28. „Jawohl, Genosse Kommandeur!“

8. Mai 1945

Plötzlich und unerwartet ändert sich die Lage. Das Wetter an der Ostsee ist ruhig und die Reise war bisher problemlos und gleichmäßig verlaufen, als plötzlich der Boden der engen Kammer kippt und er im Rutschen hart gegen die Kabinenwand gepresst wird. Der Motor, den er zuvor sorgfältig gewartet hatte, heult laut auf. Sekunden später erschüttert Kanonen- und Maschinengewehrfeuer seine Umgebung – offenbar ist ein Angriff im Gange! Chefmechaniker Albert Mayers hat keine Sicht nach außen, doch er ist tief beunruhigt – um Gottes Willen keinen Treffer in die Maschine! Wie sollte er hier herauskommen, falls die Schraube versagt? Er hört auf das Kolbengeräusch. Noch läuft der Motor ...!

Zum selben Zeitpunkt beobachten ebenso beunruhigt Hunderte von Augen den sonnigen Himmel über jenen Schiffen, die sich von Libau und Windau entfernen, den letzten Häfen im Kurland-Kessel, die sich noch in deutscher Hand befinden. In einer dramatischen Anstrengung versuchen die Besatzungen der hoffnungslos überfüllten und größtenteils unbewaffneten Passagierschiffe zusammen mit einigen kleineren Marineeinheiten so viele Menschen wie irgend möglich zu evakuieren – verwundete Soldaten, meistens aber zivile Flüchtlinge. Sie wissen, was die Unglücklichen erwartet, sollten sie in russische Hände fallen – vor allem die Frauen! Die deutsche Wehrmacht hatte eine unbarmherzige Schneise der Zerstörung auf russischem Boden hinterlassen. Die Sowjetsoldaten waren von oberster Stelle (namentlich von Stalins Agitator Ilja Ehrenburg) geradezu angewiesen, Rache zu üben – an allen, Zivilisten und Kinder eingeschlossen. Und Mädchen, deren Reihenvergewaltigung manchmal bis zum Tod hierdurch ausdrücklich sanktioniert und also straffrei gestellt ist. Allerdings gibt es durchaus sowjetische Offiziere, die dies zu verhindern versuchen. Sie haben dieselben Repressalien zu befürchten wie Wehrmachts-Offiziere früher, die sich den Ausschreitungen der SS entgegenstellen wollten. Entsprechend erbittert leisten die Deutschen Widerstand – und die Hoffnung der Flüchtlinge auf Rettung hin zu den nun britisch besetzten deutschen Küstenteilen ist ein Akt purer Verzweiflung. *1

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Oberleutnant Gerhard Thyben, Staffelkapitän der 7./JG 54.

Wenn diese Konvois entdeckt werden, haben nur die Glücklicheren der Schiffe und ihrer Passagiere eine Chance, die unausweichlich folgenden Angriffe sowjetischer U-Boote und Sturzkampf- bzw. Torpedobomber zu überstehen. Der sonnige Frühlingshimmel am Morgen dieses Maitages ist den Deutschen daher alles andere als willkommen. Gelegen kommt die Sicht allerdings der Besatzung des einzelnen sowjetischen Marineaufklärungsflugzeuges, welches gerade die Küste Kurlands in der Gegend Libaus überfliegt auf der Suche nach dem Geleitzug – von dessen Existenz man weiß. In der Annahme, dass die wenigen übrig gebliebenen deutschen Jagdflugzeuge in der Region sicherlich woanders an der Frontlinie helfen, die pausenlosen Angriffe durch die weit überlegenen russischen Land- und Luftstreitkräfte auf die deutschen Linien einzudämmen, suchen die russischen Flieger aufmerksam die Wasseroberfläche ab, ohne allzu besorgt auf den Himmel zu achten.

Als die ersten Leuchtspurgarben die Flugbahn der dunkelgrünen Petlyakov Pe-2R kreuzen, trifft es die Besatzung wie ein Schock. Der Pilot gibt Vollgas – kein taugliches Manöver, um mit einer zweimotorigen „Peschka“ einem deutschen Focke-Wulf 190-Jäger zu entkommen. Ein zweiter deutscher Feuerstoß trifft den rechten Motor der Pe-2. Der sowjetische Beobachter und sein Heckschütze geben ihr Bestes und verteidigen sich mit einem Feuerhagel aus den Bord-MGs. Der Pilot versucht nun – in dem verzweifelten Versuch, die Küste zu erreichen – im Sturzflug zu entkommen und fängt die Maschine erst knapp über der Wasseroberfläche ab. Aber die Focke-Wulf haben keine Mühe mit dem angeschossenen Aufklärer. 07.54 Uhr: ein letzter Anflug des führenden der beiden deutschen Jagdflugzeuge, und die Pe-2 verschwindet in der Ostsee ebenso wie jene in der Vergangenheit mit Mann und Maus von russischen Luft-und Seestreitkräften versenkten deutschen Schiffe.

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Wenige Stunden zuvor hatte Oberleutnant Gerhard Thyben den Befehl erhalten auszufliegen. Der letzte Rest der deutschen Luftwaffeneinheiten wird nun nach Schleswig-Holstein dirigiert, um sich dort den Engländern zu ergeben, anstatt harte russische Kriegsgefangenschaft erdulden zu müssen. Es ist vorbei, zu Ende – und verloren. Ein bitteres Gefühl. 156 Abschüsse hatte er erzielt – alle umsonst. Gerd Thyben startet und lässt die in der Falle sitzenden deutschen Landser hinter sich, Soldaten, welche verbissen bis zur letzten Granate und Patrone kämpften und nun dennoch nicht die geringste Chance mehr haben. Doch seinen Bodenkumpel überlässt er nicht den Russen! Zusammen mit seinem Rottenflieger, Feldwebel Fritz Hangebrauk, nahmen die beiden deutschen Jäger im Morgengrauen Kurs nach Westen und überfliegen die Küste in der Nähe der brennenden Ruinen der Stadt Libau. Eingezwängt in einem winzigen Fach im hinteren Teil des Rumpfes von Gerd Thybens Jagdflugzeug, in welchem üblicherweise das Funkgerät untergebracht ist, hockt Chefmechaniker Albert Mayers, als Oberleutnant Thyben einen dunkelgrünen Punkt entdeckt –

– voraus und tiefer fliegend ...

Die beiden deutschen Piloten wissen, wofür sie ein letztes Mal ihr Leben aufs Spiel gesetzt hatten. Sie steigen seelenruhig wieder auf Reiseflughöhe, in der Gewissheit, ihren Teil zur Rettung der weitgehend hilflosen Flüchtlinge auf den Schiffen getan zu haben. Einige Zeit später setzen sie zur Landung an und ergeben sich den britischen Truppen.

Immerhin eineinhalb Millionen Zivilisten und etwa 500.000 größtenteils verwundeten Soldaten ermöglicht die deutsche Kriegsmarine in den letzten Kriegsmonaten seit Januar 1945 das Entkommen vor Stalins entfesselter Armee über die Ostsee. Generaladmiral Oskar Kummetz leistet fast Übermenschliches – in Anbetracht der Verhältnisse und ohne Wissen Hitlers.

Vor dem Hintergrund dieser Zahlen muten die Katastrophen, die sich auf den Wellen ereignen, als fast noch „geringfügig“ an. Es sind gleichwohl entsetzliche Tragödien.

Der bekannteste Name ist das ehemalige Passagierschiff „Wilhelm Gustloff“, welches am 30. Januar 1945 in See sticht – mit etwa 10.300 Menschen an Bord. Es sind ungefähr 8.800 Zivilisten, darunter viele Kinder. Viele der geschätzten 1.500 Soldaten und Marinehelferinnen sind verwundet.

8. Mai 1945

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Hinweis: die Zuordnung der sowjetischen Petlyakov Pe-2R zum 15. RAP ist das Ergebnis einer langwierigen Recherche des Autors, die letztlich durch die Nennung des Namens des Regimentskommandeurs von Kapitan Kurzenkov – eines Staffelkameraden und Freundes Grigorii Davidenkos – in dem Buch Image „Jagdflieger“/Deutscher Militärverlag Berlin 1964/Sergej Georgijewitsch Kursenkow (Kurzenkov) und Arseni Wassiljewitsch Woroshejkin, zu einem erfolgreichen Herausfinden der fraglichen Einheit führte. Es ist nachvollziehbar, dass Mayor Usachev das 15. RAP befehligte, dem also Kurzenkov und infolgedessen auch seine Staffelkameraden in der abgeschossenen Pe-2R angehört haben müssen.

Flugzeugtyp:

Petlyakov Pe-2R

Nationalität:

VVS (Sowjetische Luftwaffe)

Einheit:

15. RAP (Marine-Aufklärungsregiment)

Pilot:

Starshii Leitenant Grigorii Davidenko

Stationierung:

Kurland

Flugzeugtyp:

Focke-Wulf Fw 190 A-8

Nationalität:

Luftwaffe

Einheit:

7. Staffel (II. Gruppe)/JG 54

Pilot:

Oberleutnant Gerhard Thyben

Stationierung:

Libau-Nord/Kurland

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Hinweis: die Karte zeigt im Gegensatz zu den Frontverlaufskarten den Nachkriegsgrenzverlauf, da hier die Lokalisation des Ortes aus heutiger Sicht im Vordergrund steht.

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Vermerk Gerd Thybens auf der Rückseite seines Fotos.

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Focke-Wulf Fw 190 A-8, 7./JG 54, Oberleutnant Gerhard Thyben, Kurland 1945.

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Petlyakov Pe-2.

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Der letzte Landeanflug von Gerd Thybens Image (Fotomontage).

Unglücklicherweise setzt Kapitän Petersen auch noch Positionslichter, um eine Kollision mit per Funk gemeldeten entgegenkommenden Minenlegern zu vermeiden. Für Kapitan Marinesko an Bord des vor der Bucht von Danzig auf der Lauer liegenden sowjetischen U-Bootes S-13 ist das Ziel kaum zu verfehlen. Es ist 21.08 Uhr, als drei Torpedos das deutsche Hilfstransportschiff treffen. Eine Stunde dauert das grausame Drama bei einer Außentemperatur von -20 °C. Nur 1.252 Menschen können von herbeieilenden Torpedobooten, Minensuchbooten und Vorpostenschiffen aus dem eiskalten Wasser gerettet werden. Rettungsboote gibt es nicht annähernd in ausreichender Zahl.

Das U-Boot S-13 versenkt am 9. Februar 1945 auch noch die „Steuben“, deren 4.000 „Passagiere“ fast keine Überlebenschance haben – ebenso wenig wie die 7.000 Opfer an Bord der „Goya“, die am 16. April 1945 dem sowjetischen U-Boot L-3 vor die Rohre gerät.

Britische Jagdbomber versenken am 3. und 4. Mai 1945 die voll gestopften Schiffe „Cap Arcona“ und „Orion“, auf denen man Nazi-Größen auf der Flucht vermutet. Die Toten sind KZ-Häftlinge ...

Als am Morgen des 8. Mai 1945 der Funkkontakt zu jener dunkelgrünen Petlyakov Pe-2R abbricht, ist die sowjetische Marine-Aufklärungseinheit alarmiert. Offensichtlich läuft irgendetwas schief! Der Pilot des vermissten Flugzeuges ist kein Geringerer als Starshii Leitenant Grigorii Davidenko, sein Beobachter ist Kapitan Alexei Grashchev – beide sind hochdekorierte „Helden der Sowjetunion“. Der dritte Mann in der Pe-2 ist Bordschütze Starshina Mikhail Murashko. Grigoriis bester Freund und Kamerad Alexandr Kurzenkov ist tief betroffen. Nicht das, nicht sein lieber Kamerad, nicht jetzt noch – so kurz vor dem Sieg! Sie warten alle mehrere Stunden. Doch die grüne Maschine kehrt nicht zurück.

Es ist etwa 18.00 Uhr, als der Kommandeur des 15. RAP, Mayor Usachev, Kapitan Kurzenkov zu sich rufen lässt. Er befiehlt ihm, mit einer einmotorigen Yak-9 zu starten und den nach wie vor unentdeckten deutschen Konvoi zu suchen. „Sascha“ Kurzenkov bittet inständig, von dieser Mission entbunden zu werden, da ihm der vermutete Tod seines Freundes sehr nahe gehe – vergebens. „Sie werden gehorchen!“Jawohl, Genosse Kommandeur!“ Als er zu seinem Jagdaufklärungsflugzeug geht, bittet ihn ein junger Pilot, seine Yak-9 auf diesem Flug begleiten zu dürfen. „Der Krieg ist fast vorbei und ich war nicht ein einziges Mal im Einsatz!“ Gut, warum nicht? Sie starten beide gegen 19.00 Uhr. Zehn Meilen vor der Küste entdeckt Kurzenkov den Konvoi. Er weist seinen Rottenflieger an, den Himmel zu beobachten und ihm etwaig auftauchende Feindjäger sofort zu melden. Dann filmt er befehlsgemäß die Schiffe und konzentriert sich darauf, Kurs und Flughöhe seiner Yak-9 exakt einzuhalten.

Ein gewaltiger Schlag lässt die Yak erzittern. Deutsche Jäger! Verflucht – wo zum Teufel ist sein Rottenflieger? Hat der sich einfach aus dem Staub gemacht, ohne ihn zu warnen?! Offensichtlich! Der Motor der Yak ist getroffen – zum Glück verfolgen ihn die Deutschen nicht. Kurzenkov versucht, die Küste zu erreichen. Plötzlich erschrickt er zu Tode! Die Kabinenhaube streikt! Er ruft entsetzt seine Einheit per Funk. „Das Kabinendach klemmt, es geht nicht auf, es geht nicht ...!“ Wie sollte er hier herauskommen, falls der Motor versagte? Er hört auf das Kolbengeräusch. Noch läuft der Motor ...!

Plötzlich setzt er aus.

Als der Sonnenuntergang an diesem Tag im Mai die Ostsee blutrot färbt, ist der Krieg in Europa zu Ende.

Die Inschrift auf dem zerstörten Reichstagsgebäude in Berlin lautet:

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Abgeschossene Focke-Wulf 190 – auf dem Rücken liegend vor dem Reichstag.

*1siehe auch Image „Holt Hartmann vom Himmel“/Motorbuch Verlag, 1970/Raymond F. Toliver und Trevor J. Constable, Seite 212 ff und Seite 219 ff.

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