufgeteilt in „Vics“, auch „Section“ genannt – Dreierketten – fliegen die beiden Flügelmänner des „Section-Leaders“ (Kettenführers) ihrem Chef stur hinterher. Auch dann, wenn sie angegriffen werden – in der Erwartung, dass sie ihr Führungspilot schon aus der Schusslinie manövrieren werde. Ausweichmanöver in vollem Formationsflug! Ein aussichtsloses Unterfangen und ein tödlicher Irrtum. Die britischen Piloten sind so darauf konzentriert, sich nicht gegenseitig zu rammen und beieinander zu bleiben – immerhin fliegen sie in kaum zehn Meter Abstand zueinander –, dass zu Abwehrmaßnahmen kein Spielraum mehr übrig ist. Bis die Formation zerbricht – doch dann ist jeder auf sich allein gestellt!

Am 12. Mai 1940 erzielt ein deutscher Hauptmann seine ersten Abschüsse als Jagdflieger – es ist der Adjutant des Geschwaderstabes im Jagdgeschwader 27. Er berichtet (in Präsens transferiert):

„Von den Engländern bekommen wir noch nicht viel zu sehen. Nur selten begegnet man einzelnen Blenheim-Bombern. Die Belgier fliegen in der Hauptsache veraltete Hurricanes, mit denen auch erfahrenere Flieger als sie nicht viel gegen unsere neuen Me 109 E hätten ausrichten können. Wir sind ihnen an Geschwindigkeit, Steigfähigkeit, Bewaffnung und auch vor allem an fliegerischer Erfahrung und Ausbildung weit überlegen.“

Adolf Galland täuscht sich! Seine Gegner sind nicht belgische Piloten, sondern britische Jagdflieger der Royal Air Force.

„Es ist daher durchaus keine Heldentat, als mein Rottenflieger und ich uns etwa zehn Kilometer westlich von Lüttich aus einer Höhe von rund 3.600 Meter auf eine Staffel von acht belgischen Hurricanes stürzen, die 1.000 Meter unter uns vorbeiziehen. Was zu tun ist, hatten wir unzählige Mal geübt. Die Hurricanes haben uns noch nicht bemerkt. Ich verspüre weder Aufregung noch Jagdfieber. ‚Wehr Dich doch!‘ – denke ich, als ich einen von den acht im Visier habe und ihm immer näher auf den Pelz rücke, ohne dass er etwas davon ahnt. ‚Eigentlich müsste man ihm ein Zeichen geben!‘ Aber das wäre wohl noch dümmer gewesen als meine merkwürdigen Gedanken in diesem Augenblick.

So gebe ich meinen ersten Feuerstoß aus einer Entfernung ab, aus der ich auf Grund der Lage eigentlich noch nicht hätte schießen dürfen. Die Garbe liegt im Ziel. Der arme Teufel hat endlich gemerkt, worum es geht. Er macht eine nicht sonderlich geschickte Abwehrbewegung, bei der er auch noch von dem Feuer meines Begleiters gefasst wird. Die anderen sieben Hurricanes treffen keine Anstalten, ihrem bedrängten Kameraden zu Hilfe zu kommen, sondern zerstieben in alle Winde. Nach einem weiteren Angriff trudelt mein Gegner steuerlos in Spiralen ab. Flächenteile fliegen davon. Hier ist jeder weitere Schuss Munitionsverschwendung.

Ich nehme mir sofort eine andere der zersprengten Hurricanes vor. Sie versucht, im Sturz zu entkommen, doch ich sitze bald in einer Entfernung von etwa 100 Metern hinter ihr. Über die Fläche geht der Belgier in ein Wolkenloch. Aber ich verliere ihn nicht und greife noch mal aus nächster Entfernung an. Er bäumt sich kurz auf und stürzt dann aus einer Höhe von nur 500 Metern fast senkrecht zu Boden.“

Die beiden besiegten britischen Jagdflieger sind Sergeant Frank ‚Dinky’ Howell und Flying Officer Jack Campbell. Campbell kommt bei diesem Abschuss ums Leben, Howell steigt mit dem Fallschirm aus. Er kommt davon!

„Am Nachmittag des gleichen Tages schieße ich bei einem Patrouillenflug aus einem Verbund von fünf Hurricanes in der Nähe von Tirlemont meinen dritten Gegner ab. Das geht alles mit der größten Selbstverständlichkeit vor sich. Nichts Besonderes ist dabei. Ich hatte keinen Rausch empfunden und bin über meinen Erfolg nicht einmal sonderlich glücklich. Das würde erst viel später kommen, als wir es mit härteren Gegnern zu tun bekommen sollten, als jeder Luftkampf die Frage ‚Du oder ich‘ unerbittlich zu entscheiden haben würde. An diesem Tage habe ich beinahe so etwas wie ein schlechtes Gewissen. Und die Glückwünsche der Vorgesetzten und Kameraden schmecken mir nicht recht. Ich hatte Glück gehabt, Glück und eine vorzügliche Waffe. Beides braucht auch der fähigste Jäger zum Erfolg.“

Das gilt für beide Seiten, auch für Flight Lieutenant ‚Johnny’ Walker am Tag zuvor. Fünf britische Hurricanes der 1 Squadron RAF starten am Abend des 11. Mai 1940 von ihrer Basis Berry-au-Bac, um einen deutschen Luftangriff abzuwehren. Die deutschen Maschinen nähern sich angeblich der Gegend um Reims. Es sind immerhin etwa 30 Dornier Do 17 Z der III. Gruppe des KG 76, gedeckt von 15 zweimotorigen Messerschmitt Bf 110 C der I. Gruppe des Zerstörergeschwaders 26 (ZG 26).

Walker als „Flight Commander“ weiß, dass seine kleine Formation hoffnungslos in der Minderzahl ist. Doch was hilft diese Erkenntnis? Die einzige Chance, dies einigermaßen auszugleichen, ist das Überraschungsmoment. Also manövriert der Brite seine Streitmacht umsichtig in eine Angriffsposition hinter und über den deutschen Me 110-Zerstörern. Die allerdings einen Heckschützen haben, welcher genau nach hinten oben die Augen offen hält. Lange werden sie nicht unentdeckt bleiben können, das weiß Walker. Daher zögert er den Angriffsbefehl nicht allzu lange hinaus. „Get ‘em!“ Attacke!

Paul Richey hört das Kommando per Funk und stürzt sich befehlsgemäß auf zwei der deutschen Jagdflugzeuge, die hintereinander in Linie fliegen. Die von hinten angegriffenen deutschen Jäger brechen sofort scharf nach links aus, doch die Hurricane mit ihrem wesentlich engeren Kurvenradius hat nicht die geringste Mühe, noch schärfer nach links abzudrehen. Richey kommt auf der Innenseite des Wendekreises der deutschen Zerstörer daher schnell in Schussposition so, dass er den nötigen Vorhaltewinkel herausfliegen kann. Wenn die Hurricane irgendetwas besser kann als die zweimotorigen Deutschen, dann kurven!

Aus nächster Nähe feuert Richey aus allen acht Maschinengewehren. Der britische Jagdflieger ist fasziniert und erschrocken zugleich über die Wirkung seines Feuers. Teile brechen aus dem deutschen Jagdflugzeug, die Verkleidung eines Motors fliegt der Hurricane entgegen. Auch die Plexiglaskanzel zersplittert. „Mein Gott, wie grausig!“ Richey ist schockiert über die Wirklichkeit des Krieges. Die Messerschmitt raucht, brennt, trudelt ab. Dann plötzlich reißt das Heck ab. Endlich öffnet sich ein Fallschirm. Einer nur – doch immerhin. Richey ist fast erleichtert. Gut!

Richey sieht sich um – und erblickt eine Luftschlacht. Vier weitere Me 110 stürzen gerade ab, eine ohne Heck, eine weitere in Abwärtsspiralen, die dritte senkrecht wie ein Stein in Flammen und die vierte brennend mit einer kleinen, aus allen Rohren feuernden Hurricane an ihrem Heck ...

Die deutschen Jäger scheinen ordentlich in Schwierigkeiten zu sein. Doch das ist kein Grund, unvorsichtig zu werden! Richey sucht den Himmel ab. Aha! Dort versuchen sich drei dieser gerissenen Gauner nach oben abzusetzen, um aus der Überhöhung ihren beliebten Blitzangriff fliegen zu können. Die werden bald lästig werden, davon ist auszugehen!

Der Hurricane-Pilot ist entschlossen, den Brüdern da die Tour zu vermasseln, und steigt ihnen mit vollem Ladedruck hinterher. Im Steigen allerdings sind die Me 110 besser! Die Deutschen kippen nun nach rechts ab und verspielen damit ihren Vorsprung – Richey kommt dadurch an sie heran. Allerdings fängt die Sache nun an, ungemütlich zu werden, denn ein erneuter Blick nach hinten – sicherheitshalber – lässt drei weitere zweimotorige Silhouetten erkennen, die nun hinter ihm her sind. Hm, so habe ich mir das eigentlich nicht vorgestellt!

Der Brite konzentriert sich nun nach vorne – der hinterste der drei oberen Zerstörer ist auf Schussweite vor ihm. Nach ein paar Feuerstößen fängt das deutsche Jagdflugzeug Feuer und geht in einen Sturzflug über. Richey kippt nun ab und jagt frontal auf die Dreierformation zu, die ihn von unten angehen wollte. Eine Salve auf deren Vordermann – dann ist Richey an den dreien vorbei.

Doch jetzt sind ihm die übrigen beiden von oben auf den Fersen! Minuten später findet sich Richeys Hurricane inmitten eines Hexenkessels aus kreisenden Messerschmitt-Zerstörern. Denen im Sturzflug entkommen zu wollen, ist in einer Hurricane Selbstmord – das weiß Richey. Also bezähmt er seine Instinkte, die ihm genau das eingeben: um Himmels Willen jetzt nichts wie weg hier! Aber davonfliegen kann er den fünf Bluthunden da nicht. Und die haben mit ihm eine Rechnung offen!

Richey kurvt nun um sein Leben – alles, was er einsetzen kann, ist die überlegene Wendigkeit seiner Hurricane. Die fünf Deutschen lassen ihn nun nicht mehr in Schussposition kommen, immer, wenn er fast am Drücker wäre, flitzen die Leuchtspurgarben von Geschossen von hinten an ihm vorbei. Was nur eine Reaktion zulässt: Kurven, noch enger, noch enger ...! Richey stehen die Schweißperlen auf der Stirn! Lange halte ich das nicht mehr durch, verflucht! Die Deutschen können nicht alle auf einmal angreifen, sonst bestünde die Gefahr, dass sie kollidieren. Dennoch kommen oft Geschosse von hinten, rechts hinten und links hinten auf einmal – das geht nicht mehr ewig gut!

Irgendwann ist es dann soweit. Richey rast auf eine Me 110 zu, die frontal auf ihn zufliegt. Beide Piloten feuern – im letzten Moment drückt der Brite an und huscht gerade noch unter dem Deutschen durch. Eine gewaltige Explosion direkt vor seinem Cockpit raubt Richey für einen Moment das Bewusstsein. Dann ist der britische Pilot wieder aus der Benommenheit erwacht. Doch die Steuerruder der Hurricane gehorchen seinen Händen nicht mehr. Schwarzer Rauch bricht sich aus der Nase seines Jagdflugzeuges, hüllt das Cockpit ein. Hitzewellen und Funken bahnen sich ihren Weg in die Kabine des britischen Flugzeugführers.

So, dann jetzt aber nichts wie raus hier! Richey schiebt die Kabinenhaube nach hinten – Gott sei Dank, sie öffnet sich. Dann wuchtet sich der Brite nach links aus dem brennenden Wrack und lässt sich kopfüber fallen – ins Nichts ...

Er überlebt das Abenteuer mit leichten Verwundungen. Am Folgetag ist er zurück bei seiner Einheit.

Allerdings mag ihm in seiner Wahrnehmung manche Waffenwirkung etwas drastischer vorgekommen sein, als sie es tatsächlich war. Dasselbe gilt für seine Kollegen, die alle heil zurückgekehrt waren und jeweils zwei Abschüsse anerkannt erhalten, ebenso wie Richey. Das wären dann zehn abgeschossene Messerschmitt Bf 110.

Die I. Gruppe des Zerstörergeschwaders 26 verliert in diesem Einsatz aber nur zwei Maschinen!

Die Probleme der Zerstörer gegenüber einmotorigen Jägern mit engerem Wendekreis – trotz des Vorhandenseins eines Heckschützen – zeichnen sich gleichwohl allmählich ab.

Inzwischen kommt es in Holland zu einer Tragödie. Bereits am 10. Mai 1940, am Tage des für den holländischen Geheimdienst durchaus nicht überraschenden deutschen Vormarsches, landen deutsche Fallschirmjäger mitten in Rotterdam auf einem Fußballfeld – ein aberwitzig tollkühnes Unternehmen. Und es gelingt auch noch! Oberleutnant Kerfin sammelt seine Männer zusammen. Sodann marschieren die deutschen Elitesoldaten in Schützenreihe durch den Vorort Feijenoord. Keiner der holländischen Passanten nimmt sonderlich Notiz von der Truppe, die den Auftrag hat, die wichtigen Brücken mitten in der Stadt im Handstreich einzunehmen und so lange zu verteidigen, bis Bodentruppen auf dem Landweg sie ablösen würden – „entsetzen“ würden, wie man das nennt. Dieser Entsatz würde dann auch Oberleutnant Schraders Truppe erlösen, die mit derselben Aufgabe in Rotterdam einfliegt – 120 Mann in zwölf robusten ehemaligen Torpedoflugzeugen des Typs Heinkel He 59, ein veralteter Doppeldecker mit Schwimmer-Kufen statt Rädern. Das Unterfangen dieser Männer ist fast noch unverschämter angelegt als jenes der Fallschirmjäger. Mitten in der feindlichen Stadt Rotterdam wassern die Seeflugzeuge unverfroren am Nordufer der Willemsbrücke. Die Besatzungen werfen sofort Floßsäcke aus den Flugzeugen, springen hinauf und paddeln ans Ufer. Minuten später sind die Willemsbrücke, die Jan-Kuiten-Brücke und die Leeuwenbrücke in deutscher Hand. Inzwischen wird Oberleutnant Kerfin der Fußmarsch ins Zentrum der Stadt zu dumm! Das dauert viel zu lange! Es ist 06.30 Uhr in aller Frühe, als Kerfin kurzerhand eine Straßenbahn konfisziert und sich mitsamt seinen Fallschirmjägern bis zur Brücke fahren lässt. Dort staunen die Soldaten von Schraders 11. Kompanie nicht schlecht, als plötzlich deutsche Fallschirmjäger aus den Straßenbahnwaggons springen. „Na so was“ wundert sich einer der deutschen Landser grinsend, „ich wusste gar nicht, dass unsere Fallschirmjäger mit Straßenbahnen ausgerüstet sind!“

Das Lachen vergeht den Männern schnell. Kaum sind die Sprengladungen der Holländer entfernt und die Maschinengewehre in Stellung gebracht, merken die niederländischen Befehlshaber der Stadt, wer und was da gerade auf ihrer Nase herumtanzt. Die Reaktion ist schweres holländisches Artilleriefeuer auf die Brücken. Nur 60 Mann der deutschen Brückensicherung überleben den Feuerschlag – doch an ihnen kommt keiner vorbei. Zu ihnen durch aber auch nicht, ein Entsatzangriff des III./IR 16, das in Waalhaven gelandet war, bleibt im holländischen Feuer liegen. Die Holländer wehren sich erbittert und tapfer. Inzwischen versuchen sich Graf Sponecks Männer, die in ihren Ju 52 auf Den Haag angesetzt worden waren und nun nach der missglückten Landung in der Nähe der viel zu stark verteidigten Flugplätze dort gegen Rotterdam umdirigiert werden, zu der Stadt durchzuschlagen. Sie müssen sich mit drei holländischen Divisionen herumschlagen – etwas viel für 1.000 Mann!

Drei Tage und drei Nächte halten Oberleutnant Kerfins und Oberleutnant Schraders Soldaten die Brücken in Rotterdam. Dann sind am 13. Mai 1940 endlich Graf Sponecks Männer im Vorort Overschie eingedrungen. Weiter kommen sie nicht – der Widerstand ist zu stark. Von Osten hat sich nun Generalmajor Hubicki mit seiner 9. deutschen Panzerdivision an Rotterdam herangekämpft. Seit dem Nachmittag des 12. Mai 1940 arbeiten sich die deutschen Soldaten in Rotterdams Außenbezirken vor. Doch auch Hubickis Truppen kommen nicht zu den Männern an den Brücken durch – die Holländer feuern verbissen, was das Zeug hält. Oberstleutnant Dietrich von Choltitz erhält den Befehl, Kerfins und Schraders Kommandotrupp zurückzurufen, zumindest, was noch von ihnen übrig ist – doch die Fallschirmjäger und Landser sind nicht einmal mehr per Funk erreichbar! Wie sieht es dort wohl aus?

Inzwischen marschieren die Franzosen von Westen in Holland ein und kommen den hart bedrängten Niederländern zu Hilfe. Sie kommen immer näher an Rotterdam heran. Wer weiß, ob die Engländer nicht auch noch mit einem Landungsunternehmen von See her Unterstützung bieten werden. Die Zeit drängt. Die Festung Rotterdam muss fallen, und das schnell!

Um 16.00 Uhr erhält der Pfarrer der von den Deutschen bereits besetzten Maasinsel Noorder Eiland den Auftrag, mit einer weißen Fahne ausgerüstet loszumarschieren und im Namen von Oberstleutnant von Choltitz den holländischen Stadtkommandanten zur Kapitulation zu bewegen. Nur so sei weiterer Schaden von der Stadt abzuwenden! Der Pfarrer gehorcht. Begleitet von einem Kaufmann lässt er sich zu Oberst Scharroo, dem niederländischen Befehlshaber, bringen. Am Abend sind die Unterhändler wieder bei dem deutschen Regimentsführer. Scharroo verhandle nur mit Offizieren, ist die Antwort.

Das riecht nach Hinhaltetaktik. Es liegt ja auch nahe, mit Sicherheit wissen auch die Holländer, dass die französischen Truppen im Anmarsch sind. So kann es nicht weitergehen!

Um 18.45 Uhr befiehlt General von Küchler, den Widerstand in Rotterdam mit allen Mitteln zu brechen! Ein Panzerangriff über die Willemsbrücke hinweg soll nach vorbereitendem Artillerieschlag die Entlastung erzwingen. Nun übernimmt der kommandierende General des XXXIX. deutschen Panzerkorps die Angelegenheit, Rudolf Schmidt. Küchler trägt ihm auf, „nichts unversucht zu lassen, um unnötiges Blutvergießen unter der holländischen Zivilbevölkerung zu vermeiden“.

Schmidt fordert daraufhin noch einmal den Holländer Oberst Scharroo dazu auf, die Waffen zu strecken. Er warnt ihn eindringlich vor den Folgen einer Weigerung. „Dies kann die völlige Vernichtung der Stadt nach sich ziehen! Ich ersuche Sie als Mann von Verantwortungsgefühl, darauf hinzuwirken, dass diese schwere Schädigung der Stadt unterbleiben kann!“

14. Mai 1940, 10.40 Uhr. Die deutschen Unterhändler, Oberleutnant Dr. Plutzar – er beherrscht die holländische Sprache – und Hauptmann Hoerst begeben sich zu den Holländern. Dort lässt man sie erst einmal warten, dann karrt man sie kreuz und quer durch Rotterdam – mit verbundenen Augen. Endlich stehen sie vor Scharroo. Die Zeit drängt.

Die Deutschen machen dem holländischen Kommandeur klar, dass in wenigen Stunden deutsche Bomber starten würden, wenn die Kapitulation bis dahin nicht erfolgt sei. Es ist nun 12.10 Uhr. Die Zeit läuft davon! Oberst Scharroo zögert. Seine Truppen halten den Großteil der Stadt, sind zahlenmäßig überlegen, Entsatz ist in Gestalt der Franzosen unterwegs. Er fragt bei seinem Oberkommandierenden nach, wie er sich verhalten soll. General Winkelmann ist Scharroos Vorgesetzter. Er befiehlt hinhaltendes Zeit-schinden ...!

Nun ist es 13.30 Uhr. Die Flugplätze in Delmenhorst, Hoya und Quakenbrück erdröhnen vom Anschwellen deutscher Flugzeugmotoren. 100 Bomber des Typs Heinkel He 111 beschleunigen nacheinander auf den Startbahnen. Röhrend heben die Kampfflugzeuge mit ihrer tödlichen Last vom Boden ab. Das Kampfgeschwader 54 ist unterwegs.

Scharroo bemängelt seit 13.50 Uhr über seinen Adjutanten einen Formfehler in dem deutschen Schreiben. Die Spannung steigt ins Unerträgliche! Um 14.00 Uhr wolle Scharroo einen Parlamentär schicken! Die deutschen Unterhändler leiten dies weiter. General Schmidt auf deutscher Seite informiert (verzögert durch Funkstörungen) die Luftflotte 2. „Angriff wegen Verhandlungen verschoben!“

Die Bomber sind bereits im Anflug auf die holländische Hafenstadt. Es ist 14.15 Uhr.

Die Piloten und Bombenschützen haben strenge Anweisungen. Nur ein enges Zieldreieck in der hartnäckig verteidigten Stadt darf angegriffen werden, die Bomben sollen hier den feindlichen Widerstand zerschmettern, nördlich der beiden Maasbrücken, um den Bodentruppen endlich zum Durchbruch zu verhelfen und an Kerfins Leute heranzukommen. Nicht weniger, keinesfalls aber mehr. Ferner möge man dringend auf rote Leuchtsignale achten – das Zeichen, falls sich die Holländer doch noch rechtzeitig ergeben hätten. Die Maschinerie ist in Gang ...

Sofort nach Eingang von General Schmidts Meldung ruft die Luftflotte 2 die Bomber zurück – das heißt, sie versucht es. Wieder und wieder. Doch die Funker der Luftflotte 2 kennen die Frequenz nicht, auf welche ihre Kollegen an Bord der Heinkel He 111 des KG 54 ihre Geräte eingestellt haben. Die empfangen die Nachricht nicht. Das hat keinen Zweck so! Oberstleutnant i.G. Hans-Jürgen Rieckhoff, der Ia-Offizier der Luftflotte 2, rennt auf dem Flugplatz in Münster zu seinem Jagdflugzeug. Die Messerschmitt Bf 109 ist den Bombern an Geschwindigkeit weit überlegen! Rieckhoff startet sofort und jagt den Heinkel-Kampfflugzeugen hinterher! Vielleicht holt er sie noch rechtzeitig ein? Irgendjemand muss doch wissen, auf welcher Frequenz die Kameraden in den Bombern senden, Himmel noch mal! Die Leitstelle! Die Leitstelle des Geschwaders in Bremen!„Informiert jemand sofort die Leitstelle!“

Rieckhoff schafft es nicht! Auch nicht das „Fliegerkorps z.b.V.“! Jene Leitstelle, die eine Funkverbindung herstellen kann, erfährt dies zu spät. Zu dem Zeitpunkt haben die Bomber ihre damals noch verwendeten Schleppantennen im Zielanflug eingezogen. Oberst Lackner, Kommodore des deutschen Kampfgeschwaders, hält die Karte mit dem Zieldreieck auf den Knien. Jeder Staffelkapitän hat eine Kopie. Es ist 15.00 Uhr. Die Holländer haben nach wie vor nicht aufgegeben. Keine Kapitulation!

Das wissen auch der deutsche Fallschirmjäger-General Student, der Held von Eben Emael, und General Schmidt. Sie stehen auf der Stieltjes Straat in Rotterdam, als das Dröhnen deutscher Flugzeugmotoren immer lauter wird. Spätestens seit Warschau weiß man, was nun kommen wird!

Nein, nein und nochmals nein! Das darf nicht sein. Student und Schmidt schreien nach Leuchtmunition. Dann schießen sie, was die Signalpistolen hergeben! Obwohl Scharroo nicht kapituliert hat, obwohl Kerfins und Schraders Leute, die eigenen Leute in einer verzweifelten Lage sind und von Stunde zu Stunde mehr dezimiert werden. Nein!

Weiter oben sucht man den Boden ab. Holländisches Flak-Feuer erschüttert den Luftraum. Es ist reichlich ungemütlich hier! Aber einen besseren Beweis als dieser schwere Flak-Beschuss dafür, dass die feindlichen Truppen nicht daran denken aufzugeben, gibt es ja wohl nicht. Dort unten ist überall schwarzer Rauch, der Passagierdampfer „Straatendam“ qualmt, schwer getroffen von Artilleriegranaten. Oberstleutnant Otto Höhne führt die zweite, neben Lackners Gruppe fliegende Angriffsformation. „Sieht irgendjemand rote Leuchtkugeln?“, vergewissert sich der Gruppenkommandeur der I./KG 54. Nein, keiner. Der Bombenschütze mahnt. „Wir sind über dem Ziel, ich muss jetzt werfen!“ Also gut! Wenn es denn sein muss! „Ihr verdammten dickschädeligen Käsköppe da unten!“

„Bomben los!“

Höhne sieht sich noch mal um. Da! Ganz schwach im Dunst – sind das etwa rote Leuchtkugeln? Das darf doch wohl nicht wahr sein!

„Verflucht!“

Für 57 der 100 Bomber kommen die Leuchtkugeln zu spät. Und das bedeutet: für 97 Tonnen Sprengbomben. Und für 814 Menschen. Frauen und Kinder, die sich in ihren Häusern vor dem Kampfgeschehen verkrochen hatten. In den Häusern einer Altstadt, deren Fachwerkbauten sofort in Flammen stehen. Das Fett einer Margarinefabrik tut ein Übriges, leichter Wind heizt die Feuersbrunst an. Bald ist es ein Inferno. Die Altstadt Rotterdams verglüht in einer Flammenhölle. Erst drei Monate später ist das letzte Feuer gelöscht.

Bald machen Horrorgeschichten die Runde. 30.000 Menschen seien umgekommen. Die deutsche Luftwaffe hat wieder einen „Terrorangriff“ auf dem Kerbholz. „Nichts und niemand ist ihnen heilig! Barbarisch und ungeheuer zerstörungsstark ist diese Armada, Hitlers und Görings Teufelsflieger ...! Zur Hölle mit ihnen! Eines Tages werden sie es büßen, diese Schweine!“ So denkt und so fühlt man.

Um 17.00 Uhr schleppt sich ein gebrochener Mann zu den deutschen Linien. Er bietet die Kapitulation an. Es ist der holländische Oberst Scharroo persönlich. Ein Schatten seiner selbst.

Um 20.30 Uhr verkündet General Winkelmann über den Rundfunk die Kapitulation der holländischen Streitkräfte. Nach fünf Tagen schweren und tapferen Kampfes ist es genug! Holland ist niedergerungen. Die Festung Holland, welche in den alliierten Plänen wochenlang als Widerstandslinie eingeplant war, ist kein Vormarschhindernis mehr, nachdem alle natürlichen Barrieren überwunden sind.

Die Franzosen, die sich schon nahe an Rotterdam herangearbeitet hatten, kehren nun um.

15. Mai 1940. Das Telefon läutet. Der frischgebackene britische Premierminister Winston Churchill wird aus dem Bett geklingelt. Am anderen Ende der Leitung ist sein französischer Amtskollege Reynaud. Es muss wohl wichtig sein. Was gibt es denn?

Reynaud ist völlig aufgelöst. „Wir sind geschlagen! Wir haben die Schlacht bei Sedan verloren!“

Wie – was soll das heißen? Churchill ist plötzlich hellwach. Geschlagen? Fünf Tage nach Angriffsbeginn? „Das kann doch unmöglich so schnell gekommen sein!“

Es kann! Der Mittelabschnitt der alliierten Front ist in Auflösung, Guderians deutsche Panzer hatten die Maas überquert, 70 französische Panzer vernichtet und halten nun einen Brückenkopf von 50 Kilometern Breite und 25 Kilometern Tiefe nördlich der Maas. Vor ihnen liegt flaches Land – ideal für einen Vorstoß schneller motorisierter Truppen. Es sind gut ausgebaute, schwer befestigte französische und britische Feldstellungen von hier bis zur Küste des Ärmelkanals vorhanden. Monatelang ausgehoben und gesichert in der langen Zeit des „Sitzkrieges“ im vergangenen Winter. Doch diese Stellungen sind verwaist, die Truppen, die sie besetzt hielten, sind den Deutschen auf den Leim gegangen und weit nach Westen gerückt. Sie stehen in Holland und Belgien. Hinter ihrem Rücken braut sich eine absolute Katastrophe zusammen. Eine Einkesselung gigantischen Ausmaßes! Es kann!

Am Abend findet eine Lagebesprechung der deutschen Kommandeure statt. General Ewald von Kleist, dem die beiden Panzerkorps XIX (Guderian) und XXXXI (Reinhardt) unterstellt sind, mahnt zur Besonnenheit. Die zu Fuß marschierende Infanterie hatte bisher das rasante Tempo des deutschen Vorstoßes nicht mithalten können – wie denn auch? Vorne sind die Panzer, Pioniere, motorisierte Artillerie, Flakartillerie und Panzergrenadiere – alles eben, was einen fahrbaren Untersatz hat. Zu wenig für den Durchstoß bis an die Küste. Kleist befiehlt, das XIX. Panzerkorps Guderians anzuhalten, bis die Masse der Infanterie hat aufschließen können!

Guderian rebelliert! Auf keinen Fall! Den Fehler hatte man im Ersten Weltkrieg auch schon gemacht, im Jahr 1914, als Paris zum Greifen nahe war! Das Ergebnis des „Wunders an der Marne“ war der Stellungskrieg geworden! Nein, jetzt ist die Gunst der Stunde gegeben! Kein „Wunder an der Maas“! Die Franzosen und Engländer sollen jetzt aus Guderians Sicht viel mehr ihr „blaues Wunder“ erleben! Vorwärts, mit aller Kraft!

Kleist hin, Kleist her – Guderian fährt zu seinen Leuten. Dort trifft er auf Oberstleutnant Balck, den Kommandeur des Schützenregimentes 1. „Balck, wir müssen weiter!“

Frankreich ist im Schockzustand. Die alten Helden aus dem letzten Krieg werden zu Hilfe gerufen, reaktiviert. Philippe Pétain, betagte 84 Jahre alt, wird Vizepräsident. General Frère soll die an der Maginot-Linie zwischen den Befestigungen stehenden Divisionen nach Amiens schaffen und dem deutschen Vorstoß entgegenwerfen – doch womit? Es fehlen Lastwagen, Transportmittel aller Art. Schon jetzt ist die französische Organisation nur noch mit einem Chaos zu vergleichen. Viele der furchterregenden Char-B1-Panzer bleiben liegen, weil ihnen mitten im Kampf das Benzin ausgeht – und kein Nachschub ist bereitgestellt oder verfügbar. Niemand hatte mit einem Bewegungskrieg und den hierfür erforderlichen Treibstofftransporten gerechnet. Wenn doch, dann machen die Stukas kurzen Prozess mit den Tankfahrzeugen.

Überhaupt gehört der Himmel über Frankreich nun im Wesentlichen der deutschen Luftwaffe. Spätestens seit dem Aderlass der Armée de l’Air und Royal Air Force über den Behelfsbrücken am Oberlauf der Maas ist die Angriffskraft der alliierten Luftstreitkräfte zerschlagen. Dagegen fliegen die deutschen Sturzkampfbomber bis zu neun Einsätze täglich. Und treffen immer seltener auf feindliche Jäger, denen der deutsche Begleitschutz regelmäßig schwer zu schaffen macht, wenn sie auftauchen.

Guderian ist nicht zu halten! Los – vorwärts. Die Panzer rollen an. Zur Küste! Reinhardts XXXXI. Panzerkorps deckt zur Seite hin. In Montcornet treffen die vorstoßenden Truppen auf die Kampfgruppe Kempff. Diese hatte soeben den französischen General Giraud festgesetzt, der in Unkenntnis der Lage auf dem Gefechtsfeld herumirrte und seinen Führungsstab suchte. Vorwärts!

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Französische Panzer im Bombenhagel – in der Bildmitte vermutlich ein Volltreffer.

Paris atmet auf. Der deutsche Stoß geht nach Norden, nicht nach Paris. Was das für die von der Einschließung bedrohten Armeen in Holland und Belgien bedeutet, ist eine andere Sache! Aus dem Raum Laon heraus versucht ein französischer General einen Gegenangriff gegen die Flanke des deutschen Panzervorstoßes. Ein gewisser Charles de Gaulle. Die Spitzen seiner 4. Division kommen bis auf zwei Kilometer an Guderians Gefechtsstand heran.

Die deutschen Sturzkampfbomber greifen ihn erbarmungslos an. „Sie bombardieren uns ohne Unterlass,“ berichtet de Gaulle, „wobei sie unseren Fahrzeugen, die die Straßen nicht verlassen können, und unserer Artillerie fürchterlich zusetzen!“

De Gaulles Angriff kommt ins Stocken.

Aus der Luft droht Guderian keine Gefahr. Wohl aber „von oben“! Als Aufklärungsflugzeuge die Vorbereitung einer weiteren französischen Gegenoffensive durch General Frère melden, wird Hitler nervös! Sehr nervös! Der Chef des Generalstabes im Oberkommando des Heeres, General Franz Halder, versucht, Hitler zu beruhigen. Frère sei zu einen Großangriff aus dem Süden nicht in der Lage, seine Truppen zu langsam und zu schwach. Auch Guderian sieht das so.

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Ein „Stuka“ kippt ab zum Sturzangriff.

Es entspricht der Lage.

Churchill, der beim obersten alliierten Kriegsrat nach der strategischen Reserve fragt, erhält von Gamelin die erschütternde Antwort: „Wir haben keine!“

Churchill kann es nicht fassen. Unmöglich! Das ist doch nicht möglich ...

Doch aus Berlin kommt prompt der Befehl, die mit ihren ungeschützten Flanken gefährlich weit vorgepreschten deutschen Panzerspitzen anzuhalten. Guderian hatte es geahnt. Da hat jemand Angst vor der eigenen Courage! So etwas ist tödlich in einem Krieg! Es ist der 17. Mai des Jahres 1940.

„General Frère ist weit vom Schuss! Unsere Chance, zum Kanal durchzustoßen, muss jetzt genutzt werden, sonst ist sie für immer vertan! Entweder wir fahren, oder ich bitte um Enthebung von meinem Kommando!“ Guderian ist nicht gewillt, sich den Sieg zerrinnen zu lassen, durch Zaudern und Zögern.

Generaloberst von Rundstedt, Oberbefehlshaber der gesamten Heeresgruppe A, schickt den Armeegeneral List zu Guderian. Jener drückt die Anweisung „von oben“ sehr geschickt formuliert folgendermaßen aus:

„Der Generaloberst teilt ihre Lagebeurteilung und kleidet sie in den Befehl, die Führung des XIX. Panzerkorps beizubehalten. Der Haltebefehl ‚von oben’ muss respektiert werden, doch der Generaloberst erteilt Ihnen die Vollmacht, ‚kampfkräftige Aufklärung’ vorwärts zu treiben.“

Guderian hört von alledem nur ein einziges Wort. Und das heißt „vorwärts“.

Während Kleist sicherheitshalber in sein Kriegstagebuch eintragen lässt, dass er ein Kriegsgerichtsverfahren gegen Guderian in Erwägung ziehe – man weiß ja nie –, befiehlt Guderian Funkstille. Auch sicherheitshalber. Alle Meldungen sollen gekabelt werden. Der Gefechtsstand verbleibt hier in Montcornet – scheinbar. Guderian selbst allerdings nicht! Auch sonst kaum jemand. Der wichtigste Mann hier ist jetzt der offizielle Funker! Dann geht es weiter. Zur „kampfkräftigen Aufklärung“ – vorwärts ...

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Ein deutscher Panzer IV trifft sein Ziel am Waldrand.

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Deutscher Panzer IV, Version A, in Frankreich.

Der erste, der erfährt, wie Guderian „aufklärt“, ist de Gaulle. Guderians Panzer zerschlagen den Angriff des französischen Generals und „klären“ die Lage – sozusagen – „auf“. Am 18. Mai 1940 erobern sie St. Quentin, am 19. Mai 1940 Péronne. Nichts kann sie bremsen. Junkers Ju 52-Transportflugzeuge bringen Benzin nach vorne. Der Vorstoß ist atemberaubend.

Sieben Panzerdivisionen hetzen über die symbolträchtigen Schlachtfelder des ersten Weltkrieges mit Tagesleistungen, die in einem fast unheimlichen Gegensatz zu den Zeiten stehen, als Hunderttausende wegen einigen Metern Bodengewinn hier verblutet waren. Noch 75 Kilometer bis zur Küste! Dann ist die Falle zu. Weiter – voran! Die Ketten klirren. Und rollen.

Marschall (Maréchal) Maurice-Gustave Gamelin wird am 19. Mai 1940 als alliierter Gesamt-Oberbefehlshaber von General Maxime Weygand abgelöst. Er ist kaum elf Jahre jünger als Pétain.

20. Mai 1940. Zehn Tage nach Beginn des deutschen Angriffs. Amiens und Abbeville fallen. Major Spitta, Kommandeur eines Bataillons der 2. Panzerdivision, traut seinen Augen nicht.

Vor ihm liegt die Küste! Die ersehnte französische Küste! Der Ärmelkanal! Sie hatten es geschafft!

22 belgische Divisionen, drei französische Armeen und das komplette britische Expeditionskorps, praktisch alles, was Großbritannien zur Verteidigung seines Kernlandes aufzubieten hat, sind eingeschlossen. Der „Sack“ ist zu. Nur eine Seite ist noch offen. Doch hier ist nichts als Wasser.

Als Hitler das Ausmaß des deutschen „Aufklärungs“-Vorstoßes erfährt, ist von Sanktionen keine Rede. Er ist begeistert. Halder gibt zu Protokoll: „Der Führer ist außer sich vor Freude!“

Die Franzosen erhalten ihr „Wunder“ nicht. Wohl aber die Soldaten des britischen Expeditionskorps.

Am 21. Mai 1940 versuchen britische Panzer im Raume Arras verzweifelt den Ausbruch. Sie erzielen zunächst einen Einbruch bei der „Totenkopfdivision“ der deutschen Waffen-SS, einer Elitetruppe, jedoch noch relativ unerfahren im Kampf. Rommel reagiert schnell und arbeitet sich mit seiner 7. Panzerdivision in den Rücken der Briten. Wenig später ist die Lage geklärt, der britische Angriff zurückgeschlagen. Allerdings bildet General von Kleist nun eine Eingreifreserve für solche Fälle – und wählt ausgerechnet, wohl aber nicht zufällig, eine der Panzerdivisionen Guderians dafür aus – die 10. In Gewaltmärschen rückt die deutsche Infanterie den vorgepreschten Panzern nach, um endlich die Flanken zu sichern. Jene Flanken, die von General Frères Truppen bedroht sind – bedroht sein könnten. Doch Frère hält seine Streitmacht an. Er hat größte Probleme mit dem Nachschub! Nichts kommt bei ihm an, was er für einen weiteren Vorstoß benötigt!

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Deutscher Vorstoß mit Panzern und Halbkettenfahrzeugen (Schützenpanzern) für Panzergrenadiere.

Die eingeschlossenen belgischen, britischen und französischen Truppen stehen kämpfend in Belgien, während von Osten die deutsche Heeresgruppe B unter Generaloberst von Bock nach vorne drückt. Die Zusammenarbeit zwischen den Verbündeten funktioniert nicht mehr – nur mit viel Glück erfährt Lord John Gort, Befehlshaber des britischen Expeditionskorps, vom Rückzugsbefehl der Franzosen. Fast wäre er alleine an der Dyle gestanden. Andererseits informiert er seinerseits die Franzosen nicht, als er schließlich die britische Regierung um Evakuierung seiner Truppen bittet.

Nun beginnt der Wettlauf auf die französischen Kanalhäfen. Die Briten versuchen, vor den Deutschen dort zu sein, doch diese stehen bereits bei Boulogne. Guderian hatte die 10. Panzerdivision gegen Dünkirchen einsetzen wollen – Kleists „Eingreifreserve“-Befehl nimmt sie ihm weg – für einen Tag. Den entscheidenden Tag. Es ist ein Wettlauf gegen die Zeit – erneut gegen die Gefahr „von oben“!

Am 24. Mai 1940 fällt Boulogne. Dieser Hafen gehört nun den Deutschen. Die 10. Panzerdivision rollt jetzt gegen Calais, die 1. Panzerdivision in Richtung Dünkirchen. Schon sind die Hafenanlagen in den Fernrohren erkennbar. Es ist der 24. Mai 1940, um die Mittagszeit. Da passiert das Wunder.

Calais ist eingekesselt, hier kommt keiner durch. Bleibt Dünkirchen. Guderians Panzer stehen 50 Kilometer näher am Hafen dieser Stadt als die Briten, deren Gros immer noch bei Lille und Arras kämpft. Doch von Rundstedt befiehlt das Aus. Halt! Adolf Hitler billigt diesen Befehl. Der Instinkt verlässt den „Feldherrn“.

Guderian fasst es nicht. Auch nicht die meisten übrigen Kommandeure. Einschließlich der deutschen obersten Heeresleitung. Auch Generaloberst Walther von Brauchitsch liegt im Streit mit Hitler.

Die Einnahme des letzten Kanalhafens ist die geradezu zwingende Chance, den Sieg zu einer vernichtenden Niederlage der Briten und Franzosen auszuweiten! Für von Rundstedt ist die Schonung seiner Panzer für den Stoß gegen Frankreichs Kernland der entscheidende Grund – noch ist Frankreich nicht niedergeworfen! In einigen Panzerdivisionen sind nur noch ein Drittel der Kampffahrzeuge einsatzfähig. Der extreme Verschleiß des schnellen Vorstoßes führt zu technischen Ausfällen, natürlich auch der Kampf. Vor allem aber Hitler zögert. Über die Gründe wird seit langem spekuliert.

Zum einen wird vermutet, dass Hitler die Notwendigkeit einer vollkommenen Niederlage der britischen Expeditionskräfte nicht sieht. Der Oberbefehlshaber der deutschen Wehrmacht ist ein emotionaler Mensch, bisweilen irrational. Er hat einfach nichts gegen die Engländer! Die werden schon um Frieden bitten, wenn ihm, Adolf Hitler, erst einmal Frankreich gehört. Wozu eine Streitmacht vernichten – mit entsprechendem Risiko und möglicherweise hohen Verlusten der eigenen Seite – wenn sie doch bald einlenkt, aufgibt? Doch da schätzt er die britische Natur gehörig falsch ein! Würde er das tun, wäre er in ihrer Position? Die Zukunft wird es zeigen: Nein, ebensowenig! Wieso dann die Engländer?

Zweitens – und vermutlich ist dies das gewichtigere Argument – ist Dünkirchen von einem Netz aus Kanälen umgeben. Die Ebenen um Nieuwpoort, 30 Kilometer östlich von Dünkirchen, waren im ersten Weltkrieg unter Wasser gesetzt worden. Hitler will seine Panzer schonen, noch steht die Schlacht um Paris bevor – er braucht sie noch. Er schreckt davor zurück, sie „in die flandrischen Sümpfe zu schicken.“

Es gibt aber gar keine Sümpfe jetzt, das Jahr 1940 ist nicht 1914! Die Schleusen sind von einem Geheimkommando der deutschen „Brandenburger“ besetzt und gesichert, einem höchst fähigen Spezialregiment des Chefs des Geheimdienst-Amtes „Ausland/Abwehr“ – Admiral Wilhelm Canaris – für Sabotageakte hinter den feindlichen Linien. Das Risiko besteht also vornehmlich in Hitlers Ängsten. Doch die entscheiden nun einmal! Zusammen mit Generaloberst Wilhelm Keitel, Chef des Oberkommandos der Wehrmacht, der sich auf Grund seiner lakaienhaften Unterwürfigkeit Hitler gegenüber den Spitznamen „Lakeitel“ zugezogen hatte. Und zusammen mit dem „Eisernen“. Ein weiterer Spitzname, allerdings weniger despektierlich. Ihn trägt ein Mann, der seine Willensstärke bisher recht energisch durchzusetzen gewohnt ist. Hitlers Paladin, ein ehrgeiziger und prahlerischer Mann. Die Rede ist vom Oberbefehlshaber der deutschen Luftwaffe, Generalfeldmarschall Hermann Göring, der wenige Wochen später im Juli 1940 zum „Reichsmarschall des Großdeutschen Reiches“ emporsteigen wird, ein eigens für ihn in seiner Geltungssucht geschaffener „einzigartiger“ militärischer Rang.

Göring ist geblendet von den Erfolgen „seiner“ Luftwaffe und will nun noch ein bisschen mehr vom süßen Kuchen des Ruhms. „Mein Führer, bitte überlassen Sie die Zerschlagung des bei Dünkirchen eingekesselten Feindes mir und meiner Luftwaffe!“ Hitler sieht kein Risiko darin, seinem Günstling diesen Wunsch zu erfüllen.

General Albert Kesselring, Chef der deutschen Luftflotte 2, ist bestürzt, als er den Angriffsbefehl erhält. Er ruft sofort bei Göring an und fragt nach, ob dieser allen Ernstes die Vernichtung ganzer Divisionen alleine aus der Luft befohlen habe. Die Hälfte seiner Maschinen sei nicht mehr einsatzfähig und die meisten seiner Bomber 500 Kilometer entfernt von Dünkirchen stationiert – erheblich weiter weg als die britischen Basen in Südengland! Das könne doch nicht sein Ernst sein!

Doch Göring bleibt „eisern“. „Das funktioniert nicht!“, schreit Kesselring, und knallt den Telefonhörer auf die Gabel. Auch Wolfram von Richthofen, General des VIII. Fliegerkorps, ruft den Generalstabschef der Luftwaffe, Generalleutnant Heinz Jeschonnek, aufgebracht an und erklärt diesem entsetzt, dass die Briten ihre ganze Streitmacht evakuieren könnten, wenn Guderians Panzer nicht bald wieder vorstießen. „Niemand kann im Ernst glauben, dass wir sie alleine aus der Luft anhalten können!“

„Doch!“ entgegnet Jeschonnek, „Der Eiserne glaubt es! Außerdem will der Führer den Briten eine blamable Niederlage ersparen!“

„Aber dazwischen hauen sollen wir trotzdem, wie?“ Richthofen traut seinen Ohren nicht über so viel Widersinn! „Ja, natürlich! Mit allen zur Verfügung stehenden Kräften!“ ist die Antwort.

Die Spitzen der Heeresgruppe B stehen von Osten kommend 60 Kilometer vor dem einzigen Loch, das den Briten zur Flucht noch bleibt. Die Panzer Guderians stehen 20 Kilometer westlich des Hafens. Sie stehen! Es ist ein Wunder!

Das „Wunder von Dünkirchen“.

In der Theorie besitzen die Deutschen in Dünkirchens Luftumkreis rund 500 Jagdflugzeuge und etwa 300 Bomber – doch das ist nach zwei Wochen erfolgreicher, aber durchaus harter Kämpfe eine Stärke auf dem Papier. Die Abnutzungserscheinungen bei Mensch und Material sind nicht zu übersehen. Die Staffeln benötigen dringend Zeit zur Überholung ihrer Maschinen, auch wenn die Mechaniker ihr Bestes geben. Einen solchen Kraftakt jetzt zu verlangen, zeigt von überaus geringem Gespür für die Lage der Verbände vor Ort. Doch dies kümmert Hermann Göring nicht.

Am 26. Mai 1940 fällt Calais – die britische Besatzung des Hafens muss sich ergeben. Am 27. Mai 1940 ist die Masse der Briten in Dünkirchen angekommen, dem letzten noch verbleibenden Kanalhafen, gemeinsam mit den nördlichen französischen und einigen belgischen Truppen. Der Rückzug der Briten hatte zwischen der belgischen Hauptmacht und den übrigen alliierten Verbänden eine Lücke geöffnet, welche sofort von schnellen Truppen der deutschen Heeresgruppe B erfasst und genutzt wird. Generaloberst von Bock wirft die 6. Armee dazwischen – die Belgier sind nun isoliert und separat umzingelt. Der König des Landes fügt sich ins Unvermeidliche. Belgien kapituliert am Folgetag, dem 28. Mai 1940.

Inzwischen macht sich die merkwürdigste Flotte auf den Weg, welche das raue Wasser des Ärmelkanals je gesehen hat. Vom Kriegsschiff bis zur kleinen Segeljacht kreuzt alles über die Wasserstraße, was schwimmen kann. Die Eigner privater Boote nehmen in patriotischer Pflichterfüllung das Risiko ihres Lebens in Kauf und schippern über die See. Über 800 Schiffe nehmen einen hektischen Fährbetrieb auf. Deutsche U-Boote und Schnellboote zwingen mit ihren Torpedos die britischen Schiffe, ihre Evakuierungsrouten zeitweise zu ändern. Die Hafenanlagen Dünkirchens sind völlig zerstört, deutsche Bomben hatten ganze Arbeit geleistet. Die größeren Schiffe müssen vor dem Strand ankern, während kleine Boote rastlos Tag und Nacht zwischen dem Strand und den Schiffen hin- und herpendeln.

Ebenso rastlos ist die britische Luftwaffe. Erstmals schicken die Briten nun auch ihren neuesten Jäger in den Einsatz – die Supermarine „Spitfire“. 32 Squadrons wechseln sich im vierzigminütigen Turnus ab und kreisen von Südengland aus über den von abgekämpften, verzweifelten Soldaten vollgestopften Stränden. Über denen sich das Wetter zuzieht. Eine Schlechtwetterfront zieht auf.

Sie ist ein Geschenk des Himmels für das bedrängte britische Expeditionskorps. Vier Tage, an denen die deutsche Luftwaffe nicht starten kann, ihnen nicht das Leben zur Hölle macht. Die Briten nützen jede Minute. Auch nachts. Diese Phasen hatte Göring nicht bedacht ...

Die übrige Zeit ist entsetzlich. Der feine Sand der Dünen schluckt zwar ein hohes Maß an Sprengkraft der deutschen Explosivstoffe. Dennoch ist deren Wirkung brutal. Bomben hageln in die zusammen gedrängten Menschenmassen, Volltreffer zerreißen ganze Schiffe, auf denen dicht an dicht Franzosen und Engländer zum Himmel beten. Zunächst nur Engländer – was die Franzosen kränkt und erbittert. Sie verteidigen mit letzter Kraft die Strände, an denen ihre Waffenbrüder einstweilen das Weite suchen! An denen ihre englischen Freunde schlicht abhauen! Erst ab dem 1. Juni 1940 dürfen auch Franzosen und Belgier in die Boote. 231 der 861 zur Evakuierung eingesetzten Schiffe werden von den deutschen Piloten versenkt. Allerdings zu einem hohen Preis! Das Beten findet auf allen Höhenebenen dieser Operation statt. In englischer, französischer und in deutscher Sprache!

Die britischen Jägerpiloten wissen, dass sie die einzige Hoffnung ihrer Jungs da unten sind. Sie kämpfen wie die Löwen, stürzen sich mit einer Aggressivität auf die deutschen Bomberverbände, die die Besatzungen jener Bomber bisher noch nicht erlebt hatten. Deren deutsche Beschützer wissen allerdings nicht minder, worauf es ankommt. Die Flugzeugführer in ihren Messerschmitt-Jägern stehen den Briten an Standfestigkeit und Wagemut in nichts nach! Die Luftschlachten über Dünkirchen werden in einer Verbissenheit ohnegleichen ausgefochten. Zu keinem Zeitpunkt kann die Royal Air Force die Luftüberlegenheit erringen. Doch sie kratzt zum ersten Mal am Nimbus der Unbesiegbarkeit der deutschen Luftwaffe. Das II. deutsche Fliegerkorps erleidet bereits am ersten Kampftag höhere Verluste als in zehn Tagen Frankreichfeldzug vorher zusammen! Die Royal Air Force wiederum verliert in diesen Tagen 177 Jagdflugzeuge bei dem Versuch, die Bodentruppen aus der Luft zu schützen. Die deutschen Verluste über den Stränden von Dünkirchen summieren sich auf 134 Maschinen.

Viele, viele Männer bezahlen Görings Prahlsucht mit dem Leben. Auch am Boden, denn Gefangenschaft wäre diesem Gemetzel allemal vorzuziehen. Der einfache Soldat hat keinen Einfluss darauf!

Andere haben Tränen in den Augen, als sie endlich britischen Boden betreten. Es sind 338.226 Mann, davon etwa 220.000 Briten, die in einer beispiellosen Rettungsaktion über den Kanal geschifft werden. Sie haben keinen einzigen Panzer, kein Geschütz über das Meer zurückgebracht. Sie sind praktisch wehrlos. Aber sie leben!

Und sie bilden den Kern für eine Streitmacht, die nun schnellstmöglich wieder ausgerüstet werden kann. Bei einer Invasion der britischen Insel würde mit ihnen zu rechnen sein – wenn man ihnen nur ein wenig Zeit lässt ...

Die deutschen Luftstreitkräfte verlieren in diesem Schlagabtausch über Dünkirchen etwa 300 Mann fliegendes Personal. Denen auf britischer Seite alles entgegengeworfen worden war, was in Englands Süden ein Jagdflugzeug fliegen kann. Selbst mit zwei Beinprothesen ...

Seit Februar 1940 ist Douglas Bader wieder im Dienst der Royal Air Force. Die Briten brauchen jeden Piloten! Im Mai des Jahres 1940 ist er bereits Kommandeur einer Fighter Squadron. Es ist die 222 Squadron RAF, die mit der Spitfire ausgerüstet ist. Über Dünkirchen zeigt Bader zum ersten Male, was er drauf hat. Mit dem bisschen Glück, das jeder braucht, der durchkommen will. Sein Opfer hat es nicht. Es ist auch ein Jagdflieger. Seine Messerschmitt Bf 109 E wird von Bader abgeschossen. Es ist Baders erster Luftsieg. Der deutsche Jäger fängt Feuer und trudelt ab, er zerschellt am Boden. Am 2. Juni 1940 stürzt über Dünkirchen eine Spitfire nach unten. Adolf Gallands zehnter Luftsieg ...

Am 4. Juni 1940 gehen die letzten Reste der geschlagenen Briten und Franzosen bei Dünkirchen in deutsche Kriegsgefangenschaft. Hitler hatte endlich den Haltebefehl für seine Panzer aufgehoben ...

Nun wenden sich die deutschen Truppen gegen das Herzland der französischen Nation – und gegen Paris. Die Armeen der Wehrmacht sind inzwischen umgruppiert, auch die Franzosen haben eine neue Abwehrlinie aufgebaut. Sie rufen dringend nach Hilfe – auch aus der Luft. Dieses Mal sagt Churchill Nein! Während der vergangenen Kämpfe hatten die Franzosen bereits um Verstärkung durch die Royal Air Force nachgesucht – zusätzlich zu den bereits auf französischem Boden kämpfenden britischen Squadrons. Churchill hatte Hilfe versprochen. Doch er hatte nicht mit der Dickköpfigkeit des Oberkommandierenden seines „Fighter Command“ gerechnet – Sir Hugh Dowding. Dowding widersetzt sich energisch der Entsendung weiterer Jäger-Squadrons nach Frankreich mit dem Hinweis, dass in einem solchen Fall die – doch bedauerlicherweise nach Stand der Dinge nicht auszuschließende – Niederlage Frankreichs dann auch den nicht mehr abwendbaren Fall Englands nach sich zöge! Er brauche die Jäger uneingeschränkt für eine Verteidigung der britischen Insel, jeden einzelnen! Am 15. Mai 1940 legt Dowding Churchill anlässlich einer Besprechung ein Diagramm vor, welches die Verlustrate seiner Hurricanes bei gleich bleibenden Verhältnissen grafisch darstellt. Das ist eindrucksvoll!

Noch kurze Zeit ein solcher Aderlass – und die Linie seiner Jagdwaffenstärke schneidet eine andere Linie! Die Bodenlinie! Auf dieser steht groß und deutlich eine Zahl. NULL!

Dowding schickt am Folgetag dem Premierminister einen Brief hinterher. Das Luftfahrtministerium habe doch eine Mindeststärke von 52 Squadrons zu Englands Verteidigung gefordert – derzeit habe er noch 36 Squadrons zur Verfügung! Die Politik solle ihm doch bitte eine neue Mindestzahl nennen, welche zu Englands Schutz nicht unterschritten werden dürfe ...

Churchill ist in Zugzwang! Er hatte die Einheiten den Franzosen bereits versprochen! Statt der geforderten und zugesagten zehn Squadrons werden daraufhin noch vier auf Frankreichs Boden entsandt.

Dowding hat danach noch 32 Squadrons zur Verfügung. Über Dünkirchen werden sie kurze Zeit später allesamt bitter benötigt Die Forderung der Franzosen erfüllt Churchill jetzt gar nicht mehr. Dowding sollte also Recht behalten – und fortan das Gefühl nicht mehr los werden, dass Churchill ihm nicht vergessen würde, durch einen von Dowding erzwungenen Wortbruch sein Gesicht verloren zu haben.

Auch die Franzosen vergessen es nicht. Sie fühlen sich von den Engländern schmählich im Stich gelassen. Ihre letzte Hoffnung ist nun der 73-jährige General Weygand. Dieser lässt sofort Verteidigungspositionen beziehen. Von Montmédy zur Somme, dann an die Marne, Oise und Seine vor Paris.

Noch kämpfen auch zwei britische Divisionen mit den Franzosen. Churchill entsendet sogar weitere Truppen, die jedoch gerade noch rechtzeitig vor der Ausschiffung zurückgerufen werden können, als sich die Lage erneut verschlechtert.

Das tut sie ab dem 5. Juni 1940. Nun geht es los – der zweite deutsche Ansturm beginnt. Die Kämpfe sind hart – für die Franzosen geht es ums Ganze. Noch einmal keimt bei den demoralisierten Soldaten Weygands der Wille auf, die Niederlage abzuwenden. Bei Laffaux überrollen französische Panzer deutsche Infanteriestellungen.

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Das Wrack des am 21. Mai 1940 von deutschen Bombern vor Dünkirchen versenkten französischen Zerstörers „L’Adroit“ lässt die Heftigkeit der schweren Kämpfe erahnen.

Dann sind die Stukas da und klären die Situation auf ihre Art.

Ein Brückenkopf nach dem anderen wird über die jeweiligen Flüsse getrieben, trotz heftigster Gegenwehr. Amiens, Péronne, zwischen Réthel und Château-Porcien. Am 9. Juni 1940 ist die französische 10. Armee geschlagen, bei Vernon setzen die Deutschen über die untere Seine. Bei Fécamp und St. Valery marschieren 12.000 britische Soldaten in deutsche Kriegsgefangenschaft. Sie hatten es mit der 7. deutschen Panzerdivision zu tun bekommen, geführt von einem Mann, dessen Name die Soldaten des Empire noch öfter hören werden: Erwin Rommel.

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Ein Verband von Junkers Ju 87 „Stukas“ im Anflug auf sein Ziel ...

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Südlich Réthel kämpft sich die 12. Armee über die Aisne – unter blutigen, schweren Verlusten. Doch im Ergebnis: sie sind auf der anderen Seite des Flusses. Nichts kann diese Deutschen aufhalten, es ist zum Verzweifeln! Bei Reims bekommen es Guderians Panzer mit schwarzen Franzosen zu tun – Kolonialsoldaten, die für Frankreich kämpfen. Auch sie halten Guderians Feuerkraft nicht stand.

Bald sind 20 der verbliebenen 66 Divisionen Frankreichs vernichtet, der Rest kämpft schwer angeschlagen Rückzugschlachten. Am 10. Juni 1940 erklärt Italien England und Frankreich den Krieg. „Ich brauche ein paar tausend Tote“, ist Benito Mussolinis erklärtes Ziel. Zu gerne möchte der ehrgeizige italienische „Duce“ ein Stück vom Siegeskuchen abbekommen. Sein Wunsch wird ihm erfüllt ...

Seine Soldaten holen sich gegen die zu diesem Zeitpunkt schon fast vollständig geschlagenen französischen Truppen beim Versuch, die südfranzösische Stadt Nizza zu erobern, elf Tage später eine sehr bittere blutige Nase. Die Franzosen behaupten sich und fügen den Italienern schwere Verluste zu. Nizza bleibt unter der französischen Trikolore! Aber Mussolini hat seine paar tausend Tote ...

Am 13. Juni 1940 bricht die französische Abwehr vor Paris zusammen. Der Stadtkommandant der französischen Hauptstadt hat das Schicksal Warschaus und Rotterdams vor Augen. Er will vernünftiger sein! Tags darauf marschieren Männer mit deutschen Stahlhelmen über die Avenue des Champs-Élysées. Und deutsche Messerschmitt Bf 110 fliegen am Eifelturm vorbei. Es ist ein Fanal ...

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Schematische Risszeichnung einer Bunkeranlage in der Maginot-Linie. Die in dieser Darstellung linke Hügelflanke ist der deutschen Frontlinie bzw. Staatsgrenze zugewandt.

Nun erhält auch noch die letzte deutsche Heeresgruppe, die Heeresgruppe C, den Befehl, in die Kämpfe einzugreifen. Es sind diejenigen deutschen Soldaten, welche einer waffenstarrenden Bunkerlinie gegenüberstehen, einem unüberwindlichen Schutzwall, der Frankreich einmal gegen deutsche Aggressionen unbesiegbar machen sollte. Der Maginot-Linie mit ihren Panzertürmen, sogar versenkbaren und ausfahrbaren Stahlkuppeln, unterirdischen Bunkeranlagen, Maschinengewehrständen, Panzersperren, Drahtverhauen und schwer erklimmbaren Schutzgräben.

Die Deutschen brechen durch! Frontal! Es ist abermals ein von den französischen Strategen für vollkommen unmöglich gehaltener Vorstoß. Die Festung fällt.

Am 18. Juni 1940 gehen in der Bretagne die Städte Cherbourg, Brest und Chalones verloren. Nun ist es genug – Weygand sieht keine Chance mehr in einem weiteren Widerstand. Am 20. Juni werden Verhandlungen aufgenommen. Reynaud tritt zurück, Pétain ist bereit, seine Stelle als Regierungschef einzunehmen. In dieser Lage keine dankbare Mission. Erinnerungen an das Jahr 1918 werden wach. Die deutsche Delegation hatte sich mit ihrer Mission wenig Freunde gemacht, damals, als ihr in jenem Salonwagen bei Compiègne vom französischen Marschall (Maréchal) Foch die Waffenstillstandsbedingungen diktiert worden waren, welche die Grundlage für jenen späteren Friedensvertrag in Versailles abgegeben hatten.

Erinnerungen werden wach, das ist nur zu wahr! Man hat da eine Rechnung offen, wie hatte man diesen Tag herbeigesehnt! Das bringt einen gewissen „Reichsminister für Volksaufklärung“ Joseph Goebbels mit Blick auf die Genugtuung fordernde Stimmung in der deutschen Bevölkerung auf eine perfide Idee. Hatten nicht die Deutschen in Versailles ausgerechnet dort ihre Niederlage besiegeln müssen, wo sie im Triumph Jahre zuvor das Deutsche Reich begründet hatten – im Spiegelsaal des Schlosses?

Oh ja! Eine besondere Demütigung durch die Franzosen. Diese Inszenierung ließe sich doch nun mit vertauschten Rollen wiederholen. Allerdings psychologisch am wirkungsvollsten nicht in Versailles, sondern gezielt an dem Ort, der für Deutschland die ehrenrührigsten Gefühle auslöst!

Es gibt ihn noch, jenen berüchtigten Salonwagen der Eisenbahn. Er steht in einem Museum, Aber nicht mehr lange! Bald thront er wieder an jener historischen Stelle. Hier haben nun die französischen Unterhändler Platz zu nehmen, demonstrativ!

Ihnen gegenüber sitzt der Reichskanzler des deutschen Volkes, der Oberbefehlshaber der deutschen Streitkräfte, der Meldegänger jener Zeiten des Marschalls (Maréchal) Foch, jener österreichische Gefreite mit dem Schnauzbart und dem Eisernen Kreuz.

Adolf Hitler. In dem Waggon bei Compiègne ist er auf dem Höhepunkt seines Ruhmes.

Am 22. Juni 1940, einen Tag nach der schweren Niederlage der italienischen Truppen gegen einen bereits verhandelnden Gegner, ist die Scharte des Versailler Vertrages für Deutschland ausgewetzt. Frankreich ist geschlagen. Die Revanche hatte nur 40 Tage gedauert. Die Welt ist fassungslos.

Der Feldzug hat circa 100.000 alliierten Soldaten das Leben gekostet, etwa 2,2 Millionen waren in Gefangenschaft geraten. 27.074 deutsche Gefallene und etwa 18.000 vermisste Deutsche sind die Gegenbilanz. In Südfrankreich entsteht in Vichy eine französische Regierung unter Marschall (Maréchal) Pétain. Sie hat eine eingeschränkte Souveränität und befehligt Frankreichs Süden und die Kolonien. In Abstimmung mit Deutschland, versteht sich. Doch immerhin in gewissem Rahmen noch französisch. So kommt es später sogar zu Auseinandersetzungen mit dem ehemaligen britischen Waffenbruder, beispielsweise in Syrien oder Madagaskar. Die Franzosen verteidigen hier ihre eigenen Interessen!

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Adolf Hitler (links) und Benito Mussolini (rechts).

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Winston Churchill.

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